»Wir können doch nicht die ganze Welt aufnehmen!« Wo es um Flucht und Asyl geht, fallen schnell solche Sätze – Sätze, die nicht selten auf Unwissen und oft auf rassistischen Vorurteilen gründen. Aber was entgegnen, wenn der Nachbar oder die Kollegin so daherredet?
Die dritte, überarbeitete Auflage der Broschüre „Pro Menschenrechte – Contra Vorurteile“ von PRO ASYL, Amadeu Antonio Stiftung, IG Metall, ver.di und der Respekt!-Initiative der IG Metall liefert wichtige Fakten und Argumente zur Debatte über Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland und Europa. (Stand: Mai 2017)
Eine Übersicht über 14 gängige Vorurteile – und Vorschläge für eine angemessene Entgegnung:
VORWORT
Die öffentlichen Diskussionen über Asylpolitik in Deutschland und Europa sind wieder häufiger und heftiger geworden. Begrenzungen bei der Flüchtlingsaufnahme werden gefordert, begleitet nicht selten von rassistischen Untertönen, Verweisen auf die „fremde“ Kultur oder die muslimische Religionszugehörigkeit von Flüchtlingen. Rechte Aufmärsche sowie Attacken auf Menschen und Flüchtlingsunterkünfte haben deutlich zugenommen. In einem Teil der Gesellschaft gibt es Unsicherheiten, Informationsmangel, mitunter Vorurteile und Ressentiments.
Die rechtliche Verankerung des Asylrechts beruht auf den Erfahrungen zweier Weltkriege: Als Anspruch und Verpflichtung zugleich ist sie die gemeinsame Antwort auf die Grausamkeiten von Krieg, Völkermord und Verfolgung.
Der Schutz von Flüchtlingen ist schon lange rechtlich geregelt: im deutschen Grundgesetz, in der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie in der Genfer Flüchtlingskonvention, die weltweit in 147 Ländern gültig ist.
Die rechtliche Verankerung des Asylrechts beruht auf den Erfahrungen zweier Weltkriege: Als Anspruch und Verpflichtung zugleich ist sie die gemeinsame Antwort auf die Grausamkeiten von Krieg, Völkermord und Verfolgung. Schutzsuchende haben demnach ein Recht auf eine faire, individuelle Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit – und dieser Anspruch lässt sich nicht kontingentieren.
Die Solidarität mit Flüchtlingen in Deutschland ist heute so groß wie nie zuvor. Viele Menschen stellen sich rassistischer Stimmungsmache entgegen. Um sie zu unterstützen, haben wir im Folgenden Argumente und Fakten für eine sachliche Diskussion zusammengetragen – im Mai 2017 bereits in dritter, überarbeiteter Auflage. Im Anschluss gibt es einige Tipps, wie man sich weiter für das Recht auf Asyl engagieren kann.
#1 Europa kann doch nicht die ganze Welt aufnehmen!?
NUR EIN BRUCHTEIL DER FLÜCHTLINGE KOMMT IN DIE EU.
Weltweit sind laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) über 65 Millionen Menschen auf der Flucht – mehr als am Ende des Zweiten Weltkrieges. Davon haben fast zwei Drittel nicht einmal die eigenen Staatsgrenzen überwunden; 86 % der Flüchtlinge weltweit leben in Entwicklungsländern.
Die allerwenigsten erreichen Europa – weil sie in der Region bleiben wollen und auf baldige Rückkehrchancen hoffen, oder weil sie schlicht keine Möglichkeit haben hierherzukommen. Eine Flucht nach Europa ist teuer und gefährlich. Immer mehr Staaten hindern Menschen systematisch daran zu fliehen, legale Fluchtwege gibt es so gut wie nicht.
Im Laufe des Jahres 2015 wurden auf der Welt 12,4 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Im gleichen Jahr kamen etwas über eine Million Asylsuchende, ein Viertel davon Kinder, über das Mittelmeer in die EU. Dies entspricht etwa 8 % der weltweit Geflüchteten.
Im ersten Halbjahr 2016 mussten laut UNHCR Mid-Year Trends über drei Millionen Menschen ihre Heimat verlassen, im gesamten Jahr 2016 überquerten einem UNHCR-Bericht vom 23.12.2016 zufolge rund 360.000 Flüchtlinge das Mittelmeer. Wir stehen also keineswegs vor dem Problem, dass alle Flüchtlinge der Welt hier Schutz suchen.
Vor einer deutlich größeren Herausforderung als die EU stehen die Nachbarstaaten von Kriegs- und Krisengebieten, die in kurzer Zeit sehr viele Menschen aufnehmen, obwohl sie oft selbst wirtschaftlich oder politisch instabil sind.
Beispiel syrischer Bürgerkrieg: Über fünf Millionen Menschen sind seit 2011 in die Nachbarländer geflohen, wie auf dem UNHCR-Portal »Syria Regional Refugee Response« zu erfahren ist (Stand: 10.05.2017). Allein in der Türkei leben rund drei Millionen von ihnen. Im kleinen Libanon stellen syrische Flüchtlinge bereits seit 2014 mit über einer Million Menschen etwa ein Fünftel der Bevölkerung. In Syrien selbst gibt es, Stand Ende 2016, schätzungsweise sechs Millionen Binnenvertriebene. Demgegenüber wurden bis März 2017 in der EU, in Norwegen und der Schweiz insgesamt gerade mal knapp 920.000 Asylanträge von Flüchtlingen aus Syrien verzeichnet – bei einer EU-Gesamtbevölkerung von über 500 Millionen Menschen.
#2 Die kommen alle nach Deutschland!?
WIE VIELE MENSCHEN ZU UNS FLIEHEN, HÄNGT VON VERSCHIEDENEN FAKTOREN AB.
