Das Jahr 2023 war geprägt von popu­lis­ti­schen Debat­ten. Flücht­lin­ge wur­den zum Sün­den­bock für gesell­schaft­li­che Miss­stän­de gemacht und ihre Abschie­bung und Abwehr als ver­meint­li­che Lösung prä­sen­tiert. Wir haben die Zah­len, die dabei oft als Argu­men­te ange­führt wer­den, unter die Lupe genom­men und wol­len so zur Ver­sach­li­chung der Debat­te beitragen.

Sei es beim soge­nann­ten Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz, bei der Bezahl­kar­te oder bei der Reform des euro­päi­schen Asyl­sys­tems: Für die zahl­rei­chen Abschre­ckungs­maß­na­men der im letz­ten Jahr erschre­ckend restrik­ti­ven Flücht­lings­po­li­tik wur­de immer wie­der mit Zah­len argu­men­tiert, die bei nähe­rem Blick offen­ba­ren, dass die ver­meint­li­chen »Lösun­gen« die bestehen­den Pro­ble­me und Her­aus­for­de­run­gen kaum wer­den lösen können.

114 Mil­lio­nen

Zahl der Flücht­lin­ge steigt auf Rekordwert

Trauriger Rekord: Weltweite Flüchtlingszahl binnen nur sieben Jahren verdoppelt

Es ist wei­ter­hin Krieg in der Ukrai­ne. In Gaza ent­zün­de­te sich der jahr­zehn­te­lan­ge Kon­flikt erneut auf bru­tals­te Wei­se. Neben die­sen von media­ler Auf­merk­sam­keit beglei­te­ten Kri­sen trieb der Krieg im Sudan über acht Mil­lio­nen Men­schen in die Flucht, in Deutsch­land weit­ge­hend unbe­merkt. Und auch die Ter­ror­herr­schaft der Tali­ban in Afgha­ni­stan sowie wei­te­re fast ver­ges­se­ne Kri­sen, wie die in Syri­en, im Jemen oder in der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kon­go, mach­ten die Welt für vie­le Men­schen zu einem unsi­che­ren Ort. Ins­ge­samt nah­men und neh­men welt­weit Gewalt und Ter­ror zu, von den Fol­gen des Kli­ma­wan­dels gar nicht zu sprechen.

Die­se welt­po­li­ti­sche Lage schlägt sich in trau­ri­ger Wei­se auch in den Flücht­lings­zah­len nie­der: Erst im Jahr 2022 hat­te die Zahl der Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­nen in der Welt die Rekord­mar­ke von 100 Mil­lio­nen durch­bro­chen, bis Ende 2023 stieg sie auf einen neu­en Höchst­wert von 114 Mil­lio­nen. Inner­halb von gera­de ein­mal sie­ben Jah­ren hat sich die welt­wei­te Flücht­lings­zahl verdoppelt.

50 Prozent mehr Asylanträge in Deutschland

Obwohl die meis­ten Flücht­lin­ge im glo­ba­len Süden ver­blei­ben und rund drei Vier­tel der welt­weit Ver­trie­be­nen vor allem in ärme­ren Staa­ten leben, ist auch Deutsch­land zu einem der größ­ten Auf­nah­me­län­der für Flücht­lin­ge gewor­den – nicht zuletzt durch die Auf­nah­me von über einer Mil­li­on Flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne, die vor allem 2022 zu uns flohen.

Im Jahr 2023 ist die Zahl der Men­schen, die in Deutsch­land Asyl bean­trag­ten, stark ange­stie­gen: Laut dem Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) haben 329.100 Men­schen einen Asy­l­erst­an­trag gestellt. Der Anstieg fiel mit 51 Pro­zent im Ver­gleich zu 2022 mit 217.800 Erst­an­trä­gen deut­lich aus. Davon wur­den 22.600 Asyl­an­trä­ge für hier gebo­re­ne Kin­der gestellt. Es sind also mehr als 300.000 Men­schen neu nach Deutsch­land ein­ge­reist, um hier Schutz zu suchen.

Ange­sichts der glo­ba­len Kri­sen und Kon­flik­te und des dra­ma­ti­schen Anstiegs der welt­wei­ten Flucht­be­we­gun­gen ist eine sol­che Zahl wenig über­ra­schend, wenn­gleich sie deut­lich unter den Asyl­an­trags­zah­len der Jah­re 2015 und 2016 liegt. Mit Blick auf die Gewalt in der Welt wer­den wir uns auch künf­tig auf hohe Flücht­lings­zah­len ein­stel­len müs­sen. So lan­ge poli­ti­sche Lösun­gen für die stei­gen­de Zahl an Kon­flik­ten nicht in Sicht sind, soll­ten Poli­tik und Gesell­schaft Flucht und deren Aus­wir­kun­gen als Nor­ma­li­tät begrei­fen lernen.

Hauptherkunftsland ist seit zehn Jahren Syrien

Bereits zum zehn­ten Mal in Fol­ge kamen die meis­ten Asyl­su­chen­den in Deutsch­land aus Syri­en, wo der blu­ti­ge Bür­ger­krieg bereits im 14. Jahr tobt. Mit 102.900 Asyl­an­trä­gen (+ 45 Pro­zent) waren das fast ein Drit­tel aller Erst­an­trä­ge. Auf Rang zwei folgt die Tür­kei (61.200), mit einem sehr deut­li­chen Anstieg von 156 Pro­zent, auf Rang drei Afgha­ni­stan (51.300, + 41 Pro­zent). Es kamen also fast zwei Drit­tel aller Asyl­su­chen­den allein aus die­sen drei Staaten.

