Das Jahr 2023 war geprägt von populistischen Debatten. Flüchtlinge wurden zum Sündenbock für gesellschaftliche Missstände gemacht und ihre Abschiebung und Abwehr als vermeintliche Lösung präsentiert. Wir haben die Zahlen, die dabei oft als Argumente angeführt werden, unter die Lupe genommen und wollen so zur Versachlichung der Debatte beitragen.
Sei es beim sogenannten Rückführungsverbesserungsgesetz, bei der Bezahlkarte oder bei der Reform des europäischen Asylsystems: Für die zahlreichen Abschreckungsmaßnamen der im letzten Jahr erschreckend restriktiven Flüchtlingspolitik wurde immer wieder mit Zahlen argumentiert, die bei näherem Blick offenbaren, dass die vermeintlichen »Lösungen« die bestehenden Probleme und Herausforderungen kaum werden lösen können.
Trauriger Rekord: Weltweite Flüchtlingszahl binnen nur sieben Jahren verdoppelt
Es ist weiterhin Krieg in der Ukraine. In Gaza entzündete sich der jahrzehntelange Konflikt erneut auf brutalste Weise. Neben diesen von medialer Aufmerksamkeit begleiteten Krisen trieb der Krieg im Sudan über acht Millionen Menschen in die Flucht, in Deutschland weitgehend unbemerkt. Und auch die Terrorherrschaft der Taliban in Afghanistan sowie weitere fast vergessene Krisen, wie die in Syrien, im Jemen oder in der Demokratischen Republik Kongo, machten die Welt für viele Menschen zu einem unsicheren Ort. Insgesamt nahmen und nehmen weltweit Gewalt und Terror zu, von den Folgen des Klimawandels gar nicht zu sprechen.
Diese weltpolitische Lage schlägt sich in trauriger Weise auch in den Flüchtlingszahlen nieder: Erst im Jahr 2022 hatte die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Welt die Rekordmarke von 100 Millionen durchbrochen, bis Ende 2023 stieg sie auf einen neuen Höchstwert von 114 Millionen. Innerhalb von gerade einmal sieben Jahren hat sich die weltweite Flüchtlingszahl verdoppelt.
50 Prozent mehr Asylanträge in Deutschland
Obwohl die meisten Flüchtlinge im globalen Süden verbleiben und rund drei Viertel der weltweit Vertriebenen vor allem in ärmeren Staaten leben, ist auch Deutschland zu einem der größten Aufnahmeländer für Flüchtlinge geworden – nicht zuletzt durch die Aufnahme von über einer Million Flüchtlingen aus der Ukraine, die vor allem 2022 zu uns flohen.
Im Jahr 2023 ist die Zahl der Menschen, die in Deutschland Asyl beantragten, stark angestiegen: Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben 329.100 Menschen einen Asylerstantrag gestellt. Der Anstieg fiel mit 51 Prozent im Vergleich zu 2022 mit 217.800 Erstanträgen deutlich aus. Davon wurden 22.600 Asylanträge für hier geborene Kinder gestellt. Es sind also mehr als 300.000 Menschen neu nach Deutschland eingereist, um hier Schutz zu suchen.
Angesichts der globalen Krisen und Konflikte und des dramatischen Anstiegs der weltweiten Fluchtbewegungen ist eine solche Zahl wenig überraschend, wenngleich sie deutlich unter den Asylantragszahlen der Jahre 2015 und 2016 liegt. Mit Blick auf die Gewalt in der Welt werden wir uns auch künftig auf hohe Flüchtlingszahlen einstellen müssen. So lange politische Lösungen für die steigende Zahl an Konflikten nicht in Sicht sind, sollten Politik und Gesellschaft Flucht und deren Auswirkungen als Normalität begreifen lernen.
Hauptherkunftsland ist seit zehn Jahren Syrien
Bereits zum zehnten Mal in Folge kamen die meisten Asylsuchenden in Deutschland aus Syrien, wo der blutige Bürgerkrieg bereits im 14. Jahr tobt. Mit 102.900 Asylanträgen (+ 45 Prozent) waren das fast ein Drittel aller Erstanträge. Auf Rang zwei folgt die Türkei (61.200), mit einem sehr deutlichen Anstieg von 156 Prozent, auf Rang drei Afghanistan (51.300, + 41 Prozent). Es kamen also fast zwei Drittel aller Asylsuchenden allein aus diesen drei Staaten.