Hierzulande glauben viele, alle Flüchtlinge wären auf dem Weg nach Deutschland. Richtig ist: Seit 2015 gehört Deutschland zu den Top Ten der Staaten, in denen sich Flüchtlinge aufhalten. Ähnlich viele oder mehr Flüchtlinge leben in der Türkei, in Pakistan, Libanon, Iran und Äthiopien, wie aus den Global Trends 2015 und den Mid-Year Trends 2016 des UNHCR hervorgeht.
Die oft genannte Zahl von über 1 Million Asylsuchenden, die 2015 nach Deutschland eingereist seien, wurde zwischenzeitlich auf rund 890.000 Personen korrigiert, da es viele Mehrfachregistrierungen und Weiterreisen gab, wie das Bundesministerium des Innern mitteilte. Im Jahr 2016 wurden laut Bundesinnenministerium in Deutschland rund 280.000 ankommende Asylsuchende gezählt.
EU-weit verzeichnet die Bundesrepublik seit 2012 die meisten Asylzugänge. Davor stand allerdings lange Zeit Frankreich an erster Stelle, daneben nahmen auch Großbritannien, manchmal sogar Schweden mehr Asylanträge entgegen als Deutschland, wie aus den Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für 2007, 2009 und 2015 hervorgeht. Setzt man die Zahl der Asylanträge ins Verhältnis zur Einwohnerzahl, relativiert sich der Eindruck weiter: Ehe die Bundesrepublik hier 2015 an die Spitze rückte, lag sie jahrelang im europäischen Mittelfeld.
Keine Frage: Für Flüchtlinge gibt es gute Gründe, hierherzukommen. Deutschland hat eine gefestigte Demokratie und eine starke Wirtschaft, politische und religiöse Freiheiten. 2016 nannten im Rahmen einer Studie u.a. des Institus für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 73 % von 4.500 befragten Flüchtlingen als wichtigsten Grund für ihre Zielwahl die »Achtung der Menschenrechte«.
Asyl- und sozialrechtliche Regelungen sind dagegen nach Forschungserkenntnissen nicht generell entscheidend. Eine wichtige Rolle spielt, wo Verwandte oder Communities sind, etwa im Falle Syriens: Bereits vor Ausbruch des Krieges lebten hier dem Ausländerzentralregister zufolge über 30.000 syrische Staatsangehörige und zudem Deutsche syrischer Herkunft.
Für das wirtschaftlich starke Deutschland mit einer Bevölkerung von über 80 Millionen Menschen ist die gestiegene Zahl der Asylsuchenden kein Grund zur Panik. Grundsätzlich ist immer mit Schwankungen bei den Flüchtlingszahlen zu rechnen. Sie hängen davon ab, wo und wie sich Kriege, humanitäre Katastrophen und Menschenrechtsverletzungen entwickeln und welche Fluchtmöglichkeiten und ‑wege es gibt.
#3 Deutschland tut schon genug für Flüchtlinge!?
DIE BUNDESREGIERUNG UND DIE EU SCHIEBEN DIE VERANTWORTUNG WEITER.
Tatsächlich hat Deutschland vor allem seit 2015 viele Flüchtlinge aufgenommen und sie oft auch als Schutzbedürftige anerkannt. Bund, Länder und Kommunen haben für einen Teil von ihnen erhebliche Integrationsanstrengungen unternommen, im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Zehntausende Freiwillige leisten mit großem Einsatz praktische Unterstützung.
Gleichzeitig hat die Regierung aber an vielen Stellen das Aufenthaltsrecht verschärft, die Hürden für eine Flüchtlingsanerkennung erhöht sowie die Abschiebungspraxis verschärft. So wurde etwa Ende 2016 nach 12-jährigem Moratorium mit Sammelabschiebungen von afghanischen Flüchtlingen ins Bürgerkriegsland begonnen.
Seit Mai 2015 arbeiten Deutschland und die anderen EU-Staaten gemäß einem Konzept der EU-Kommission daran, Flüchtlinge, die in Europa Schutz suchen, in gefängnisartigen Lagern (sogenannten Hotspots) in Griechenland und Italien festzusetzen und ihre Weiterreise in zentraleuropäische Staaten zu verhindern.
In den überfüllten Hotspots herrschen teils katastrophale Bedingungen, die u.a . von Human Rights Watch im Juni 2016 und im Januar 2017 dokumentiert wurden – gleichzeitig treibt Deutschland eine Neuauflage des europäischen Verteilungs- und Zuständigkeitssystems Dublin mit voran, die die EU-Staaten an den Außengrenzen künftig noch stärker in die Pflicht nimmt.
Seit dem EU-Türkei-Deal im März 2016, der maßgeblich auf deutsche Initiative hin abgeschlossen wurde, macht die Türkei ihre Grenzen weitgehend dicht. Wer es dennoch nach Griechenland schafft, läuft Gefahr, ohne Prüfung der Asylgründe in die Türkei abgeschoben zu werden.
Deutschland und die EU planen Abkommen mit weiteren Drittstaaten, die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa aufhalten und »zurücknehmen« sollen. Dabei schrecken sie auch vor schmutzigen Deals nicht zurück, so etwa bei der geplanten Unterstützung der Polizei im heftig umkämpften Libyen, wo Misshandlungen und sogar Folter von Flüchtlingen dokumentiert sind.
#4 Die meisten sind gar keine echten Flüchtlinge!?
DIE GRÜNDE, DIE MENSCHEN IN DIE FLUCHT TREIBEN, WIEGEN SCHWER.
Niemand setzt sich leichtfertig nachts in ein marodes Boot, wissend, dass auf offener See der Tod droht. Niemand setzt alles aufs Spiel, lässt alles los – die Heimat, Besitz, Freund*innen, Verwandte, vielleicht sogar Kinder –, nur in der Hoffnung auf den Bezug von Sozialleistungen. Wer Asyl sucht, kämpft oft ums Überleben, weil im Herkunftsland Krieg herrscht, Verfolgung droht, Diskriminierung an der Tagesordnung oder die eigene Existenz in Gefahr ist.