Mit deut­li­chem Abstand folgt an vier­ter Stel­le der Irak (11.200, – 27 Pro­zent), das ein­zi­ge der Haupt­her­kunfts­län­der mit rück­läu­fi­gen Zah­len. Der Iran (9.400, + 48 Pro­zent), wo die Stra­ßen­pro­tes­te nach der Ermor­dung von Mah­sa Ami­ni im Jahr 2022 zwar nach­ge­las­sen haben, die staat­li­che Repres­si­on – ins­be­son­de­re gegen Frau­en – aber unver­min­dert anhält, kommt an fünf­ter Stel­le. Auf Rang 6 folgt das zum »siche­ren Her­kunfts­land« erklär­te Geor­gi­en (8.400, + 6 Pro­zent). Bei Russ­land schlu­gen sich die Mobi­li­sie­run­gen für den Ukrai­ne-Krieg sowie die zuneh­men­de Repres­si­on im Land in der Asyl­sta­tis­tik nie­der: Mit 169 Pro­zent mehr Asyl­an­trä­gen (7.700) ver­zeich­ne­te die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on auf Rang 7 der Haupt­her­kunfts­län­der den pro­zen­tu­al stärks­ten Anstieg.

Trotz restriktiver Anerkennungspraxis: Schutzquote weiter auf Rekordniveau

Die teils dra­ma­ti­sche men­schen­recht­li­che Situa­ti­on in den Haupt­her­kunfts­län­dern zeigt sich auch in der Aner­ken­nungs­quo­te, die erneut auf sehr hohem Niveau lag: Rund 69 Pro­zent der Men­schen, deren Asyl­grün­de vom BAMF geprüft wur­den, erhiel­ten Schutz in Deutsch­land. Damit ging die Quo­te im Ver­gleich zur Rekord­quo­te des Vor­jah­res (72 Pro­zent) leicht zurück. Eine Aner­ken­nung als Flücht­ling erhiel­ten 22 Pro­zent, den sub­si­diä­ren Schutz 36 Pro­zent und 11 Pro­zent wur­de ein Abschie­bungs­ver­bot zuer­kannt. Abge­lehnt wur­den 31 Pro­zent der Menschen.

Das BAMF weist in sei­ner amt­li­chen Sta­tis­tik nur eine Schutz­quo­te von 52 Pro­zent aus. Das liegt dar­an, dass 64.500 »for­mel­le Ent­schei­dun­gen« mit ein­ge­rech­net sind, bei denen kei­ne Prü­fung der Asyl­grün­de statt­fand. Die­se sind zwar nicht zu ver­nach­läs­si­gen, aber sie ver­zer­ren das Bild über die tat­säch­li­che Schutz­be­dürf­tig­keit asyl­su­chen­der Men­schen und die Situa­ti­on in deren Herkunftsländern.

Die Hälf­te der for­mel­len bezie­hungs­wei­se über 12 Pro­zent aller BAMF-Ent­schei­dun­gen waren soge­nannt Dub­lin-Ent­schei­dun­gen, nach denen ein ande­res euro­päi­sches Land für die Prü­fung des Asyl­an­trags zustän­dig sein soll. Beson­ders Men­schen aus Afgha­ni­stan und Syri­en erhiel­ten Dub­lin-Ent­schei­dun­gen, also Men­schen aus Län­dern mit höchs­ten Schutz­quo­ten. Dies ver­deut­licht, wie die amt­li­chen Zah­len das Bild der tat­säch­li­chen Asyl­ge­wäh­rung verzerren.

Dublin-Wahnsinn: 90.000 Verfahren für 800 Überstellungen »netto«

Das BAMF hat sogar in fast einem Vier­tel (23 Pro­zent) aller Asyl­ver­fah­ren zunächst ein Dub­lin-Ver­fah­ren ein­ge­lei­tet. Das bedeu­tet zwar einen deut­li­chen Rück­gang im Ver­gleich zu den Vor­jah­ren. Den­noch waren 74.600 Men­schen davon betrof­fen und muss­ten oft mona­te­lang mit der Angst vor Abschie­bung in einen ande­ren EU-Staat leben.

Die meis­ten Über­nah­me­ersu­chen gin­gen an Kroa­ti­en (16.700) und Ita­li­en (15.500). Die­se bei­den Staa­ten sind für ihren men­schen­recht­lich höchst pro­ble­ma­ti­schen Umgang mit Flücht­lin­gen bekannt, wes­halb Abschie­bun­gen dort­hin oft­mals von Gerich­ten gestoppt wurden.

Die ita­lie­ni­sche Regie­rung wei­gert sich seit Dezem­ber 2022 Flücht­lin­ge nach der Dub­lin-Ver­ord­nung zurück­zu­neh­men, was das BAMF jedoch nicht dar­an hin­dert, wei­ter die­se hoch büro­kra­ti­schen Ver­fah­ren durch­zu­füh­ren. Nach offi­zi­el­len Anga­ben wur­den elf Per­so­nen nach Ita­li­en über­stellt, wohl­ge­merkt aus 15.500 Ver­fah­ren. Ähn­lich beim Bei­spiel Grie­chen­land, wohin auf­grund der men­schen­recht­li­chen Lage kaum Über­stel­lun­gen statt­fin­den dür­fen: 5.500 Dub­lin-Ver­fah­ren hat­ten drei Über­stel­lun­gen zur Folge.