Mit deutlichem Abstand folgt an vierter Stelle der Irak (11.200, – 27 Prozent), das einzige der Hauptherkunftsländer mit rückläufigen Zahlen. Der Iran (9.400, + 48 Prozent), wo die Straßenproteste nach der Ermordung von Mahsa Amini im Jahr 2022 zwar nachgelassen haben, die staatliche Repression – insbesondere gegen Frauen – aber unvermindert anhält, kommt an fünfter Stelle. Auf Rang 6 folgt das zum »sicheren Herkunftsland« erklärte Georgien (8.400, + 6 Prozent). Bei Russland schlugen sich die Mobilisierungen für den Ukraine-Krieg sowie die zunehmende Repression im Land in der Asylstatistik nieder: Mit 169 Prozent mehr Asylanträgen (7.700) verzeichnete die Russische Föderation auf Rang 7 der Hauptherkunftsländer den prozentual stärksten Anstieg.
Trotz restriktiver Anerkennungspraxis: Schutzquote weiter auf Rekordniveau
Die teils dramatische menschenrechtliche Situation in den Hauptherkunftsländern zeigt sich auch in der Anerkennungsquote, die erneut auf sehr hohem Niveau lag: Rund 69 Prozent der Menschen, deren Asylgründe vom BAMF geprüft wurden, erhielten Schutz in Deutschland. Damit ging die Quote im Vergleich zur Rekordquote des Vorjahres (72 Prozent) leicht zurück. Eine Anerkennung als Flüchtling erhielten 22 Prozent, den subsidiären Schutz 36 Prozent und 11 Prozent wurde ein Abschiebungsverbot zuerkannt. Abgelehnt wurden 31 Prozent der Menschen.
Das BAMF weist in seiner amtlichen Statistik nur eine Schutzquote von 52 Prozent aus. Das liegt daran, dass 64.500 »formelle Entscheidungen« mit eingerechnet sind, bei denen keine Prüfung der Asylgründe stattfand. Diese sind zwar nicht zu vernachlässigen, aber sie verzerren das Bild über die tatsächliche Schutzbedürftigkeit asylsuchender Menschen und die Situation in deren Herkunftsländern.
Die Hälfte der formellen beziehungsweise über 12 Prozent aller BAMF-Entscheidungen waren sogenannt Dublin-Entscheidungen, nach denen ein anderes europäisches Land für die Prüfung des Asylantrags zuständig sein soll. Besonders Menschen aus Afghanistan und Syrien erhielten Dublin-Entscheidungen, also Menschen aus Ländern mit höchsten Schutzquoten. Dies verdeutlicht, wie die amtlichen Zahlen das Bild der tatsächlichen Asylgewährung verzerren.
Dublin-Wahnsinn: 90.000 Verfahren für 800 Überstellungen »netto«
Das BAMF hat sogar in fast einem Viertel (23 Prozent) aller Asylverfahren zunächst ein Dublin-Verfahren eingeleitet. Das bedeutet zwar einen deutlichen Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren. Dennoch waren 74.600 Menschen davon betroffen und mussten oft monatelang mit der Angst vor Abschiebung in einen anderen EU-Staat leben.
Die meisten Übernahmeersuchen gingen an Kroatien (16.700) und Italien (15.500). Diese beiden Staaten sind für ihren menschenrechtlich höchst problematischen Umgang mit Flüchtlingen bekannt, weshalb Abschiebungen dorthin oftmals von Gerichten gestoppt wurden.
Die italienische Regierung weigert sich seit Dezember 2022 Flüchtlinge nach der Dublin-Verordnung zurückzunehmen, was das BAMF jedoch nicht daran hindert, weiter diese hoch bürokratischen Verfahren durchzuführen. Nach offiziellen Angaben wurden elf Personen nach Italien überstellt, wohlgemerkt aus 15.500 Verfahren. Ähnlich beim Beispiel Griechenland, wohin aufgrund der menschenrechtlichen Lage kaum Überstellungen stattfinden dürfen: 5.500 Dublin-Verfahren hatten drei Überstellungen zur Folge.