Die größte Gruppe unter den Asylsuchenden in Deutschland sind derzeit Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg – von Anfang 2015 bis Ende 2016 stellten sie mit 425.000 Anträgen über ein Drittel der Asylerstanträge, die während dieser zwei Jahre in Deutschland insgesamt verzeichnet wurden, wie aus den Mitteilungen des Bundesinnenministeriums für 2015 und 2016 hervorgeht.
Im gleichen Zeitraum suchten denselben Quellen zufolge fast 160.000 Asylsuchende aus dem von Krieg und Vertreibung gezeichneten Afghanistan Schutz, knapp 126.000 Menschen aus dem terrorgeplagten Irak, etwa 32.000 Personen aus dem für schwere Menschenrechtsverletzungen kritisierten Iran und rund 30.000 Personen aus Eritrea, wo eine brutale Militärdiktatur herrscht. Insgesamt wurden in den Jahren 2015 und 2016 knapp zwei Drittel aller Asylerstanträge von Menschen aus diesen fünf Herkunftsländern gestellt.
Die Mehrzahl der Asylsuchenden erhält nach inhaltlicher Prüfung durch das Asylbundesamt (BAMF) einen Schutzstatus: 2015 waren es 61 %, im Jahr 2016 sogar 71 %, wenn man die Schutzquote gemäß den Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für 2015 und 2016 um die rein formellen Entscheidungen bereinigt. Ein Teil der Abgelehnten ist danach noch mit einer Klage vor Gericht erfolgreich.
Bei den Herkunftsstaaten Syrien, Irak und Eritrea lag die Schutzquote nach inhaltlicher Prüfung der Asylanträge im Jahr 2015 bei nahezu 100 %. Zwar wird inzwischen Flüchtlingen aus den Hauptherkunftsstaaten vermehrt nur noch ein niedrigerer Schutzstatus als die Flüchtlingsanerkennung gewährt – oft der sogenannte »subsidiäre Schutz«. Das ändert aber nichts daran, dass sehr viele Flüchtlinge erst einmal bleiben dürfen, denn die Situation in den betreffenden Ländern hat sich nicht gebessert.
#5 Der Staat schiebt nicht konsequent ab!?
WENN ABSCHIEBUNGEN UNTERBLEIBEN, HAT DIES OFT GUTE GRÜNDE.
»Wer kein Asyl erhält, soll sofort abgeschoben werden.« Das mag logisch klingen, ignoriert aber, dass es oft triftige Gründe gibt, warum eine Abschiebung nicht vollzogen wird: In vielen Fällen ist die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich – etwa weil schwerwiegende Abschiebehindernisse vorliegen (z.B. Krankheiten) oder weil sich Herkunftsstaaten weigern, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen.
Abschiebungen in bestimmte Staaten werden politisch über viele Jahre hinweg nicht für vertretbar gehalten, wie beispielsweise nach Afghanistan oder in den Irak. Immer wieder stoppen Verwaltungsgerichte innereuropäische Abschiebungen, zum Beispiel nach Ungarn oder Bulgarien, wegen der dort für Flüchtlinge katastrophalen Bedingungen. Im Einzelfall erteilen Ausländerbehörden wegen dringender persönlicher oder humanitärer Gründe eine Duldung.
Im Laufe der Zeit wird Deutschland für viele »Geduldete« zum Lebensmittelpunkt: Sie leben, lernen und arbeiten hier, bekommen Kinder, die hier aufwachsen.
Im Asylverfahren abgelehnte Menschen befinden sich oft in einer beängstigenden und zermürbenden Lage. Viele reisen »freiwillig« aus, andere werden nach langen Jahren doch noch abgeschoben. Im Laufe der Zeit aber wird Deutschland für viele zum Lebensmittelpunkt: Sie leben, lernen und arbeiten hier, bekommen Kinder, die hier aufwachsen. Eine Abschiebung wird so immer weniger vertretbar. Deshalb wurden auch immer wieder so genannte Bleiberechtsregelungen beschlossen, nach denen langjährig Geduldete unter bestimmten Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis erhielten.
Ende 2016 besaßen nach Angaben der Bundesregierung von rund 556.000 in Deutschland lebenden Menschen, deren Asylantrag irgendwann einmal abgelehnt worden war, über 80 % inzwischen ein Aufenthaltsrecht aus anderen Gründen, z. B. aufgrund einer Bleiberechtsregelung oder aus familiären Gründen. Zum gleichen Zeitpunkt lebten hier etwa 54.000 »unmittelbar ausreisepflichtige« Personen (davon 12.300 Minderjährige) und 150.000 Personen mit einer Duldung, also einer »vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung«. Fast ein Drittel der geduldeten Menschen waren Minderjährige (darunter 30.881 Kinder unter 12 Jahren), über ein Viertel lebte bereits seit mehr als 4 Jahren in Deutschland.
#6 Unser Asylrecht kann die Probleme der Welt nicht lösen!?
WIR SIND MITVERANTWORTLICH FÜR BEDINGUNGEN, DIE MENSCHEN IN DIE FLUCHT TREIBEN.
Selbstverständlich ist die Politik der westlichen Industriestaaten nicht an allem schuld. Aber es ist nicht zu leugnen, dass in dieser Welt, in der global gehandelt und Politik gemacht wird, die westlichen Gesellschaften mitverantwortlich sind für fluchtauslösende Entwicklungen.
Wir brauchen eine konsequentere Menschenrechts‑, Umwelt‑, Handels- und Agrarpolitik.
Europäische Regierungen haben sich an Kriegen beteiligt sowie durch Rüstungsexporte in Kriegs- und Krisengebiete Konflikte angeheizt, die katastrophale Folgen hatten. Europäische Firmen liefern Waffen an in den Syrienkrieg verstrickte Regionalmächte – zum Beispiel an das Gewaltregime Saudi-Arabiens. Unser NATO-Partner Türkei führt im Südosten Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung und will seine Einflusszone in Syrien ausdehnen.