Ins­ge­samt gab es 5.100 Dub­lin-Über­stel­lun­gen aus Deutsch­land. Bezo­gen auf die Zahl der ein­ge­lei­te­ten Dub­lin-Ver­fah­ren wur­den weni­ger als sie­ben Pro­zent abge­scho­ben. Die­ses Miss­ver­hält­nis wird noch absur­der, wenn man bedenkt, dass es auch aus ande­ren euro­päi­schen Staa­ten Dub­lin-Über­nah­me­ersu­chen (15.600) an und ‑Über­stel­lun­gen (4.300) nach Deutsch­land gab. Im Ergeb­nis war das BAMF im ver­gan­ge­nen Jahr also mit mehr als 90.000 hoch­bü­ro­kra­ti­schen ein- und aus­ge­hen­den Dub­lin-Ver­fah­ren beschäf­tigt, um im Ergeb­nis 800 Asyl­ver­fah­ren abge­ben zu können.

Viel bes­ser lässt sich die Inef­fi­zi­enz und das stu­re Fest­hal­ten an einem längst geschei­ter­ten Sys­tem kaum in Zah­len aus­drü­cken. Ein Sys­tem, das nicht nur beim BAMF und den Ver­wal­tungs­ge­rich­ten hohe per­so­nel­le und finan­zi­el­le Res­sour­cen ver­schlingt, son­dern vor allem in unzäh­li­gen Fäl­len unmensch­li­che Här­ten produziert.

Das Dub­lin-Sys­tem soll zwar künf­tig im Rah­men der Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems (GEAS) durch die Ver­ord­nung für ein Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment abge­löst wer­den. Doch vie­les wird unver­än­dert blei­ben oder sogar noch büro­kra­ti­scher wer­den, ohne dass das die Grund­pro­ble­me des euro­päi­schen Asyl­sys­tems löst. Auch die Unmensch­lich­keit eines Sys­tems, das nicht funk­tio­niert, wird lei­der blei­ben, wenn Staa­ten wie Grie­chen­land, Ita­li­en oder Kroa­ti­en nicht bereit sind, men­schen­wür­di­ge Bedin­gun­gen für Asyl­su­chen­de zu garantieren.

Kontrollen an deutschen Grenzen: Illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden?

Mit Umset­zung der GEAS-Reform zwin­gen die EU-Staa­ten zukünf­tig Schutz­su­chen­de, an der EU-Außen­gren­ze ihre Asyl­ver­fah­ren durch­zu­füh­ren. Damit wer­den sie erst gar nicht in die EU rein­ge­las­sen, mit dem Ziel, sie bei Ableh­nung von der Gren­ze aus direkt wie­der abschie­ben zu können.

Aber auch an den deut­schen Bin­nen­gren­zen wird seit Okto­ber 2023 ver­schärft kon­trol­liert. Die seit Jah­ren bestehen­den Kon­trol­len an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze wur­den auf die Gren­zen zur Schweiz, zu Tsche­chi­en und zu Polen aus­ge­wei­tet und wer­den bereits als Erfolg gefei­ert. Ins­ge­samt wur­den an deut­schen Land­gren­zen von Mit­te Okto­ber 2023 bis Mit­te Febru­ar 2024 knapp 23.000 uner­laub­te Ein­rei­sen fest­ge­stellt und fast 13.000 Men­schen an der Gren­ze oder im grenz­na­hen Bereich zurück­ge­wie­sen oder zurück­ge­scho­ben.

Recht­lich ist es jedoch ein­deu­tig, dass Asyl­su­chen­de an der Gren­ze nicht zurück­ge­wie­sen wer­den dür­fen. Aller­dings deu­ten die Zah­len zum Halb­jahr 2023, als es nur an der Gren­ze zu Öster­reich sta­tio­nä­re Kon­trol­len gab, dar­auf hin, dass es mög­li­cher­wei­se zu ille­ga­len Push-Backs von Schutz­su­chen­den kam und kommt. Es stell­ten näm­lich nur 17 Pro­zent der Men­schen nach erfolg­ter »uner­laub­ter Ein­rei­se« ein Asyl­ge­such, wäh­rend die­ser Anteil an den Gren­zen zur Schweiz oder Polen bei 62 Pro­zent lag und an allen ande­ren Lan­des­gren­zen bei 44 Pro­zent. Das legt die Ver­mu­tung nahe, dass Asyl­ge­su­che von der Bun­des­po­li­zei igno­riert wur­den. Auch die Zahl der Zurück­wei­sun­gen an der Gren­ze zu Öster­reich war mit 56 Pro­zent im Ver­hält­nis zu den »uner­laub­ten Ein­rei­sen« deut­lich höher als bei­spiels­wei­se an der pol­ni­schen (0,1 Pro­zent) oder tsche­chi­schen Gren­ze (0,6 Pro­zent). Zurück­ge­wie­sen wur­den vor allem Men­schen aus Afgha­ni­stan (2.900) und Syri­en (1.300) – es ist kaum vor­stell­bar, dass so vie­le von ihnen an der Gren­ze kein Asyl­ge­such geäu­ßert haben. Es ist zu befürch­ten, dass die Zah­len an den Gren­zen zu Polen oder Tsche­chi­en künf­tig ähn­lich aus­fal­len werden.