Insgesamt gab es 5.100 Dublin-Überstellungen aus Deutschland. Bezogen auf die Zahl der eingeleiteten Dublin-Verfahren wurden weniger als sieben Prozent abgeschoben. Dieses Missverhältnis wird noch absurder, wenn man bedenkt, dass es auch aus anderen europäischen Staaten Dublin-Übernahmeersuchen (15.600) an und ‑Überstellungen (4.300) nach Deutschland gab. Im Ergebnis war das BAMF im vergangenen Jahr also mit mehr als 90.000 hochbürokratischen ein- und ausgehenden Dublin-Verfahren beschäftigt, um im Ergebnis 800 Asylverfahren abgeben zu können.
Viel besser lässt sich die Ineffizienz und das sture Festhalten an einem längst gescheiterten System kaum in Zahlen ausdrücken. Ein System, das nicht nur beim BAMF und den Verwaltungsgerichten hohe personelle und finanzielle Ressourcen verschlingt, sondern vor allem in unzähligen Fällen unmenschliche Härten produziert.
Das Dublin-System soll zwar künftig im Rahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) durch die Verordnung für ein Asyl- und Migrationsmanagement abgelöst werden. Doch vieles wird unverändert bleiben oder sogar noch bürokratischer werden, ohne dass das die Grundprobleme des europäischen Asylsystems löst. Auch die Unmenschlichkeit eines Systems, das nicht funktioniert, wird leider bleiben, wenn Staaten wie Griechenland, Italien oder Kroatien nicht bereit sind, menschenwürdige Bedingungen für Asylsuchende zu garantieren.
Kontrollen an deutschen Grenzen: Illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden?
Mit Umsetzung der GEAS-Reform zwingen die EU-Staaten zukünftig Schutzsuchende, an der EU-Außengrenze ihre Asylverfahren durchzuführen. Damit werden sie erst gar nicht in die EU reingelassen, mit dem Ziel, sie bei Ablehnung von der Grenze aus direkt wieder abschieben zu können.
Aber auch an den deutschen Binnengrenzen wird seit Oktober 2023 verschärft kontrolliert. Die seit Jahren bestehenden Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze wurden auf die Grenzen zur Schweiz, zu Tschechien und zu Polen ausgeweitet und werden bereits als Erfolg gefeiert. Insgesamt wurden an deutschen Landgrenzen von Mitte Oktober 2023 bis Mitte Februar 2024 knapp 23.000 unerlaubte Einreisen festgestellt und fast 13.000 Menschen an der Grenze oder im grenznahen Bereich zurückgewiesen oder zurückgeschoben.
Rechtlich ist es jedoch eindeutig, dass Asylsuchende an der Grenze nicht zurückgewiesen werden dürfen. Allerdings deuten die Zahlen zum Halbjahr 2023, als es nur an der Grenze zu Österreich stationäre Kontrollen gab, darauf hin, dass es möglicherweise zu illegalen Push-Backs von Schutzsuchenden kam und kommt. Es stellten nämlich nur 17 Prozent der Menschen nach erfolgter »unerlaubter Einreise« ein Asylgesuch, während dieser Anteil an den Grenzen zur Schweiz oder Polen bei 62 Prozent lag und an allen anderen Landesgrenzen bei 44 Prozent. Das legt die Vermutung nahe, dass Asylgesuche von der Bundespolizei ignoriert wurden. Auch die Zahl der Zurückweisungen an der Grenze zu Österreich war mit 56 Prozent im Verhältnis zu den »unerlaubten Einreisen« deutlich höher als beispielsweise an der polnischen (0,1 Prozent) oder tschechischen Grenze (0,6 Prozent). Zurückgewiesen wurden vor allem Menschen aus Afghanistan (2.900) und Syrien (1.300) – es ist kaum vorstellbar, dass so viele von ihnen an der Grenze kein Asylgesuch geäußert haben. Es ist zu befürchten, dass die Zahlen an den Grenzen zu Polen oder Tschechien künftig ähnlich ausfallen werden.