Der militärische Sturz des Diktators Saddam Hussein im Irak führte zur Fragmentierung des Landes und hat langfristig zum Entstehen des sogenannten »Islamischen Staates« beigetragen. Die Militärintervention in Libyen beseitigte die Diktatur, hat aber zu einem zersplitterten, von Warlords beherrschten Land geführt. 15 Jahre nach der Militärintervention in Afghanistan hat die Gesamtzahl der getöteten oder verletzten Zivilist*innen laut der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan mit über 11.000 einen neuen Höchststand erreicht. Die Taliban sind so stark wie nie zuvor.
In der Wirtschaft machen Industriestaaten Geschäfte zum eigenen Vorteil bzw. im Interesse der Großkonzerne. Auf Druck europäischer Regierungen hin wurden und werden die Märkte vieler afrikanischer Staaten liberalisiert.
So kann zum Beispiel Tomatenmark aus der EU bei niedrigen Einfuhrzöllen nach Ghana exportiert und dort wiederum sehr billig verkauft werden, weil die Agrarproduktion in der EU subventioniert wird. Die Folge: Tomatenbauern vor Ort, die preislich nicht mithalten können, verlieren ihre Existenzgrundlage. Einige sehen sich schließlich gezwungen, etwa nach Italien zu gehen – und pflücken dort oft unter katastrophalen Arbeitsbedingungen jene Tomaten, die in Ghana zum Preisverfall beitragen (siehe etwa eine DW-Meldung von März 2016 sowie entsprechende Artikel auf ZEIT ONLINE von Oktober und Dezember 2015).
Den CO2-Ausstoß verursachen ganz überwiegend Industrie- und Schwellenstaaten. Die dramatischen Folgen des Klimawandels wie etwa häufigere, stärkere Dürren und Überschwemmungen treffen dagegen vor allem die Bevölkerung in ärmeren Regionen und treiben viele Menschen in die Flucht, wie etwa aus einem Bericht des Weltklimarats und Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration hervorgeht.
Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen ist richtig. Doch wer glaubt, wir Europäer*innen hätten damit nichts zu tun, irrt. Wir brauchen eine konsequentere Menschenrechts‑, Umwelt‑, Handels- und Agrarpolitik.
#7 Ganz Afrika steht vor den Toren Europas!?
DER KONTINENT IST GROSS UND VIELSEITIG – UND NUR WENIGE MACHEN SICH VON DORT AUF DEN WEG NACH EUROPA.
Zunächst: Afrika ist kein Land. Afrika ist ein Kontinent. Mit 30,3 Millionen Quadratkilometern. Mit über einer Milliarde Einwohner*innen. Mit über 50 Staaten. Darunter sind terrorgeplagte Länder wie Somalia, Diktaturen wie Eritrea, aber auch stabile Demokratien wie Botswana.
Dort, wo es Armut und Hunger gibt, ist dies vor allem eine Folge von politischen Konflikten, Geldflüssen und globalen Ausbeutungsmechanismen und auch ein Resultat der Kolonialgeschichte. Viele Staaten sind reich, sie haben Bodenschätze wie Erdöl, Diamanten und Kupfer. Aber Profite landen oft nicht bei der Bevölkerung, sondern gehen an herrschende Eliten und ausländische Unternehmen.
So beispielsweise beim Landgrabbing (Landraub): Ausländische Konzerne und Regierungen haben in den letzten Jahren Millionen Hektar Land in afrikanischen Entwicklungsländern billig gepachtet oder gekauft und exportieren die Erträge in die Industriestaaten. Die ansässigen Kleinbauern wurden vertrieben, ohne Chance, selbst neues Land zu erwerben. Während riesige Mengen an Nahrungs- und Futtermitteln sowie Biosprit zum Profit der ausländischen Investoren produziert werden, wachsen unter der lokalen Bevölkerung Hunger, existenzielle Armut und Perspektivlosigkeit (siehe Infos zum Thema Landgrabbing bei Oxfam).
Ein weiteres Beispiel: Die Überproduktion von Milch in Europa führt nicht nur hier zu Tiefstpreisen. Die EU kauft hiesigen Konzernen Milchpulver ab und verkauft es dann billig etwa in Kamerun – wodurch der dortige Aufbau einer eigenen Milchwirtschaft massiv erschwert wird, wie etwa eine ZDF-Dokumentation von Januar 2017 eindrücklich zeigt.
Wie viele Schutzsuchende aus afrikanischen Staaten kommen hierher? Tatsächlich erreichen vergleichsweise wenige Flüchtlinge Deutschland: Etwa 110.000 Asylsuchende kamen insgesamt laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in den Jahren 2015 und 2016 aus afrikanischen Ländern in die Bundesrepublik – das entspricht knapp 10 % aller hier Schutzsuchenden. Rund ein Viertel von ihnen kam aus einem einzigen Staat: der brutalen Diktatur Eritreas.
Die weitaus meisten Schutzbedürftigen bleiben in der Region: Laut UNHCR lebten Ende 2015 etwa 18 Millionen Flüchtlinge auf dem afrikanischen Kontinent, davon fast 11 Millionen als Vertriebene im eigenen Land.
#8 Flüchtlinge aufzunehmen können wir uns nicht leisten!?
MENSCHENRECHTE ZU BEACHTEN KOSTET ETWAS – UND BRINGT UNS ETWAS.
Flüchtlinge zu schützen ist nach zwei Weltkriegen nicht nur kulturelles Selbstverständnis in Europa, sondern auch eine humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung. Und diese Verpflichtung kann keiner Kosten-Nutzen-Rechnung unterliegen. Für die Bundesrepublik sind das Asylgrundrecht und das Völkerrecht verbindlich – um dies umzusetzen, muss Geld bereitstehen.