Hohe Schutzquoten für Syrien und Afghanistan

Von den Flücht­lin­gen, die es nach Deutsch­land geschafft und beim BAMF eine inhalt­li­che Asyl­prü­fung erhal­ten haben, hat­ten die­je­ni­gen aus Syri­en und Afgha­ni­stan die bes­ten Chan­cen auf Schutz. Asyl­su­chen­de aus Syri­en erhiel­ten in fast 100 Pro­zent der Fäl­le einen Schutz­sta­tus, es gab nur ver­ein­zelt Ableh­nun­gen. 14 Pro­zent wur­den als Flücht­lin­ge aner­kannt, 86 Pro­zent erhiel­ten den sub­si­diä­ren Schutz, hin­zu kamen noch eini­ge Abschie­bungs­ver­bo­te (weni­ger als 0,5 Prozent).

Aller­dings waren rund 90 Pro­zent der Flücht­lings­an­er­ken­nun­gen von Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen abge­lei­tet, bei­spiels­wei­se für in Deutsch­land gebo­re­ne Babys von seit Jah­ren aner­kann­ten Flücht­lin­gen. Neu ein­rei­sen­de Asyl­su­chen­de aus Syri­en hat­ten also kaum noch eine Chan­ce auf den Flüchtlingsstatus.

Auch Men­schen aus Afgha­ni­stan fan­den fast immer Schutz (99 Pro­zent), wenn das BAMF ihre Asyl­an­trä­ge prüf­te. 45 Pro­zent wur­den als Flücht­lin­ge aner­kannt, drei Pro­zent erhiel­ten sub­si­diä­ren Schutz und 50 Pro­zent ein Abschie­bungs­ver­bot. Etwas mehr als ein Pro­zent wur­den abge­lehnt, Ten­denz aller­dings stei­gend: Im ers­ten Quar­tal 2024 wur­den drei Pro­zent der Schutz­su­chen­den aus Afgha­ni­stan abge­lehnt. Der poli­ti­sche Druck ange­sichts seit Jah­ren hoher Flücht­lings­zah­len scheint sich also auch in der BAMF-Ent­schei­dungs­pra­xis zu Afgha­ni­stan nie­der­zu­schla­gen – der desas­trö­sen Men­schen­rechts­la­ge unter der Ter­ror­herr­schaft der Tali­ban zum Trotz. Immer­hin erkann­te das BAMF Frau­en und Mäd­chen aus Afgha­ni­stan zuneh­mend als GFK-Flücht­lin­ge an, nach­dem eini­ge EU-Staa­ten Afgha­nin­nen als ver­folg­te sozia­le Grup­pe betrach­te­ten und schließ­lich auch die Euro­päi­sche Asyl­agen­tur ihre Aner­ken­nung emp­fahl, anstatt ihnen wie in den Vor­jah­ren zumeist nur Abschie­bungs­ver­bo­te zuzugestehen.

Steigende Türkei-Antragszahlen, Sturzflug der Schutzquote

Die in den letz­ten Jah­ren und ins­be­son­de­re 2023 deut­lich gestie­ge­nen Asyl­zah­len aus der Tür­kei stan­den einer noch restrik­ti­ve­ren BAMF-Ent­schei­dungs­pra­xis und stark gesun­ke­nen Schutz­quo­ten gegen­über. Obwohl sich die men­schen­recht­li­che Lage unter dem Regime Recep Tayyip Erdoğans kei­nes­wegs ver­bes­sert hat, erhiel­ten 2023 nur noch 18 Pro­zent Schutz (meist die Flücht­lings­an­er­ken­nung). Im Jahr 2020 waren es noch fast die Hälf­te und 2022 immer­hin noch mehr als ein Drittel.

Ins­be­son­de­re Kurd*innen waren und sind Leid­tra­gen­de die­ser Pra­xis, die im ver­gan­ge­nen Jahr rund 84 Pro­zent der Asyl­su­chen­den aus der Tür­kei aus­mach­ten. Im Gegen­satz zu Antrags­stel­len­den der tür­ki­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pe, die in rund zwei Drit­tel der Fäl­le vom BAMF Schutz erhiel­ten (65 Pro­zent), lag die Schutz­quo­te für die kur­di­sche Bevöl­ke­rungs­grup­pe aus der Tür­kei bei nur noch sechs Pro­zent (2022: elf Prozent).

Iran: Das BAMF lehnt ab, die Gerichte korrigieren

Ähn­lich restrik­tiv war die Linie gegen­über Schutz­su­chen­den aus dem Iran, obwohl Innen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser ange­sichts der men­schen­recht­lich schwie­ri­gen Lage in dem Land eine Ver­län­ge­rung des Ende 2023 aus­ge­lau­fe­nen Abschie­bungs­stopps unter­stütz­te. Die ihr unter­stell­te Asyl­be­hör­de lehn­te jedoch auch im ver­gan­ge­nen Jahr mehr als die Hälf­te der ira­ni­schen Asyl­su­chen­den ab, nur 45 Pro­zent der Men­schen erhiel­ten Schutz. Im lau­fen­den Jahr setz­te sich die­se Pra­xis in ver­schärf­ter Form fort: Nur noch 39 Pro­zent erhiel­ten im ers­ten Quar­tal 2024 Schutz. Mit der Men­schen­rechts­si­tua­ti­on im Iran ist eine Ableh­nungs­quo­te von mehr als 60 Pro­zent kaum erklärbar.

