18.12.2021

Die Situa­ti­on in Bela­rus ist für schutz­su­chen­de Men­schen wei­ter­hin uner­träg­lich. Den Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen und PRO ASYL errei­chen immer mehr Hil­fe­ru­fe von ver­zwei­fel­ten Ange­hö­ri­gen aus Deutsch­land, deren Ver­wand­te in Bela­rus fest­ste­cken. Wir stel­len zwei Ein­zel­fäl­le vor.

PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen for­dern eine sofor­ti­ge Auf­nah­me der Schutz­su­chen­den, die in Bela­rus gestran­det sind. Da der Zugang von inter­na­tio­na­len Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen, Aktivist*innen und Journalist*innen kaum mehr mög­lich ist, ist eine eili­ge Ent­schei­dung not­wen­dig, um die Kata­stro­phe abzu­wen­den und Men­schen­le­ben zu ret­ten. Es braucht jetzt umge­hend eine poli­ti­sche Lösung, noch vor Weihnachten.

„Wir erwar­ten, dass Kanz­ler Scholz die Lei­se­tre­te­rei und die Poli­tik der still­schwei­gen­den Tole­rie­rung der Aus­set­zung des Rechts­staa­tes an den EU-Gren­zen been­det“, for­dert Gün­ter Burk­hardt, Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL. Die Koali­ti­on hat sich im Koali­ti­ons­ver­trag dazu bekannt, ihre Wer­te und ihre Rechts­staat­lich­keit nach innen wie außen zu schüt­zen und ent­schlos­sen für sie ein­zu­tre­ten – das muss sie nun umge­hend tun.

Das Nach­rich­ten­ma­ga­zin Der Spie­gel doku­men­tiert in sei­ner neu­es­ten Aus­ga­be das Leben und den Tod von 17 Geflüch­te­ten an der EU-Gren­ze zu Bela­rus. „An den Gren­zen Euro­pas wird euro­päi­sches Recht gebro­chen. Es ist nicht ver­ständ­lich, war­um Euro­pa die Men­schen im Wald ver­hun­gern und erfrie­ren lässt, anstatt sie auf­zu­neh­men. Wür­de Deutsch­land sich zur Auf­nah­me der Men­schen bereit erklä­ren, so wäre Lukaschen­kos Druck­mit­tel demon­tiert“, kom­men­tiert Aigün Hirsch vom Flücht­lings­rat Niedersachsen.

Rechts­wid­ri­ge Abschie­bun­gen wer­den zur Realität

Nach­dem Lukaschen­ko finan­zi­el­le Unter­stüt­zung für Bela­rus for­der­te, kün­dig­te die EU an, 700.000 Euro für huma­ni­tä­re Hil­fe zu gewäh­ren. Zusätz­lich sol­len 3,5 Mil­lio­nen Euro für die Rück­rei­se der gestran­de­ten Men­schen über die Uno-Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen bereit­stellt wer­den. Die­ses als „Rück­rei­se“ beschrie­be­ne Pro­ze­de­re beschreibt fak­tisch die von Euro­pa finan­zier­te Abschie­bung in die Hei­mat­län­der – rechts­wid­ri­ge Abschie­bun­gen in die Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­te, wie Syri­en oder dem Irak wer­den somit zur Realität.

Eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung sieht Burk­hardt für alle Schutz­su­chen­den, bei denen beson­de­re Bezie­hun­gen zu Deutsch­land bestehen, zum Bei­spiel auf­grund fami­liä­rer Bezü­ge. „Die­ser Gesichts­punkt ist bis­her in der Poli­tik über­haupt nicht wahr­ge­nom­men wor­den“, sagt er. Dem Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen lie­gen hier­zu zwei kon­kre­te Ein­zel­fäl­le vor.

Fall 1: 71-jäh­ri­ger Syrer wird Zeu­ge vom Tod sei­ner Begleiterin

Mus­ta­fa B.* ist Ende Sep­tem­ber nach Bela­rus ein­ge­reist. In sei­nem Hei­mat­land Syri­en droht ihm Haft. Sein Sohn lebt in Lüne­burg. Der 71-jäh­ri­ge ist, wie so vie­le, als poli­ti­scher Flücht­ling mit einem Tou­ris­ten­vi­sum nach Bela­rus gereist. Man sag­te ihm, von dort wer­de er leicht nach Euro­pa wei­ter­rei­sen können.