Im Jahr 2016 wurden 21,7 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Flüchtlingen ausgegeben (siehe SPIEGEL ONLINE-Meldung von Januar 2017), fast ein Drittel davon für »Fluchtursachenbekämpfung«, darunter auch zweifelhafte Maßnahmen mit dem Ziel, Schutzsuchende fernzuhalten. Insgesamt wies der Bundeshaushalt 2016 laut Bundesfinanzministerium immer noch einen Überschuss von 6,2 Milliarden Euro auf.
Durch Steuervermeidung gehen dem Staat übrigens schätzungsweise bis zu 100 Milliarden Euro jährlich verloren (siehe etwa eine FOCUS-Meldung von September 2015 oder eine Meldung des Stern von Februar 2014).
Je mehr investiert wird, je früher Flüchtlinge Zugang haben zu Deutschkursen, Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit, desto schneller gewinnt die Gesellschaft auch wirtschaftlich.
Es ist kurzsichtig, Flüchtlinge vor allem als finanzielle Belastung zu sehen. Wirtschaft und Politik sind sich einig, dass die deutsche Gesellschaft auch auf Einwanderung angewiesen ist – um die wirtschaftliche Entwicklung zu befördern, Renten und die Kinderversorgung abzusichern (zum Beispiel laut Artikel auf ZEIT ONLINE von Februar 2015).
Die Fördermittel für die Arbeitsmarktintegration von Hartz IV-Bezieher*innen sind aber seit 2010 massiv zusammengestrichen worden. Für die eingewanderten wie für die bereits hier lebenden Menschen muss mehr in Qualifikation und eine Verbesserung der Arbeitsmarktchancen investiert werden – hierauf weist etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund immer wieder hin; auf Initiative der IG Metall hat die Bundesagentur für Arbeit zwischenzeitlich zwei Modelle eines »Betrieblichen Integrationsjahrs« entwickelt, um – nicht nur – Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit zu bekommen.
Sicher: Gewaltopfer, kranke oder traumatisierte Flüchtlinge sind auf Unterstützung angewiesen, manche von ihnen auf lange Zeit. Ihnen zu helfen, ist ein Gebot der Humanität. Viele sind tatkräftig, motiviert und qualifiziert, wollen lernen, arbeiten und teilhaben, wie etwa aus einer Studie u.a. des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hervorgeht. Über 70 % der Asylsuchenden waren laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in den Jahren 2015 und 2016 jünger als 30 Jahre. Mit ihnen kommen auch viele Kinder und wachsen in diese Gesellschaft hinein: Über ein Viertel der Asylsuchenden im Jahr 2015 war unter 16 Jahre alt, 2016 waren 20 % der Schutzsuchenden jünger als 12 Jahre.
Abschreckungspolitik hemmt Potenziale: Arbeitsverbote, Unterbringung in abgelegenen Massenunterkünften, fehlender Deutschunterricht oder Essenspakete statt Bargeld erschweren jede Eigeninitiative. Je mehr investiert wird, je früher Flüchtlinge Zugang haben zu Deutschkursen, Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit, desto schneller gewinnt die Gesellschaft auch wirtschaftlich.
#9 Asylbewerber kriegen mehr als Deutsche!?
SCHULD AN DER KLUFT ZWISCHEN ARM UND REICH SIND NICHT DIE FLÜCHTLINGE.
Hartnäckig hält sich der Irrglaube, Asylsuchende bekämen mehr Geld als Menschen, die Hartz IV beziehen. Dabei hat eine Person im Asylverfahren nur Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Ihre Grundleistungen sind noch niedriger als die Hartz-IV-Leistungen. Darüber hinaus sieht das Gesetz umfangreiche Kürzungsmöglichkeiten vor, der Anspruch auf medizinische Versorgung ist eingeschränkt. Nach 15 Monaten erhalten Asylsuchende unter bestimmten Bedingungen Leistungen auf Hartz IV-Niveau. Anerkannte Flüchtlinge haben bei Bedürftigkeit die gleichen Sozialleistungsansprüche wie deutsche Staatsangehörige.
Wenn eine Stadt zum Beispiel in eine neue Flüchtlingsunterkunft oder Integrationsmaßnahmen investiert, entsteht schnell ein Gefühl von Ungerechtigkeit. Aber wenn die Flüchtlinge schlechter versorgt würden, bekäme ein arbeitsloser Hartz-IV-Empfänger deshalb nicht einen Cent mehr, geringe Löhne würden deshalb nicht steigen, für Menschen mit mittlerem Einkommen gäbe es nicht weniger Anlass zur Angst vor dem sozialen Absturz.
»Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«
Dahinter steht nämlich ein anderes, weit größeres Problem: die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Verdiente das oberste Zehntel der Bevölkerung Mitte der 1980er Jahre noch fünfmal so viel wie das untere Zehntel, betragen die oberen Einkommen laut einer OECD-Studie heute sogar siebenmal so viel (siehe etwa Handelsblatt-Meldung von Dezember 2014). Die reichsten 10 % der Haushalte besitzen weit über die Hälfte des gesamten Nettovermögens in Deutschland, die untere Hälfte verfügt nur über 1 %, wie aus dem Armutsbericht der Bundesregierung hervorgeht (siehe Artikel der Süddeutschen Zeitung von März 2017). Knapp ein Fünftel der Kinder in Deutschland ist von Armut betroffen, wie der Verteilungsmonitor der Hans Böckler Stiftung zeigt.
Im Grundgesetz heißt es in Artikel 14: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Geld ist genug da – würde es gerechter verteilt, könnten alle angstfrei und menschenwürdig leben. Über wachsende Ungleichheit kann und sollte man sich zu Recht beschweren – um lebenswerte Bedingungen für alle zu schaffen.
#10 Die Flüchtlinge nehmen uns die Wohnungen weg!?