Die­se restrik­ti­ve BAMF-Linie wird auch von den Ver­wal­tungs­ge­rich­ten kri­tisch gese­hen. Zwar lie­gen uns bis­lang kei­ne amt­li­chen Gerichts­sta­tis­ti­ken für das Jahr 2023 vor. Aber laut per­so­nen­ba­sier­ten Aus­wer­tun­gen des BAMF haben Ver­wal­tungs­ge­rich­te im ver­gan­ge­nen Jahr in 54 Pro­zent der inhalt­lich über­prüf­ten Asyl­kla­gen von Iraner*innen nach­träg­lich einen Schutz­sta­tus zuge­spro­chen, zumeist die vol­le Flücht­lings­an­er­ken­nung. Eine solch ver­hee­ren­de Bilanz ist skan­da­lös und spricht ent­we­der für erheb­li­che Qua­li­täts­män­gel in der Asyl­be­hör­de oder für Ableh­nun­gen aus poli­tisch moti­vier­ten Gründen.

Ein Viertel aller BAMF-Bescheide war rechtswidrig

Auch beim Her­kunfts­land Tür­kei hoben Ver­wal­tungs­ge­rich­te vie­le BAMF-Beschei­de auf und erkann­ten häu­fig die Flücht­lings­ei­gen­schaft nach­träg­lich an: Jeder fünf­te inhalt­lich geprüf­te BAMF-Bescheid erwies sich als falsch und konn­te der gericht­li­chen Über­prü­fung nicht stand­hal­ten. Bezo­gen auf alle Her­kunfts­län­der ergibt die BAMF-Aus­wer­tung, dass 25 Pro­zent der inhalt­li­chen Gerichts­ent­schei­dun­gen zu einem (bes­se­ren) Schutz­sta­tus führ­ten und den ursprüng­li­chen BAMF-Bescheid als falsch und rechts­wid­rig einstuften.

Tau­sen­de Men­schen erhiel­ten also erst durch Kla­gen bei Gericht den ihnen zuste­hen­den Schutz­sta­tus – ange­sichts einer Ver­fah­rens­dau­er von durch­schnitt­lich 21 Mona­ten bei Asyl­kla­gen und den zuvor häu­fig mona­te­lan­gen Asyl­ver­fah­ren sind das oft Jah­re der Unge­wiss­heit, in denen ihnen wich­ti­ge Rech­te wie etwa das auf Fami­li­en­nach­zug vor­ent­hal­ten bleibt.

Mehr Abschiebungen, aber fast doppelt so viele »freiwillige Ausreisen«

Die Zah­len zei­gen: Im Jahr 2023 erhiel­ten die meis­ten Asyl­su­chen­den Schutz vom BAMF und den Gerich­ten und blei­ben dau­er­haft in Deutsch­land. Des­sen unge­ach­tet ziel­ten Maß­nah­men wie das »Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz« dar­auf ab, Men­schen ein­fa­cher abschie­ben zu kön­nen, statt zukunfts­fä­hi­ge Lösun­gen für den Groß­teil der Men­schen anzu­bie­ten, näm­lich denen, die bleiben.

Die Zahl der Abschie­bun­gen ist im letz­ten Jahr aber sogar deut­lich gestie­gen, mit 3.500 um 27 Pro­zent auf 16.400. Den­noch wur­de in poli­ti­schen Debat­ten beklagt, dass sich die Zahl unter dem Niveau vor der Pan­de­mie (22.100) bewegt und es wur­den Zusam­men­hän­ge zu über­las­te­ten Kom­mu­nen hergestellt.

Dabei ist es kei­nes­wegs so, dass der Staat bei Men­schen, die aus­rei­se­pflich­tig sind, immer Zwangs­mit­tel anwen­den muss. Im Gegen­teil: Die Zahl der »frei­wil­li­gen Aus­rei­sen« lag in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer deut­lich höher, als die Zahl der Abschie­bun­gen. Auch im ver­gan­ge­nen Jahr sind laut Ein­gangs­sta­tis­tik der Bun­des­po­li­zei mit 29.600 Men­schen fast dop­pelt so vie­le Men­schen »frei­wil­lig« aus­ge­reist, als abge­scho­ben wurden.

Da vie­le Men­schen sich nicht behörd­lich abmel­den, wenn sie aus­rei­sen, gibt es eine gro­ße Dun­kel­zif­fer und die tat­säch­li­che Zahl der »frei­wil­li­gen Aus­rei­sen« dürf­te noch deut­lich höher sein. Eine ver­meint­lich zu gerin­ge Zahl an Abschie­bun­gen bedeu­tet also nicht, dass Men­schen nicht das Land ver­las­sen, wenn sie aus­rei­sen müssen.

