30.04.2014

Im Kabi­nett ist heu­te der „Ent­wurf eines Geset­zes zur Ein­stu­fung wei­te­rer Staa­ten als siche­re Her­kunfts­staa­ten und zur Erleich­te­rung des Arbeits­markt­zu­gangs für Asyl­be­wer­ber und gedul­de­te Aus­län­der“ bera­ten wor­den. Bos­ni­en und Her­ze­go­wi­na, Maze­do­ni­en und Ser­bi­en sol­len als siche­re Her­kunfts­staa­ten im Sin­ne des Asyl­ver­fah­rens­ge­set­zes ein­ge­stuft werden.

In einem heu­te ver­öf­fent­lich­ten Rechts­gut­ach­ten äußert sich der Asyl­rechts­exper­te Dr. Rein­hard Marx kri­tisch zum metho­di­schen Vor­ge­hen der Bun­des­re­gie­rung. Es feh­le an einer Aus­ein­an­der­set­zung mit den ver­fas­sungs­recht­li­chen Kri­te­ri­en für die Ein­stu­fung von Staa­ten als sicher. Auch Vor­ga­ben des EU-Rechts wür­den aus­ge­blen­det. Ins­ge­samt schei­ne die Ana­ly­se der Bun­des­re­gie­rung zur Lage in den angeb­lich siche­ren Her­kunfts­staa­ten „ver­harm­lo­send und irre­füh­rend“. Es wer­de der uni­ons­recht­lich rele­van­te Rechts­maß­stab nicht berücksichtigt.

Der Gesetz­ge­ber sei ver­pflich­tet, eine gründ­li­che anti­zi­pier­te Tat­sa­chen- und Beweis­wür­di­gung der ver­füg­ba­ren Quel­len vor­zu­neh­men, wenn er einen Staat als sicher lis­ten wol­le. Eine Aus­ein­an­der­set­zung mit den ver­füg­ba­ren Quel­len fin­de jedoch nicht wirk­lich statt. Auf die kon­kre­te Situa­ti­on in den drei Bal­kan­staa­ten bezo­gen fasst Marx zusam­men: „Den Gesetz­ge­ber trifft eine beson­de­re Sorg­falts­pflicht, wenn er ehe­mals dik­ta­to­ri­sche oder tota­li­tär regier­te Staa­ten zu „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ bestim­men will, wie dies bei allen Staa­ten des West­bal­kans der Fall ist. Gera­de die Behand­lung von Min­der­hei­ten in die­sen Staa­ten zeigt, wie fra­gil einer­seits gesell­schaft­li­che und staat­li­che Struk­tu­ren und wie lang­le­big ande­rer­seits gesell­schaft­lich über­kom­me­ne und von Sei­ten füh­ren­der Ver­tre­ter von Gesell­schaft und Staat instru­men­ta­li­sier­te Hal­tung von Into­le­ranz und Hass fort­wir­ken, ja sogar weit­aus wirk­mäch­ti­ger sind als in frü­he­ren dik­ta­to­risch regier­ten Zeiten.“

Mit dem Rechts­gut­ach­ten zusam­men ver­öf­fent­licht PRO ASYL eine umfas­sen­de Aus­wer­tung men­schen­recht­li­cher Quel­len zur Situa­ti­on in Ser­bi­en, Maze­do­ni­en und Bos­ni­en. Ver­fas­se­rin ist die Bal­kan­ex­per­tin Dr. Karin Warin­go, die unter ande­rem Berich­te des Men­schen­rechts­kom­mis­sars des Euro­pa­ra­tes, des US-Außen­mi­nis­te­ri­ums, der OSZE, der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on, der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on gegen Ras­sis­mus und Into­le­ranz, dar­über hin­aus Berich­te von Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen und Medi­en­be­rich­te zu ein­zel­fall­be­zo­ge­nen Vor­komm­nis­sen aus­ge­wer­tet hat.

Beson­ders pre­kär ist in allen drei Staa­ten die Situa­ti­on der Roma, die die EU-Kom­mis­si­on zu den am meis­ten dis­kri­mi­nier­ten Grup­pen zählt, die oft Het­ze und Ein­schüch­te­rungs­ver­su­chen aus­ge­setzt seien.

Roma haben etwa in Maze­do­ni­en eine Lebens­er­war­tung, die zehn Jah­re unter der der Gesamt­be­völ­ke­rung liegt. Die Kin­der­sterb­lich­keit bei Roma-Kin­dern ist mehr als dop­pelt so hoch im Ver­gleich zur Gesamt­be­völ­ke­rung. Dis­kri­mi­nie­rung und Aus­gren­zung schla­gen teil­wei­se in Lebens­ge­fahr um, wenn etwa der Zugang zu ärzt­li­chen Not­diens­ten nicht gewähr­leis­tet ist.