Hohe Schutzquoten für Syrien und Afghanistan
Von den Flüchtlingen, die es nach Deutschland geschafft und beim BAMF eine inhaltliche Asylprüfung erhalten haben, hatten diejenigen aus Syrien und Afghanistan die besten Chancen auf Schutz. Asylsuchende aus Syrien erhielten in fast 100 Prozent der Fälle einen Schutzstatus, es gab nur vereinzelt Ablehnungen. 14 Prozent wurden als Flüchtlinge anerkannt, 86 Prozent erhielten den subsidiären Schutz, hinzu kamen noch einige Abschiebungsverbote (weniger als 0,5 Prozent).
Allerdings waren rund 90 Prozent der Flüchtlingsanerkennungen von Familienangehörigen abgeleitet, beispielsweise für in Deutschland geborene Babys von seit Jahren anerkannten Flüchtlingen. Neu einreisende Asylsuchende aus Syrien hatten also kaum noch eine Chance auf den Flüchtlingsstatus.
Auch Menschen aus Afghanistan fanden fast immer Schutz (99 Prozent), wenn das BAMF ihre Asylanträge prüfte. 45 Prozent wurden als Flüchtlinge anerkannt, drei Prozent erhielten subsidiären Schutz und 50 Prozent ein Abschiebungsverbot. Etwas mehr als ein Prozent wurden abgelehnt, Tendenz allerdings steigend: Im ersten Quartal 2024 wurden drei Prozent der Schutzsuchenden aus Afghanistan abgelehnt. Der politische Druck angesichts seit Jahren hoher Flüchtlingszahlen scheint sich also auch in der BAMF-Entscheidungspraxis zu Afghanistan niederzuschlagen – der desaströsen Menschenrechtslage unter der Terrorherrschaft der Taliban zum Trotz. Immerhin erkannte das BAMF Frauen und Mädchen aus Afghanistan zunehmend als GFK-Flüchtlinge an, nachdem einige EU-Staaten Afghaninnen als verfolgte soziale Gruppe betrachteten und schließlich auch die Europäische Asylagentur ihre Anerkennung empfahl, anstatt ihnen wie in den Vorjahren zumeist nur Abschiebungsverbote zuzugestehen.
Steigende Türkei-Antragszahlen, Sturzflug der Schutzquote
Die in den letzten Jahren und insbesondere 2023 deutlich gestiegenen Asylzahlen aus der Türkei standen einer noch restriktiveren BAMF-Entscheidungspraxis und stark gesunkenen Schutzquoten gegenüber. Obwohl sich die menschenrechtliche Lage unter dem Regime Recep Tayyip Erdoğans keineswegs verbessert hat, erhielten 2023 nur noch 18 Prozent Schutz (meist die Flüchtlingsanerkennung). Im Jahr 2020 waren es noch fast die Hälfte und 2022 immerhin noch mehr als ein Drittel.
Insbesondere Kurd*innen waren und sind Leidtragende dieser Praxis, die im vergangenen Jahr rund 84 Prozent der Asylsuchenden aus der Türkei ausmachten. Im Gegensatz zu Antragsstellenden der türkischen Bevölkerungsgruppe, die in rund zwei Drittel der Fälle vom BAMF Schutz erhielten (65 Prozent), lag die Schutzquote für die kurdische Bevölkerungsgruppe aus der Türkei bei nur noch sechs Prozent (2022: elf Prozent).
Iran: Das BAMF lehnt ab, die Gerichte korrigieren
Ähnlich restriktiv war die Linie gegenüber Schutzsuchenden aus dem Iran, obwohl Innenministerin Nancy Faeser angesichts der menschenrechtlich schwierigen Lage in dem Land eine Verlängerung des Ende 2023 ausgelaufenen Abschiebungsstopps unterstützte. Die ihr unterstellte Asylbehörde lehnte jedoch auch im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte der iranischen Asylsuchenden ab, nur 45 Prozent der Menschen erhielten Schutz. Im laufenden Jahr setzte sich diese Praxis in verschärfter Form fort: Nur noch 39 Prozent erhielten im ersten Quartal 2024 Schutz. Mit der Menschenrechtssituation im Iran ist eine Ablehnungsquote von mehr als 60 Prozent kaum erklärbar.