Härtere Abschiebungsgesetze führen vor allem zu mehr Grundrechtseingriffen

Ohne­hin zei­gen bereits fünf »Refor­men« im Bereich Abschie­bun­gen seit 2015, dass immer här­te­re Abschie­bungs­ge­set­ze nicht zu einem Rück­gang der Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen oder zu wesent­lich mehr Abschie­bun­gen füh­ren, son­dern vor allem zu ver­stärk­ten Ein­grif­fen in Frei­heits- und Men­schen­rech­te. Glei­ches ist auch von dem kürz­lich beschlos­se­nen »Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz« zu erwar­ten, das vor allem zu mehr Haft für Men­schen füh­ren wird, die nichts ver­bro­chen haben, außer um Schutz zu bit­ten. Zu einer Ent­las­tung der Kom­mu­nen wird aber auch die­se neu­er­li­che Reform nicht führen.

Abschiebungen oft aus praktischen oder rechtlichen Gründen unmöglich

Das zeigt auch die Zahl der Dul­dun­gen für Per­so­nen mit unge­klär­ter Iden­ti­tät: Knapp 17.300 Men­schen und damit weni­ger als neun Pro­zent der Aus­rei­se­pflich­ti­gen hat­ten Ende 2023 die­se »Dul­dung light«. Ihnen wur­de unter­stellt, dass sie ihre eige­ne Abschie­bung ver­hin­dern. Seit deren Ein­füh­rung im Jahr 2019 beweg­te sich die Zahl immer in die­ser Grö­ßen­ord­nung. Damit ist die immer wie­der sug­ge­rier­te Unter­stel­lung, die Men­schen wür­den sich ihrer Abschie­bung ver­wei­gern, falsch: Die Men­schen kön­nen in den meis­ten Fäl­len schlicht nicht abge­scho­ben werden.

Die Grün­de, war­um Men­schen gedul­det wer­den, sind viel­fäl­tig: 20.900 Men­schen hat­ten wegen fami­liä­ren Bin­dun­gen eine Dul­dung, 2.500 aus medi­zi­ni­schen Grün­den. In über 7.700 Fäl­len lagen »drin­gen­de huma­ni­tä­re oder per­sön­li­che Grün­de« vor, bei­spiels­wei­se die Been­di­gung der Schu­le oder die Betreu­ung kran­ker Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ger. 3.400 Men­schen hat­ten eine Dul­dung wegen eines Abschie­bungs­stopps, 6.400 wegen »ziel­staats­be­zo­ge­nen Abschie­bungs­hin­der­nis­sen«, also wegen dro­hen­der Gefah­ren für Leib und Leben im Her­kunfts­land. Hin­zu kamen 4.100 unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge und 6.100 Men­schen, die eine Dul­dung wegen eines Asyl­fol­ge­an­trags erhiel­ten. Auch 3.800 Men­schen mit Aus­bil­dungs­dul­dung und 1.100 Men­schen mit einer Beschäf­ti­gungs­dul­dung blie­ben aus­rei­se­pflich­tig, trotz Aus­bil­dung oder Arbeit.

Laut den Zah­len des Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ters (AZR) war der häu­figs­te Dul­dungs­grund jedoch »sons­ti­ge Dul­dungs­grün­de« (66.300 Fäl­le). Die Daten­la­ge des AZRs ent­hält dazu aber kei­ne genaue­ren Infor­ma­tio­nen – es kann sich zum Bei­spiel um Men­schen han­deln, die enge ver­wandt­schaft­li­che Bezie­hun­gen zu Per­so­nen mit Auf­ent­halts­recht haben. Ähn­lich ist es bei dem zweit­häu­figs­ten Dul­dungs­grund »feh­len­de Rei­se­do­ku­men­te« (47.000 Fäl­le): Die­se AZR-Kate­go­rie besagt nicht, dass die feh­len­den Rei­se­do­ku­men­te ursäch­lich für die Dul­dung waren. Unter ihnen waren näm­lich tau­sen­de Men­schen aus Afgha­ni­stan, der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on oder Syri­en – also Staa­ten, in die man die Men­schen auch mit Rei­se­do­ku­men­ten nicht hät­te abschie­ben können.

Unterm Strich kann man sagen: Zehn­tau­sen­de Men­schen hat­ten und haben gute, teils sogar zwin­gen­de Grün­de für einen Ver­bleib in Deutsch­land. Man­gels gesetz­li­cher Rege­lun­gen und auf­grund teils äußerst restrik­ti­ver aus­län­der­be­hörd­li­cher Pra­xis hat­ten sie jedoch nur eine Dul­dung und tru­gen so zur hohen Zahl der »Aus­rei­se­pflich­ti­gen« bei. Abschie­bung hin­ge­gen: unmöglich.

Menschenrechtliche Lage in vielen Ländern lässt Abschiebungen nicht zu

Dass For­de­run­gen nach und Geset­ze für mehr Abschie­bun­gen vor allem dem rech­ten Dis­kurs in die Hän­de spie­len, aber in der Sache an der Rea­li­tät vor­bei gehen, unter­streicht auch der Blick auf die Haupt­her­kunfts­län­der der »Aus­rei­se­pflich­ti­gen« und Gedul­de­ten Ende 2023: Irak (24.600), Afgha­ni­stan (14.300), Tür­kei (13.500), Rus­si­sche Föde­ra­ti­on (12.800), Nige­ria (12.700), Syri­en (10.300), Ser­bi­en (9.900) und Iran (9.200).