Aus dem Regie­rungs­la­ger sind seit Beginn der Legis­la­tur­pe­ri­ode Stim­men zu hören, Roma-Flücht­lin­ge aus den Bal­kan­staa­ten kämen nur aus wirt­schaft­li­chen Grün­den. Wer exis­tenz­ge­fähr­den­de Armut nicht als Flucht­grund akzep­tie­ren möch­te, der soll­te aller­dings zur Kennt­nis neh­men, dass euro­päi­sches Recht einen durch­aus wei­ter gefass­ten Begriff der Ver­fol­gung beinhal­tet, so etwa in Arti­kel 9 der EU-Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie. Danach kön­nen sich auch Dis­kri­mi­nie­run­gen und Aus­gren­zun­gen, die jede für sich genom­men noch nicht als Ver­fol­gung anzu­se­hen sind, in ihrem Zusam­men­wir­ken als Ver­fol­gung dar­stel­len. Wenn Roma kei­nen Zugang zu sau­be­rem Trink­was­ser, zu Bil­dung, zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung haben, ihre Sied­lun­gen zwangs­ge­räumt wer­den und dies alles im Zusam­men­wir­ken mas­si­ve Fol­gen hat, dann kann dies kumu­la­ti­ve Ver­fol­gung dar­stel­len. Jeden­falls ist eine ein­zel­fall­be­zo­ge­ne Betrach­tung in einem sorg­fäl­ti­gen und indi­vi­du­el­len Asyl­ver­fah­ren nötig. Die geplan­te Ein­stu­fung der drei Bal­kan­staa­ten ver­hin­dert jedoch genau die­se ein­zel­fall­be­zo­ge­ne Auf­klä­rung der Fluchtgründe.

Wer die men­schen­recht­li­chen mas­si­ven Defi­zi­te in den Staa­ten des west­li­chen Bal­kans igno­riert und baga­tel­li­siert wie die Bun­des­re­gie­rung, der kon­ter­ka­riert auch erklär­te Zie­le der EU. Die­se will ja gera­de im Rah­men eines lang­fris­tig ange­leg­ten Sta­bi­li­sie­rungs- und Asso­zi­ie­rungs­pro­zes­ses auch in den Bal­kan­staa­ten die Durch­set­zung der Ach­tung von Men­schen- und Min­der­hei­ten­rech­ten errei­chen. Der Stär­kung der Rechts­staat­lich­keit und der Gewähr­leis­tung der frei­en Mei­nungs­äu­ße­rung in den West­bal­kan­staa­ten leis­tet man kei­nen guten Dienst, wenn man die­se Staa­ten jetzt als „sicher“ erklärt und damit de fac­to eine gan­ze Regi­on als demo­kra­tisch kon­so­li­diert erklärt.

Die Ein­stu­fung als siche­re Her­kunfts­staa­ten erfor­dert, dass eine gewis­se Sta­bi­li­tät und hin­rei­chen­de Kon­ti­nui­tät der Ver­hält­nis­se bereits ein­ge­tre­ten ist und des­halb weder Ver­fol­gungs­hand­lun­gen noch unmensch­li­che und ernied­ri­gen­de Behand­lung oder Bestra­fung statt­fin­den. Hun­der­te von Bele­gen zei­gen, dass ein sol­ches Gesamt­ur­teil bezüg­lich der in Über­gangs­pro­zes­sen befind­li­chen West­bal­kan­staa­ten nicht getrof­fen wer­den kann.

PRO ASYL appel­liert des­halb an den Deut­schen Bun­des­tag, dem Geset­zes­vor­ha­ben die Zustim­mung zu verweigern.

Zusam­men­fas­sung des Rechtsgutachtens

Voll­stän­di­ge Ver­si­on des Gut­ach­tens (PDF)

Die voll­stän­di­ge Ver­si­on ent­hält das Rechts­gut­ach­ten zur Fra­ge, ob nach Uni­ons- und Ver­fas­sungs­recht die recht­li­che Ein­stu­fung von Ser­bi­en, Maze­do­ni­en und Bos­ni­en und Her­ze­go­wi­na zu „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ zuläs­sig ist und das Gut­ach­ten zur fak­ti­schen Men­schen­rechts­si­tua­ti­on in Ser­bi­en, Maze­do­ni­en und Bos­ni­en und Herzegowina. 

 Von wegen „siche­re Her­kunfts­staa­ten“ (04.06.14)

 Gesetz­ent­wurf zu siche­ren Her­kunfts­staa­ten: „ver­harm­lo­send und irre­füh­rend“ (30.04.14)

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