MIT VERNÜNFTIGER PLANUNG KÖNNEN WIR WOHNUNGSKNAPPHEIT FÜR ALLE VERMEIDEN.
Früher waren »Gemeinschaftsunterkünfte« zur Abschreckung von Flüchtlingen die Regel. Dann erlaubten immer mehr Kommunen Flüchtlingen, in Wohnungen zu leben. 2015 jedoch ließen viele Verwaltungen ad hoc wieder Großunterkünfte errichten, obwohl diese letztlich teurer sind als normale Wohnungen, wie der Landesrechnungshof Hessen oder die Städte Heidelberg, Berlin oder Köln ausgerechnet haben. Und wegen hoher Investitionskosten müssen die Unterkünfte, die inzwischen vielerorts schon wieder leer stehen könnten, auch noch möglichst lange laufen – so werden Provisorien mit schlechter Bausubstanz zum Dauerärgernis.
Gut aufgestellte Kommunen entwickeln Konzepte, die für alle langfristig akzeptable Lösungen darstellen. Sie suchen kontinuierlich private Vermieter*innen und gewährleisten ein Umzugsmanagement. Sie verzichten auf Alarmismus, informieren die lokale Bevölkerung rechtzeitig über Planungen und beziehen Anwohner*innen frühzeitig ein – so kann der Prozess gut gelingen.
Viele Flüchtlinge zieht es – wie andere Menschen auch – in die Städte, wo es Jobs und Infrastruktur gibt und wo sie Perspektiven sehen. Dadurch wird der Wohnungsmangel zwar noch deutlicher, aber Flüchtlinge haben das Problem nicht verursacht: In den Ballungszentren war erschwinglicher Wohnraum schon lange knapp, bevor die Flüchtlingszahlen stiegen. Grund ist, dass jahrelang nicht annähernd bedarfsorientiert in den sozialen Wohnungsbau investiert wurde, sondern vielerorts ein regelrechter Ausverkauf öffentlicher Immobilien stattfand.
Es muss bezahlbarer Wohnraum für alle Menschen mit geringem Einkommen geschaffen werden – nicht nur für Flüchtlinge.
Die höheren Flüchtlingszahlen haben zur Entwicklung eines Problembewusstseins beigetragen: Zumindest punktuell wird inzwischen wieder umgesteuert und der soziale Wohnungsbau neu aufgelegt. Dabei muss bezahlbarer Wohnraum für alle Menschen mit geringem Einkommen geschaffen werden – nicht nur für Flüchtlinge.
In Ballungsräumen könnte beispielsweise mehr leerstehende Bürofläche in Wohnraum umgewandelt werden – allein in Frankfurt am Main blieben laut Bericht des Hessischen Rundfunks Ende 2016 über 1,7 Millionen Quadratmeter Büroraum ungenutzt, während etwa 23.000 Wohnungen fehlten.
#11 Asylbewerber sind kriminell und gefährlich!?
FLÜCHTLINGE SIND SO VERSCHIEDEN, WIE MENSCHEN EBEN SIND.
Einzelne, drastische Fälle von Straftaten durch Flüchtlinge wühlen auf, wecken Emotionen und prägen so die Sichtweise einiger Menschen auf Flüchtlinge. Tatsächlich gibt es aber keine Hinweise darauf, dass mit den neu hinzugekommenen Flüchtlingen der vergangenen Jahre die Anzahl der Straftaten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung massiv zugenommen hat (siehe etwa FOCUS-Meldung von Juli 2016).
Die Zahl der Strafanzeigen ist laut Polizeilicher Kriminalitätsstatistik im Jahr 2015 im Vergleich zum Vorjahr um 0,1 % gestiegen und im Jahr 2016 um 0,7 % gesunken, zählt man ausländerrechtliche Vergehen wie etwa die für Flüchtlinge kaum vermeidbare illegale Einreise oder Verstöße gegen Wohnsitzauflagen jeweils nicht mit.
Statistiken zufolge ist der Anteil von straffällig gewordenen Personen in der Gruppe der Menschen ohne deutschen Pass (von denen neu hinzugekommene Flüchtlinge nur eine Teilgruppe sind) tatsächlich proportional höher als bei den deutschen Staatsbürger*innen. Das steht aber weder mit der Herkunft noch der Religion der Zugewanderten in Zusammenhang.
Gesellschaftliche Integration und eine Lebensperspektive sind ein Schlüssel zur Vermeidung von Straffälligkeit – bei Menschen mit und ohne deutschen Pass.
Kriminologische Sachverständige erklären, dass Kriminalität nicht mit einer bestimmten Staatsangehörigkeit zusammenhängt, sondern in der Regel mit konkreten Lebenslagen (siehe etwa eine ZDF-Dokumentation von Dezember 2016 oder einen Artikel auf ZEIT ONLINE von Dezember 2016). So finden etwa Straftaten innerhalb von Großunterkünften für Asylsuchende statt, wo viele einander unbekannte Menschen auf engstem Raum mit stark eingeschränkter Privatsphäre und wenig Beschäftigungsmöglichkeiten zusammenleben müssen.
Flüchtlinge und Menschen mit Migrationsbiografie haben es schwerer, einen qualifizierten Abschluss, die gewünschte Ausbildungsstelle oder einen Job zu bekommen. Ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist also oft besonders eingeschränkt. Diese Menschen haben daher ein höheres Risiko, in eine Lebenssituation zu rutschen, die Straffälligkeit begünstigt.
Andersherum heißt das: Gesellschaftliche Integration und eine Lebensperspektive sind ein Schlüssel zur Vermeidung von Straffälligkeit – bei Menschen mit und ohne deutschen Pass.
Letztendlich sind »Ausländer« oder »Flüchtlinge« so unterschiedlich wie andere Menschen eben auch – weder sind alle nett und harmlos, noch sind alle gemein und gefährlich. Der weit überwiegende Teil der Zugezogenen verhält sich rechtskonform.