Grund für aus­blei­ben­de Abschie­bun­gen in sol­che Staa­ten ist nicht, dass Men­schen unter­tau­chen, son­dern die Abschie­bun­gen sind aus men­schen­recht­li­chen Grün­den schlicht unmög­lich. In den Irak, nach Afgha­ni­stan und nach Syri­en waren Abschie­bun­gen durch Beschlüs­se der Kon­fe­renz der Innenminister*innen sogar über Jah­re hin­weg wei­test­ge­hend aus­ge­setzt. Hin­zu kom­men Staa­ten, die nicht bereit sind, Per­so­nen zurückzunehmen.

»Abschie­bun­gen im gro­ßen Stil« sind also gar nicht mög­lich. Mit sol­chen Paro­len soll wohl eine ver­meint­li­che poli­ti­sche Hand­lungs­fä­hig­keit sug­ge­riert wer­den. Aber auch wenn här­te­re Abschie­be­ge­set­ze zu ein paar mehr Abschie­bun­gen füh­ren: Der Preis für die Betrof­fe­nen ist sehr hoch, Kom­mu­nen wer­den dadurch nicht spür­bar ent­las­tet und Gerich­te und Behör­den wer­den zusätz­lich beschäftigt.

Bei den Aus­rei­se­pflich­ti­gen han­delt es sich nicht, wie oft ange­nom­men, nur um Geflüch­te­te, son­dern ein gro­ßer Teil (41 Pro­zent) sind Men­schen, die nie einen Asyl­an­trag gestellt haben.

Nur 59 Prozent der Ausreisepflichtigen sind abgelehnte Asylsuchende

Von den 242.600 Aus­rei­se­pflich­ti­gen Ende 2023 leb­ten 127.100 – also mehr als die Hälf­te – bereits län­ger als vier Jah­re in Deutsch­land, ein Drit­tel (82.900) sogar schon län­ger als sechs Jah­re. Bei den Aus­rei­se­pflich­ti­gen han­delt es sich nicht, wie oft ange­nom­men, nur um Geflüch­te­te, son­dern ein gro­ßer Teil (41 Pro­zent) sind Men­schen, die nie einen Asyl­an­trag gestellt haben. Sie sind bei­spiels­wei­se zum Stu­di­um, zur Arbeit, via Ehe­gat­ten­nach­zug oder mit einem Besuchs­vi­sum nach Deutsch­land ein­ge­reist und nach Ablauf des Auf­ent­halts­ti­tels nicht (recht­zei­tig) aus­ge­reist. Nur rund 142.300 der Aus­rei­se­pflich­ti­gen sind abge­lehn­te Asyl­be­wer­ber (59 Pro­zent), ein sehr gro­ßer Teil von ihnen hat also nie­mals eine Asyl-Unter­kunft bewohnt hat.

Des­we­gen ist es unsin­nig und völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig, auf so vie­le Men­schen, die seit vie­len Jah­ren in Deutsch­land ihren Lebens­mit­tel­punkt gefun­den haben und oft­mals gut inte­griert sind, den Druck zu ver­stär­ken, um am Ende eini­ge weni­ge abschie­ben zu kön­nen. Man soll­te ihnen lie­ber Per­spek­ti­ven anbie­ten, in Deutsch­land ein Leben auf­bau­en zu kön­nen und Teil der Gesell­schaft zu werden.

Nach Jahren erstmals Rückgang der Geduldeten- und Ausreisepflichtigen-Zahlen

Die mit fast einer vier­tel Mil­li­on tat­säch­lich viel zu hohe Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen ist im ver­gan­ge­nen Jahr jedoch – ent­ge­gen aller Paro­len – stark zurück­ge­gan­gen. Dies lag vor allem am Chan­cen-Auf­ent­halts­recht, das seit Anfang letz­ten Jah­res zur Anwen­dung kam.

Ende 2022 lag die Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen näm­lich noch bei 304.300, dar­un­ter 248.100 mit einer Dul­dung. Die­se Zahl ist seit 2012 jähr­lich ange­stie­gen und hat sich in die­sen zehn Jah­ren fast ver­drei­facht – wohl­ge­merkt trotz unzäh­li­ger Abschie­bungs­re­for­men. Im Jahr 2023 hat sich die Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen um 61.700 (20 Pro­zent) redu­ziert, die Zahl der Gedul­de­ten um 54.200  auf 194.000 (22 Prozent).

Dass dies kaum mit den rund 3.500 mehr Abschie­bun­gen im Jahr 2023 zu tun haben kann, liegt auf der Hand. Haupt­ur­säch­lich dafür sind 55.500 Auf­ent­halts­er­laub­nis­se, die nach dem Chan­cen-Auf­ent­halts­recht erteilt wur­den. Durch die­se Rege­lung kön­nen Men­schen mit einer Dul­dung nach vie­len Jah­ren in Deutsch­land und häu­fig sehr guter Inte­gra­ti­on end­lich aus der Aus­rei­se­pflicht her­aus­kom­men. Sol­che Rege­lun­gen kön­nen tat­säch­lich wirk­sam zur Ent­las­tung von Kom­mu­nen bei der Unter­brin­gung bei­getra­gen und sie wer­den vor allem den Men­schen gerecht, die seit Jah­ren bei uns leben und die so leich­ter in Woh­nung und Arbeit finden.