Diese restriktive BAMF-Linie wird auch von den Verwaltungsgerichten kritisch gesehen. Zwar liegen uns bislang keine amtlichen Gerichtsstatistiken für das Jahr 2023 vor. Aber laut personenbasierten Auswertungen des BAMF haben Verwaltungsgerichte im vergangenen Jahr in 54 Prozent der inhaltlich überprüften Asylklagen von Iraner*innen nachträglich einen Schutzstatus zugesprochen, zumeist die volle Flüchtlingsanerkennung. Eine solch verheerende Bilanz ist skandalös und spricht entweder für erhebliche Qualitätsmängel in der Asylbehörde oder für Ablehnungen aus politisch motivierten Gründen.
Ein Viertel aller BAMF-Bescheide war rechtswidrig
Auch beim Herkunftsland Türkei hoben Verwaltungsgerichte viele BAMF-Bescheide auf und erkannten häufig die Flüchtlingseigenschaft nachträglich an: Jeder fünfte inhaltlich geprüfte BAMF-Bescheid erwies sich als falsch und konnte der gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten. Bezogen auf alle Herkunftsländer ergibt die BAMF-Auswertung, dass 25 Prozent der inhaltlichen Gerichtsentscheidungen zu einem (besseren) Schutzstatus führten und den ursprünglichen BAMF-Bescheid als falsch und rechtswidrig einstuften.
Tausende Menschen erhielten also erst durch Klagen bei Gericht den ihnen zustehenden Schutzstatus – angesichts einer Verfahrensdauer von durchschnittlich 21 Monaten bei Asylklagen und den zuvor häufig monatelangen Asylverfahren sind das oft Jahre der Ungewissheit, in denen ihnen wichtige Rechte wie etwa das auf Familiennachzug vorenthalten bleibt.
Mehr Abschiebungen, aber fast doppelt so viele »freiwillige Ausreisen«
Die Zahlen zeigen: Im Jahr 2023 erhielten die meisten Asylsuchenden Schutz vom BAMF und den Gerichten und bleiben dauerhaft in Deutschland. Dessen ungeachtet zielten Maßnahmen wie das »Rückführungsverbesserungsgesetz« darauf ab, Menschen einfacher abschieben zu können, statt zukunftsfähige Lösungen für den Großteil der Menschen anzubieten, nämlich denen, die bleiben.
Die Zahl der Abschiebungen ist im letzten Jahr aber sogar deutlich gestiegen, mit 3.500 um 27 Prozent auf 16.400. Dennoch wurde in politischen Debatten beklagt, dass sich die Zahl unter dem Niveau vor der Pandemie (22.100) bewegt und es wurden Zusammenhänge zu überlasteten Kommunen hergestellt.
Dabei ist es keineswegs so, dass der Staat bei Menschen, die ausreisepflichtig sind, immer Zwangsmittel anwenden muss. Im Gegenteil: Die Zahl der »freiwilligen Ausreisen« lag in den vergangenen Jahren immer deutlich höher, als die Zahl der Abschiebungen. Auch im vergangenen Jahr sind laut Eingangsstatistik der Bundespolizei mit 29.600 Menschen fast doppelt so viele Menschen »freiwillig« ausgereist, als abgeschoben wurden.
Da viele Menschen sich nicht behördlich abmelden, wenn sie ausreisen, gibt es eine große Dunkelziffer und die tatsächliche Zahl der »freiwilligen Ausreisen« dürfte noch deutlich höher sein. Eine vermeintlich zu geringe Zahl an Abschiebungen bedeutet also nicht, dass Menschen nicht das Land verlassen, wenn sie ausreisen müssen.