#12 Die Asylbewerber vergreifen sich an Frauen!?
SEXUALISIERTE GEWALT WAR SCHON IMMER EIN PROBLEM DER GESAMTEN GESELLSCHAFT.
Nach den Übergriffen auf zahlreiche Frauen in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 hat sich medial das Bild vom »nordafrikanischen Asylbewerber als Sextäter« verbreitet – seither sehen sich Männer aus nordafrikanischen Staaten (oder solche, die dafür gehalten werden) pauschalen Verdächtigungen ausgesetzt.
In einer solchen Atmosphäre verbreiten sich auch Gerüchte über sexualisierte Übergriffe von Asylsuchenden schnell, zum Teil werden Falschmeldungen gezielt von rechtsextremen Websites in die Welt gesetzt. Unter www.hoaxmap.org werden mehr als 450 Gerüchte, davon allein 72 (Stand: 10. Mai 2017) über angebliche Vergewaltigungen, als falsch entlarvt und seriös widerlegt.
Zu den Fakten: Einer Studie des Bundesfamilienministeriums von 2013 zufolge hat fast jede siebte Frau in Deutschland eine Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung erlitten. Sexualstraftäter, meist Männer, kommen zu über 75 % aus dem sozialen Umfeld der Opfer: Es sind Familienangehörige, Nachbarn, Partner, Kollegen, Freunde. Unter anderem deshalb werden auch nur 8 % der Straftaten überhaupt zur Anzeige gebracht. Kriminalitätsstatistiken können nur einen kleinen Ausschnitt erfassen: Sie hängen laut Bundesinnenministerium stark ab von Ermittlungsschwerpunkten der Polizei und vom Anzeigeverhalten.
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung muss verteidigt werden – gegenüber den alteingesessenen Nachbarn genauso wie gegenüber Zugezogenen.
In Deutschland gibt es hinsichtlich der Selbstbestimmung von Frauen eine bessere Rechtslage und gesellschaftliche Praxis als in manch einem anderem Staat. Das wurde hart erkämpft: Noch bis 1997 galt Vergewaltigung in der Ehe nicht als Straftat. Die alltägliche sexualisierte Gewalt zeigt, dass es keinen Grund gibt, überheblich zu sein.
Sexualisierte Gewalt kann nicht einfach Asylsuchenden zugeschoben werden. Es handelt sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sich folglich auch nicht durch vermehrte Abschiebungen lösen lässt. Stattdessen muss das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verteidigt werden, nicht nur mit Mitteln des Strafrechts – gegenüber den alteingesessenen Nachbarn genauso wie gegenüber Zugezogenen. Nur so kann die Zahl der Opfer sexualisierter Gewalt wirklich reduziert werden.
#13 Mit den Asylbewerbern kommt der Terror nach Deutschland!?
FLÜCHTLINGE SUCHEN VOR ALLEM FRIEDEN UND SICHERHEIT.
Die Bedrohung etwa durch die Terrororganisation »Islamischer Staat« in Syrien, Taliban-Anschläge in Afghanistan, Terrorakte der al-Shabaab-Miliz in Somalia oder die Anschläge der Terrormiliz Boko Haram in Nigeria treibt viele Menschen in die Flucht. Manche der hier Schutzsuchenden haben Angehörige und Freund*innen durch terroristische Anschläge verloren oder solche Attentate selbst überlebt.
Die Anschläge, die von Anhängern des „Islamischen Staats“ in den letzten Jahren in Europa und im Jahr 2016 durch den syrischen Flüchtling Mohammed Daleel in Ansbach oder durch den tunesischen Staatsangehörigen Anis Amri in Berlin verübt wurden, machen Angst – auch vielen Flüchtlingen. Es ergibt keinen Sinn, alle Menschen muslimischen Glaubens oder einer bestimmten Nationalität pauschal für diese Terrorakte in Haftung zu nehmen.
Gesellschaftliche Spaltung spielt dem Terror letztlich in die Hände.
Der syrische Terrorverdächtige Jaber al-Bakr wurde im Oktober 2016 nur deshalb gefasst, weil syrische Asylsuchende ihn überwältigt und die Polizei informiert hatten, wie etwa Spiegel Online berichtete. Als in einem Münchener Einkaufszentrum im Juli 2016 Menschen erschossen wurden, dachten viele unwillkürlich an einen islamistisch begründeten Terroranschlag, eine ganze Stadt geriet in Panik. Der deutsch-iranische Täter entpuppte sich später als psychisch labiler Rassist, Jugendliche mit türkischen und kosovarischen Wurzeln mussten sterben (siehe Artikel der FAZ von Juli 2016). Und nicht zu vergessen: Auch die Mitglieder der 10 Jahre lang unbehelligt mordenden terroristischen Organisation »Nationalsozialistischer Untergrund« waren Deutsche, ihre Opfer vor allem Migrant*innen.
Eine terroristische Bedrohung in Deutschland geht nicht von Bevölkerungsgruppen aus, sondern von gewaltbereiten Einzelnen oder Tätergruppen in verschiedenem religiösen oder politisch-völkischen Gewand. Der menschenverachtende Hass und die Gewalt selbst sind eine Gefahr für Menschenleben und für die Gesellschaft – nicht nur in Deutschland. Gegen sie müssen wir uns gemeinsam mit aller Kraft wehren. Gesellschaftliche Spaltung spielt dem Terror letztlich in die Hände.
#14 Die deutsche Kultur geht zu Grunde, wir werden überfremdet!?
KULTUR UND BEVÖLKERUNG IN DEUTSCHLAND SPIEGELN EINE JAHRTAUSENDE LANGE MIGRATIONSGESCHICHTE WIDER.