Die meisten abgelehnten Asylbewerber*innen haben einen Aufenthaltstitel

Neben den 142.300 aus­rei­se­pflich­ti­gen abge­lehn­ten Asylbewerber*innen leben in Deutsch­land fast 900.000 abge­lehn­te Asyl­be­wer­ber (Stich­tag: 30. Juni 2023, aktu­el­le­re Zah­len noch nicht vorhanden).

Drei Vier­tel von ihnen (78 Pro­zent) sind jedoch kei­nes­wegs aus­rei­se­pflich­tig, son­dern haben einen recht­mä­ßi­gen Auf­ent­halt. Knapp die Hälf­te hat einen befris­te­ten Auf­ent­halts­sta­tus, 30 Pro­zent haben sogar einen unbe­fris­te­ten. Durch das Chan­cen-Auf­ent­halts­recht hat sich die­se Zahl bis Ende des Jah­res ver­mut­lich noch gestei­gert. Für die meis­ten die­ser Auf­ent­halts­ti­tel, die nach abge­lehn­tem Asyl­an­trag ver­ge­ben wer­den, sind gute Inte­gra­ti­on, die Siche­rung des Lebens­un­ter­halts und jah­re­lan­ger Auf­ent­halt in Deutsch­land zwin­gen­de Voraussetzungen.

Der poli­ti­sche und admi­nis­tra­ti­ve Fokus soll­te sich auf die groß­zü­gi­ge Anwen­dung bestehen­der gesetz­li­cher Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen für die­je­ni­gen rich­ten, deren Abschie­bun­gen über­haupt nicht oder jah­re­lang nicht mög­lich sind. Man­cher­orts geschieht das glück­li­cher­wei­se schon und Aus­län­der­be­hör­den sehen sich als »Dienst­leis­tungs­be­hör­de« oder »Will­kom­mens­be­hör­de« – aber an vie­len Orten steht nach wie vor die Aus­rei­se­pflicht von Men­schen im Vor­der­grund, unge­ach­tet des­sen, dass sie nicht abge­scho­ben wer­den können.

Mehr Sachlichkeit und Menschlichkeit notwendig, um Herausforderungen gerecht zu werden

Ange­sichts welt­weit zuneh­men­der Kri­sen und Kon­flik­te wer­den auch künf­tig Men­schen flie­hen müs­sen. Die meis­ten Ver­trie­be­nen flüch­ten und leben immer noch im Glo­ba­len Süden, aber es wer­den auch vie­le Men­schen nach Euro­pa und Deutsch­land kommen.

Des­we­gen soll­ten wir uns dar­um küm­mern, dass ihre Teil­ha­be an Gesell­schaft und Arbeits­markt gelin­gen kann. Die meis­ten Men­schen, die sich auf eine oft lebens­ge­fähr­li­che Flucht bege­ben und alles hin­ter sich gelas­sen haben, bren­nen dar­auf, ihr neu­es Leben in Deutsch­land auf­zu­bau­en. Dass dies mög­lich ist, zei­gen Zah­len der­je­ni­gen Men­schen, die 2015 ein­ge­reist sind: Die Erwerbs­quo­te der Flücht­lin­ge von 2015 liegt mit 65 Pro­zent sogar über der all­ge­mei­nen Erwerbs­quo­te.

Nur auf Abwehr und Restrik­ti­on set­zen­de Maß­nah­men wie die GEAS-Reform, Kon­trol­len an deut­schen Gren­zen, ein »Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz« oder die Bezahl­kar­te wer­den den Her­aus­for­de­run­gen der welt­wei­ten Flucht­be­we­gun­gen alles ande­re als gerecht. Im Gegen­teil: Sie machen nur die Flucht­we­ge der Men­schen gefähr­li­cher und teu­rer und schaf­fen ein Kon­junk­tur­pro­gramm für »Schlep­per«. Aber sie hal­ten Men­schen kaum davon ab, siche­re Zufluchts­or­te zu suchen.

Es ist absurd und unehr­lich, wie ange­sichts der exis­tie­ren­den und oft dra­ma­ti­schen Flucht­ur­sa­chen der Anschein erweckt wer­den soll, dass durch ord­nungs­po­li­ti­sche Maß­nah­men Flucht­be­we­gun­gen gesteu­ert wer­den könn­ten. Flucht ist in unse­rer glo­ba­li­sier­ten Welt zur trau­ri­gen Nor­ma­li­tät gewor­den. Abschot­tung um jeden Preis wird daher nicht vor Flucht schüt­zen, son­dern allein vor siche­rer Zuflucht.

Des­we­gen soll­ten wir uns für siche­re Zufluchts­or­te für schutz­su­chen­de Men­schen und deren Teil­ha­be an dem hie­si­gen gesell­schaft­li­chen Leben ein­set­zen. Laut­star­ke Paro­len und ver­meint­lich ein­fa­che Lösun­gen hel­fen nie­man­dem wei­ter, son­dern sind eine Gefahr für uns alle: Sie füh­ren dazu, dass die Gül­tig­keit der Men­schen­rech­te für alle in Fra­ge gestellt wird. Ange­sichts einer sol­chen Gefahr soll­ten wir für ein paar Flücht­lin­ge weni­ger und ein paar Abschie­bun­gen mehr nicht wei­ter an ihnen rum­sä­beln. Die Men­schen­rech­te sind uni­ver­sell und müs­sen das auch bleiben.

(dmo)