Härtere Abschiebungsgesetze führen vor allem zu mehr Grundrechtseingriffen
Ohnehin zeigen bereits fünf »Reformen« im Bereich Abschiebungen seit 2015, dass immer härtere Abschiebungsgesetze nicht zu einem Rückgang der Zahl der Ausreisepflichtigen oder zu wesentlich mehr Abschiebungen führen, sondern vor allem zu verstärkten Eingriffen in Freiheits- und Menschenrechte. Gleiches ist auch von dem kürzlich beschlossenen »Rückführungsverbesserungsgesetz« zu erwarten, das vor allem zu mehr Haft für Menschen führen wird, die nichts verbrochen haben, außer um Schutz zu bitten. Zu einer Entlastung der Kommunen wird aber auch diese neuerliche Reform nicht führen.
Abschiebungen oft aus praktischen oder rechtlichen Gründen unmöglich
Das zeigt auch die Zahl der Duldungen für Personen mit ungeklärter Identität: Knapp 17.300 Menschen und damit weniger als neun Prozent der Ausreisepflichtigen hatten Ende 2023 diese »Duldung light«. Ihnen wurde unterstellt, dass sie ihre eigene Abschiebung verhindern. Seit deren Einführung im Jahr 2019 bewegte sich die Zahl immer in dieser Größenordnung. Damit ist die immer wieder suggerierte Unterstellung, die Menschen würden sich ihrer Abschiebung verweigern, falsch: Die Menschen können in den meisten Fällen schlicht nicht abgeschoben werden.
Die Gründe, warum Menschen geduldet werden, sind vielfältig: 20.900 Menschen hatten wegen familiären Bindungen eine Duldung, 2.500 aus medizinischen Gründen. In über 7.700 Fällen lagen »dringende humanitäre oder persönliche Gründe« vor, beispielsweise die Beendigung der Schule oder die Betreuung kranker Familienangehöriger. 3.400 Menschen hatten eine Duldung wegen eines Abschiebungsstopps, 6.400 wegen »zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen«, also wegen drohender Gefahren für Leib und Leben im Herkunftsland. Hinzu kamen 4.100 unbegleitete Minderjährige und 6.100 Menschen, die eine Duldung wegen eines Asylfolgeantrags erhielten. Auch 3.800 Menschen mit Ausbildungsduldung und 1.100 Menschen mit einer Beschäftigungsduldung blieben ausreisepflichtig, trotz Ausbildung oder Arbeit.
Laut den Zahlen des Ausländerzentralregisters (AZR) war der häufigste Duldungsgrund jedoch »sonstige Duldungsgründe« (66.300 Fälle). Die Datenlage des AZRs enthält dazu aber keine genaueren Informationen – es kann sich zum Beispiel um Menschen handeln, die enge verwandtschaftliche Beziehungen zu Personen mit Aufenthaltsrecht haben. Ähnlich ist es bei dem zweithäufigsten Duldungsgrund »fehlende Reisedokumente« (47.000 Fälle): Diese AZR-Kategorie besagt nicht, dass die fehlenden Reisedokumente ursächlich für die Duldung waren. Unter ihnen waren nämlich tausende Menschen aus Afghanistan, der Russischen Föderation oder Syrien – also Staaten, in die man die Menschen auch mit Reisedokumenten nicht hätte abschieben können.
Unterm Strich kann man sagen: Zehntausende Menschen hatten und haben gute, teils sogar zwingende Gründe für einen Verbleib in Deutschland. Mangels gesetzlicher Regelungen und aufgrund teils äußerst restriktiver ausländerbehördlicher Praxis hatten sie jedoch nur eine Duldung und trugen so zur hohen Zahl der »Ausreisepflichtigen« bei. Abschiebung hingegen: unmöglich.
Menschenrechtliche Lage in vielen Ländern lässt Abschiebungen nicht zu
Dass Forderungen nach und Gesetze für mehr Abschiebungen vor allem dem rechten Diskurs in die Hände spielen, aber in der Sache an der Realität vorbei gehen, unterstreicht auch der Blick auf die Hauptherkunftsländer der »Ausreisepflichtigen« und Geduldeten Ende 2023: Irak (24.600), Afghanistan (14.300), Türkei (13.500), Russische Föderation (12.800), Nigeria (12.700), Syrien (10.300), Serbien (9.900) und Iran (9.200).