Bereits weni­ge Tage nach sei­ner Ein­rei­se fand er sich gemein­sam mit einer syri­schen Frau und einem jün­ge­ren syri­schen Mann, die er bei­de auf der Flucht ken­nen­lern­te, in der pol­nisch-bela­rus­si­schen mili­tä­ri­schen Grenz­zo­ne mit­ten im Wald wie­der. Die pol­ni­schen Grenz­be­am­ten dräng­ten die Schutz­su­chen­den in die Hän­de der bela­rus­si­schen Grenz­schüt­zer, die dann wie­der­um die Schutz­su­chen­den an der Rück­rei­se nach Bela­rus hin­der­ten. Die bela­rus­si­sche Armee rief ihnen zu: „Ent­we­der gehen Sie nach Polen oder Sie wer­den im Wald sterben.“

Die Frau, mit der Mus­ta­fa reis­te, war stark ent­kräf­tet. Von Tag zu Tag bau­te sie wei­ter ab. Als Mus­ta­fa und der mit­rei­sen­de Syrer nach medi­zi­ni­scher Not­hil­fe für die Frau bei den bela­rus­si­schen Sicher­heits­kräf­ten frag­ten, wur­den sie ernied­rigt, aus­ge­lacht und gewalt­sam zurück­ge­drängt. Schließ­lich starb die Frau auf­grund der ver­wei­ger­ten medi­zi­ni­schen Not­ver­sor­gung und Ein­sper­rung im Grenzgebiet.

Im Zuge des Abtrans­ports der ver­stor­be­nen Frau gelang­te Mus­ta­fa wie­der nach Minsk.  Nach den schwe­ren und trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen sitzt er dort nun fest und war­tet dar­auf, dass die Bun­des­re­gie­rung ihm die Mög­lich­keit gibt, zu sei­nem Sohn nach Nie­der­sach­sen zu zie­hen. Sei­ne Hab­se­lig­kei­ten und Doku­men­te ver­lor er im Cha­os im Wald. Sein gesund­heit­li­cher Zustand ist mitt­ler­wei­le sehr kritisch.

Fall 2: 57-jäh­ri­ge Frau mit Alz­hei­mer ist in Lager­hal­le eingesperrt

Was­si­la A.* muss­te bereits mehr­fach inner­halb Syri­ens flüch­ten, und als sich schließ­lich die Gele­gen­heit bot, nach  Bela­rus zu gelan­gen, ergriff sie die­se Chan­ce. Man sag­te ihr, sie kön­ne von Minsk aus nach Deutsch­land wei­ter­rei­sen, um zu ihren in Deutsch­land leben­den zwei Kin­dern zu kom­men. Was­si­la lei­det an Alz­hei­mer-Demenz, einer unheil­ba­ren Stö­rung des Gehirns. Sie ist zuneh­mend ver­gess­lich, ver­wirrt und ori­en­tie­rungs­los und ist in einer der für gestran­de­te Geflüch­te­te errich­te­ten Lager­hal­le mit cir­ca zwei­tau­send wei­te­ren Schutz­su­chen­den in Bela­rus ein­ge­sperrt. Sie ist nach ihrer Nie­ren­trans­plan­ta­ti­on lebens­lang auf Medi­ka­men­te und regel­mä­ßi­ge Unter­su­chun­gen ange­wie­sen, ohne die sie nicht über­le­ben wür­de. Die Ver­sor­gung in der Lager­hal­le ist jedoch kata­stro­phal. Die bela­rus­si­schen Sicher­heits­kräf­te fuh­ren sie zu einem Kran­ken­haus, in dem ihr Medi­ka­men­te für ledig­lich 20 Tage gege­ben wur­den. Ob sie ein zwei­tes Mal Medi­ka­men­te bekom­men wird, wur­de ihr bis­her nicht bestä­tigt. Viel­mehr wird ihr von den Sicher­heits­kräf­ten ein Trans­port zurück zu der pol­nisch-bela­rus­si­schen Grenz­zo­ne ange­bo­ten, wo tau­sen­de von Men­schen im Wald in der Käl­te aus­har­ren in der Hoff­nung, in der EU  Schutz zu finden.

Der voll­jäh­ri­ge Sohn und die voll­jäh­ri­ge Toch­ter von Was­si­la leben bereits seit meh­re­ren Jah­ren in Deutsch­land und sind die wich­tigs­ten – und ein­zi­gen! – Bezugs­per­so­nen, die sie durch die Alz­hei­mer-Demenz-Zeit beglei­ten kön­nen. Nun machen sie sich gro­ße Sor­gen, ob ihre Mut­ter die not­wen­di­gen Medi­ka­men­te erhält – denn jeder wei­te­re Tag in die­ser Lager­hal­le ist mit einem gro­ßen Risi­ko ver­bun­den und könn­te sie das Leben kosten.