Das »reine deutsche Volk« oder die »deutsche Kultur« war und ist nichts als eine Erfindung. Beginnend mit der Menschheitsgeschichte müsste man sagen: Eigentlich sind wir alle Afrikaner*innen, denn menschliche Knochenfunde aus Äthiopien und Kenia weisen darauf hin, dass die Menschen einst von dort ausgehend die anderen Erdteile besiedelten. Seither ist alle Geschichte immer auch eine Geschichte der Migration, besonders in Europa. Die so genannte »Völkerwanderung« hunderttausender Menschen in der Spätantike war tatsächlich ein gigantischer Prozess der »Vermischung« von Menschen unterschiedlicher Herkunft, und das ist in der Geschichte der Normalfall.
Im 18. und 19. Jahrhundert flohen Millionen Deutsche vor religiöser Repression und bitterer Armut nach Russland und vor allem nach Amerika. Die daraus resultierende »Leutenot« machte Deutschland wiederum von Hunderttausenden polnischen Wanderarbeitenden abhängig.
Zur Zeit des Nationalsozialismus flohen Hunderttausende jüdische Bürger*innen und andere Verfolgte aus Deutschland, solange es ihnen noch möglich war und sofern ein Land bereit war, sie aufzunehmen. Millionen von Menschen wurden verfolgt und ermordet, weil sie als Gefahr für die »Volksgemeinschaft« eingestuft wurden – eine schreckliche Folge einer noch heute kursierenden rassistischen Vorstellung, Deutschland würde »überfremdet«.
Migration hat die Gesellschaft dauernd verändert und »uns« auch zu dem gemacht, was »wir« heute sind.
Mit den »Gastarbeitern« der Nachkriegszeit wurde Deutschland wieder zum Einwanderungsland. Prominente mit Migrationserfahrung gehören heute in Politik, Sport und Fernsehen zur Normalität, Döner und Pizza sind schon lange Bestandteil der »deutschen Kultur«. Auch wenn rechte Populist*innen und gewaltbereite Gruppen versuchen, gegen die Einwanderungsgesellschaft Stimmung zu machen: Die deutsche Bevölkerung war immer schon eine ungeplante Mischung. Migration hat die Gesellschaft dauernd verändert und »uns« auch zu dem gemacht, was »wir« heute sind – insofern haben wir alle einen »Migrationshintergrund«.
Nur dort, wo lange niemand dazukommt, entsteht der Eindruck, man sei schon immer »unter sich«. Deshalb haben gerade in solchen Gegenden mehr Menschen Angst vor einer vermeintlichen »Überfremdung«, wo statistisch gesehen die wenigsten »Ausländer« leben (siehe etwa einen Artikel im Handelsblatt von August 2012). Wo Menschen im Alltag permanent mit neu Zugezogenen in Kontakt kommen, stellen sich dagegen schnell Gelassenheit und Normalität ein.
TIPPS: GEGEN UNKENNTNIS, VORURTEILE UND RASSISMUS – WAS KANN MAN TUN?
- Begegnen Sie Vorurteilen souverän: mit Fakten. Manchmal reichen schon ein Wortbeitrag oder sachliches Nachfragen in einer Versammlung, um die Stimmung zu drehen.
- Achten Sie auf die Macht der Worte. Wenn Politiker*innen die Asylantragszahlen »alarmierend« nennen oder Medien von »Flüchtlingswellen« sprechen, löst das Ängste aus. Sachlich betrachtet sind viele Begriffe unangemessen, sogar falsch. Machen Sie Medien und Ihr Umfeld darauf aufmerksam.
- Schreiben Sie Leserbriefe und Internetkommentare zu Zeitungs‑, Radio- und Fernsehbeiträgen. Besonders im Internet breiten sich ungehindert Dummheiten, Falschmeldungen und Hass aus. Setzen Sie Sachaufklärung und Mitmenschlichkeit dagegen. Die Plattform www.hoaxmap.org überprüft und widerlegt seriös Gerüchte über Asylsuchende.
- Beziehen Sie klar Position. Je früher und je mehr Einzelpersonen und Organisationen sich rassistischer Hetze öffentlich entgegenstellen, desto eher wird eine Hass- und Gewaltspirale unterbrochen.
- Schmieden Sie Bündnisse. Sprechen Sie Menschen aus Institutionen an, denen Sie zutrauen, dass sie sich gegen Rassismus stark machen, z.B. aus der Religionsgemeinde, Parteien und Gewerkschaften, dem Kultur- oder Bildungsbereich oder dem Sport. Vernetzen Sie sich mit lokalen Selbstorganisationen von Migrant*innen und Flüchtlingsinitiativen im Flüchtlingsrat Ihres Bundeslandes.
- Suchen und vermitteln Sie Kontakt. Begegnungen helfen enorm, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen und das Sicherheitsgefühl beider Seiten zu stärken. Organisieren Sie Kennenlernabende, Filmvorführungen, gemeinsame Diskussionen. Oft finden sich dann Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren wollen.
- Treten Sie für gute Aufnahmebedingungen ein. Massenunterkünfte, Arbeitsverbote oder Lebensmittelpakete signalisieren: »Die gehören nicht zu uns, die tun nichts und liegen uns auf der Tasche.« Damit werden Flüchtlinge leicht zur Zielscheibe von Wut und Frustration. Versuchen Sie, die Verantwortlichen zu einer Politik der »Teilhabe von Anfang an« zu bewegen.
- Haben Sie Mut zur Zivilcourage – ohne sich selbst zu gefährden. Rufen Sie im Notfall die Polizei. Machen Sie rassistische Vorfälle öffentlich, wenn die Betroffenen einverstanden sind (ggf. anonymisiert). Antidiskriminierungsbüros helfen weiter.
- Engagieren Sie sich vor Ort gegen Rechtsextremismus. Die lokalen Neonazis sollte man kennen: So kann man vermeintliche »besorgte Bürger« entlarven, auf gewalttätige Strukturen im Hintergrund von flüchtlingsfeindlichen Protesten hinweisen. Die mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus bieten Unterstützung.