Grund für ausbleibende Abschiebungen in solche Staaten ist nicht, dass Menschen untertauchen, sondern die Abschiebungen sind aus menschenrechtlichen Gründen schlicht unmöglich. In den Irak, nach Afghanistan und nach Syrien waren Abschiebungen durch Beschlüsse der Konferenz der Innenminister*innen sogar über Jahre hinweg weitestgehend ausgesetzt. Hinzu kommen Staaten, die nicht bereit sind, Personen zurückzunehmen.
»Abschiebungen im großen Stil« sind also gar nicht möglich. Mit solchen Parolen soll wohl eine vermeintliche politische Handlungsfähigkeit suggeriert werden. Aber auch wenn härtere Abschiebegesetze zu ein paar mehr Abschiebungen führen: Der Preis für die Betroffenen ist sehr hoch, Kommunen werden dadurch nicht spürbar entlastet und Gerichte und Behörden werden zusätzlich beschäftigt.
Bei den Ausreisepflichtigen handelt es sich nicht, wie oft angenommen, nur um Geflüchtete, sondern ein großer Teil (41 Prozent) sind Menschen, die nie einen Asylantrag gestellt haben.
Nur 59 Prozent der Ausreisepflichtigen sind abgelehnte Asylsuchende
Von den 242.600 Ausreisepflichtigen Ende 2023 lebten 127.100 – also mehr als die Hälfte – bereits länger als vier Jahre in Deutschland, ein Drittel (82.900) sogar schon länger als sechs Jahre. Bei den Ausreisepflichtigen handelt es sich nicht, wie oft angenommen, nur um Geflüchtete, sondern ein großer Teil (41 Prozent) sind Menschen, die nie einen Asylantrag gestellt haben. Sie sind beispielsweise zum Studium, zur Arbeit, via Ehegattennachzug oder mit einem Besuchsvisum nach Deutschland eingereist und nach Ablauf des Aufenthaltstitels nicht (rechtzeitig) ausgereist. Nur rund 142.300 der Ausreisepflichtigen sind abgelehnte Asylbewerber (59 Prozent), ein sehr großer Teil von ihnen hat also niemals eine Asyl-Unterkunft bewohnt hat.
Deswegen ist es unsinnig und völlig unverhältnismäßig, auf so viele Menschen, die seit vielen Jahren in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben und oftmals gut integriert sind, den Druck zu verstärken, um am Ende einige wenige abschieben zu können. Man sollte ihnen lieber Perspektiven anbieten, in Deutschland ein Leben aufbauen zu können und Teil der Gesellschaft zu werden.
Nach Jahren erstmals Rückgang der Geduldeten- und Ausreisepflichtigen-Zahlen
Die mit fast einer viertel Million tatsächlich viel zu hohe Zahl der Ausreisepflichtigen ist im vergangenen Jahr jedoch – entgegen aller Parolen – stark zurückgegangen. Dies lag vor allem am Chancen-Aufenthaltsrecht, das seit Anfang letzten Jahres zur Anwendung kam.
Ende 2022 lag die Zahl der Ausreisepflichtigen nämlich noch bei 304.300, darunter 248.100 mit einer Duldung. Diese Zahl ist seit 2012 jährlich angestiegen und hat sich in diesen zehn Jahren fast verdreifacht – wohlgemerkt trotz unzähliger Abschiebungsreformen. Im Jahr 2023 hat sich die Zahl der Ausreisepflichtigen um 61.700 (20 Prozent) reduziert, die Zahl der Geduldeten um 54.200 auf 194.000 (22 Prozent).
Dass dies kaum mit den rund 3.500 mehr Abschiebungen im Jahr 2023 zu tun haben kann, liegt auf der Hand. Hauptursächlich dafür sind 55.500 Aufenthaltserlaubnisse, die nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht erteilt wurden. Durch diese Regelung können Menschen mit einer Duldung nach vielen Jahren in Deutschland und häufig sehr guter Integration endlich aus der Ausreisepflicht herauskommen. Solche Regelungen können tatsächlich wirksam zur Entlastung von Kommunen bei der Unterbringung beigetragen und sie werden vor allem den Menschen gerecht, die seit Jahren bei uns leben und die so leichter in Wohnung und Arbeit finden.