Zusätz­lich droht das bela­rus­si­sche Per­so­nal in der Lager­hal­le den Schutz­su­chen­den, dass sie ent­we­der abge­scho­ben oder ins Grenz­ge­biet gebracht wür­den. Die Men­schen wer­den so gezielt in Panik versetzt.

Men­schen­ver­ach­ten­des Ping-Pong-Spiel auf dem Rücken Schutzsuchender

In den letz­ten Wochen hat die EU kei­ne ernst­haf­ten Schrit­te unter­nom­men, um  dafür zu sor­gen, dass  die Men­schen­rech­te an der Gren­ze gewahrt wer­den. Die bela­rus­si­sche Regie­rung lässt die schutz­su­chen­den Men­schen, dar­un­ter Fami­li­en mit Kin­dern und alte Men­schen, auf die pol­ni­sche Sei­te der Gren­ze brin­gen und sie im Grenz­ge­biet unter lebens­ge­fähr­li­chen Tem­pe­ra­tu­ren im Wald aus­har­ren – für man­che mit töd­li­chem Ende. Die bela­rus­si­schen Grenz­schüt­zer trei­ben die Schutz­su­chen­den auf die pol­ni­sche Sei­te der Gren­ze, wo sie von pol­ni­schen Grenz­schüt­zern wie­der­um zurück­ge­trie­ben wer­den – „ein men­schen­ver­ach­ten­des Ping-Pong-Spiel“, kom­men­tiert Gün­ter Burk­hardt die­se Praxis.

Wäh­rend die EU wei­te­re Sank­tio­nen für Bela­rus dis­ku­tiert, nutzt Lukaschen­ko Geflüch­te­te als poli­ti­sches Druck­mit­tel gegen­über der Euro­päi­schen Uni­on. Die pol­ni­sche Regie­rung reagiert mit ille­ga­len Push­backs und wen­det mas­si­ve Gewalt an, um die Men­schen am Grenz­über­tritt zu hin­dern. Rechts­staat­li­che Ver­fah­ren wer­den ihnen ver­wei­gert. „Was vor weni­gen Jah­ren noch Fan­ta­sien einer Min­der­heit rech­ter Akteur*innen waren, ist Rea­li­tät gewor­den“, sagt Aigün Hirsch. Den­noch lässt der öffent­li­che Auf­schrei auf sich war­ten. Im Gegen­teil – vie­le euro­päi­sche Politiker*innen loben den pol­ni­schen Grenz­schutz; Euro­pa wer­de ver­tei­digt. Auch der neue Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz hat Polen Soli­da­ri­tät zugesichert.

Sug­ge­riert wird, es wäre eine Kata­stro­phe, wenn eini­ge tau­send Men­schen nach Euro­pa ein­rei­sen wür­den. Geflüch­te­te wer­den zu einer Bedro­hung gemacht.

PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen for­dern die neue Bun­des­re­gie­rung auf, klar Par­tei zu ergrei­fen für die schutz­su­chen­den Men­schen und die Rechts­staat­lich­keit. Die Ampel-Koali­ti­on darf die Ver­ant­wor­tung Polens an den men­schen­ver­ach­ten­den und rechts­wid­ri­gen Prak­ti­ken nicht län­ger klein­re­den, son­dern muss umge­hend eine poli­ti­sche Lösung fin­den, die den Zie­len des Koali­ti­ons­ver­trags Rech­nung trägt.

(* Namen wur­den geändert)

Wei­ter­füh­ren­de Informationen: 

Spie­gel-Bericht vom 17.12.2021: 17 Men­schen star­ben an der pol­ni­schen Gren­ze – das sind ihre Geschichten.

PRO ASYL, 02.12.2021: »Son­der-Asyl­recht« für ost­eu­ro­päi­sche Grenz­staa­ten sowie Inter­view mit der pol­ni­schen Anwäl­tin Mar­ta Górc­zyńs­ka: „Eine Poli­tik, die Men­schen ein­fach ster­ben lässt“.

Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen, 03.12.2021: Bericht des Anti-Fol­ter-Komi­tees des Euro­pa­ra­tes zu kroa­ti­schen Pushbacks.

Pres­se­kon­takt:

Aigün Hirsch, 0511 / 98 24 60 36 | ah(at)nds-fluerat.org

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