Die meisten abgelehnten Asylbewerber*innen haben einen Aufenthaltstitel
Neben den 142.300 ausreisepflichtigen abgelehnten Asylbewerber*innen leben in Deutschland fast 900.000 abgelehnte Asylbewerber (Stichtag: 30. Juni 2023, aktuellere Zahlen noch nicht vorhanden).
Drei Viertel von ihnen (78 Prozent) sind jedoch keineswegs ausreisepflichtig, sondern haben einen rechtmäßigen Aufenthalt. Knapp die Hälfte hat einen befristeten Aufenthaltsstatus, 30 Prozent haben sogar einen unbefristeten. Durch das Chancen-Aufenthaltsrecht hat sich diese Zahl bis Ende des Jahres vermutlich noch gesteigert. Für die meisten dieser Aufenthaltstitel, die nach abgelehntem Asylantrag vergeben werden, sind gute Integration, die Sicherung des Lebensunterhalts und jahrelanger Aufenthalt in Deutschland zwingende Voraussetzungen.
Der politische und administrative Fokus sollte sich auf die großzügige Anwendung bestehender gesetzlicher Bleiberechtsregelungen für diejenigen richten, deren Abschiebungen überhaupt nicht oder jahrelang nicht möglich sind. Mancherorts geschieht das glücklicherweise schon und Ausländerbehörden sehen sich als »Dienstleistungsbehörde« oder »Willkommensbehörde« – aber an vielen Orten steht nach wie vor die Ausreisepflicht von Menschen im Vordergrund, ungeachtet dessen, dass sie nicht abgeschoben werden können.
Mehr Sachlichkeit und Menschlichkeit notwendig, um Herausforderungen gerecht zu werden
Angesichts weltweit zunehmender Krisen und Konflikte werden auch künftig Menschen fliehen müssen. Die meisten Vertriebenen flüchten und leben immer noch im Globalen Süden, aber es werden auch viele Menschen nach Europa und Deutschland kommen.
Deswegen sollten wir uns darum kümmern, dass ihre Teilhabe an Gesellschaft und Arbeitsmarkt gelingen kann. Die meisten Menschen, die sich auf eine oft lebensgefährliche Flucht begeben und alles hinter sich gelassen haben, brennen darauf, ihr neues Leben in Deutschland aufzubauen. Dass dies möglich ist, zeigen Zahlen derjenigen Menschen, die 2015 eingereist sind: Die Erwerbsquote der Flüchtlinge von 2015 liegt mit 65 Prozent sogar über der allgemeinen Erwerbsquote.
Nur auf Abwehr und Restriktion setzende Maßnahmen wie die GEAS-Reform, Kontrollen an deutschen Grenzen, ein »Rückführungsverbesserungsgesetz« oder die Bezahlkarte werden den Herausforderungen der weltweiten Fluchtbewegungen alles andere als gerecht. Im Gegenteil: Sie machen nur die Fluchtwege der Menschen gefährlicher und teurer und schaffen ein Konjunkturprogramm für »Schlepper«. Aber sie halten Menschen kaum davon ab, sichere Zufluchtsorte zu suchen.
Es ist absurd und unehrlich, wie angesichts der existierenden und oft dramatischen Fluchtursachen der Anschein erweckt werden soll, dass durch ordnungspolitische Maßnahmen Fluchtbewegungen gesteuert werden könnten. Flucht ist in unserer globalisierten Welt zur traurigen Normalität geworden. Abschottung um jeden Preis wird daher nicht vor Flucht schützen, sondern allein vor sicherer Zuflucht.
Deswegen sollten wir uns für sichere Zufluchtsorte für schutzsuchende Menschen und deren Teilhabe an dem hiesigen gesellschaftlichen Leben einsetzen. Lautstarke Parolen und vermeintlich einfache Lösungen helfen niemandem weiter, sondern sind eine Gefahr für uns alle: Sie führen dazu, dass die Gültigkeit der Menschenrechte für alle in Frage gestellt wird. Angesichts einer solchen Gefahr sollten wir für ein paar Flüchtlinge weniger und ein paar Abschiebungen mehr nicht weiter an ihnen rumsäbeln. Die Menschenrechte sind universell und müssen das auch bleiben.
(dmo)