17.01.2024

PRO ASYL: „Ein trau­rig bit­te­rer Erfolg nach über neun Jahren“

Wegen des Todes eines syri­schen Fami­li­en­va­ters ist Grie­chen­land ges­tern in einem von PRO ASYL unter­stütz­ten Ver­fah­ren vom Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) ver­ur­teilt wor­den. Der Mann hat­te im Sep­tem­ber 2014 einen Kopf­schuss erlit­ten, als die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che das Feu­er auf das Flücht­lings­boot eröff­ne­te, auf dem er sich befand. Das Urteil belegt erneut, wie die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che im Umgang mit Schutz­su­chen­den sys­te­ma­tisch schwers­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen begeht, ohne Kon­se­quen­zen durch die grie­chi­sche Jus­tiz fürch­ten zu müssen.

Ein Beam­ter der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che hat­te am 22. Sep­tem­ber 2014 in der Nähe der grie­chi­schen Insel Pse­ri­mos ins­ge­samt drei­zehn Schüs­se auf ein Flücht­lings­boot abge­ge­ben, als die­ses nicht anhielt. Der syri­sche Fami­li­en­va­ter Bel­al Tel­lo wur­de von einer Kugel am Kopf getrof­fen, ein wei­te­rer Syrer an der Schul­ter. Nach meh­re­ren Mona­ten im künst­li­chen Koma wur­de Bel­al Tel­lo mit Unter­stüt­zung von PRO ASYL nach Schwe­den aus­ge­flo­gen, wohin sei­ne Ehe­frau mit den bei­den gemein­sa­men Kin­dern – zum Zeit­punkt des Vor­falls zwei und drei Jah­re alt – zwi­schen­zeit­lich geflo­hen war. Dort erlag er im Dezem­ber 2015 sei­nen Verletzungen.

Ein vor­läu­fi­ges Ermitt­lungs­ver­fah­ren, was von der zustän­di­gen Staats­an­walt­schaft gegen die Beam­ten der Küs­ten­wa­che ein­ge­lei­tet wor­den war, wur­de im Juni 2015 ein­ge­stellt. Mari­an­na Tze­fera­kou, Rechts­an­wäl­tin bei »Refu­gee Sup­port Aege­an« (RSA), der grie­chi­schen Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on von PRO ASYL, hat dar­auf­hin im Dezem­ber 2015 im Namen der Wit­we Douaa Alk­ha­tib und der bei­den Kin­der von Bel­al Tel­lo Beschwer­de beim EGMR eingereicht.

Urteil bringt spä­te Gerechtigkeit

Der Gerichts­hof hat der Wit­we und den Kin­dern am Diens­tag in allen Punk­ten Recht gege­ben, ihnen eine Ent­schä­di­gung in Höhe von 80.000 Euro zuge­spro­chen und Grie­chen­land wegen eines Ver­sto­ßes gegen Arti­kel 2 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (Recht auf Leben) ver­ur­teilt (Alk­ha­tib und Ande­re gegen Grie­chen­land, 3566/16). Kon­kret stell­te der Gerichts­hof unter ande­rem fest, dass der Schuss­waf­fen­ein­satz nicht gerecht­fer­tigt war und die Küs­ten­wa­che über­mä­ßi­ge Gewalt ange­wen­det hat. Dar­über hin­aus rüg­te das Gericht, dass die Ermitt­lun­gen der grie­chi­schen Behör­den zu dem Vor­fall unzu­rei­chend waren und gra­vie­ren­de Män­gel auf­wei­sen, was unter ande­rem zum Ver­lust von Beweis­mit­teln geführt hat.

Karl Kopp, Lei­ter der Euro­pa­ab­tei­lung und Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL, kom­men­tiert: »Das Straß­bur­ger Urteil ist für die Ange­hö­ri­gen von Bel­al Tel­lo und für uns nach über neun Jah­ren ein trau­rig bit­te­rer Erfolg. Das Urteil reiht sich ein in eine gan­ze Ket­te von Fäl­len, in denen die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che schutz­su­chen­de Men­schen miss­han­delt oder gar ihren Tod bil­li­gend in Kauf nimmt. Das ist auch der Hin­ter­grund der unter­las­se­nen Lebens­ret­tung mit mehr als 600 Toten bei dem schreck­li­chen Schiffs­un­glück im Juni 2023 vor der Stadt Pylos. Dass gegen die Beamt*innen der Küs­ten­wa­che nicht ernst­haft ermit­telt wird, son­dern die Ver­fah­ren gra­vie­ren­de Män­gel auf­wei­sen und in aller Regel ein­ge­stellt wer­den, offen­bart ein mas­si­ves Rechts­staats­pro­blem in Grie­chen­land. Das EU-Mit­glieds­land ver­letzt sys­te­ma­tisch und schwer­wie­gen­den die EU-Wer­te. Die Ein­lei­tung eines Rechts­staats­ver­fah­rens der EU gegen Grie­chen­land ist über­fäl­lig. Dar­über hin­aus braucht es ange­sichts der schwer­wie­gen­den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Straf­ta­ten von Uni­for­mier­ten eine unab­hän­gi­ge Kon­trol­le des Grenz­schut­zes – nicht nur in Griechenland.«

Hin­ter­grund

Erst im Juli 2022 hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te Grie­chen­land in einem weg­wei­sen­den Urteil wegen des Todes von elf Schutz­su­chen­den vor der Insel Farm­a­ko­ni­si im Rah­men einer Push­back-Ope­ra­ti­on der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che im Janu­ar 2014 in allen zen­tra­len Punk­ten ver­ur­teilt. Das Ver­fah­ren wur­de von PRO ASYL unterstützt.

Im Sep­tem­ber 2023 hat RSA eine Stel­lung­nah­me an den Euro­pa­rat ver­öf­fent­licht. Dar­in wer­den meh­re­re Fäl­le von RSA und PRO ASYL auf­ge­lis­tet, die die Sys­te­ma­tik schwers­ter Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che im Umgang mit Schutz­su­chen­den bele­gen. In drei die­ser Fäl­le sind aktu­ell Beschwer­den vor dem EGMR anhän­gig (Almukh­las und Al-Malik gegen Grie­chen­land, 22776/18; Alnas­sar gegen Grie­chen­land, 43746/20; F.M und Ande­re gegen Grie­chen­land, 17622/21). Wei­te­re Ver­fah­ren sind noch bei grie­chi­schen Behör­den und Gerich­ten anhängig.

Im Fall des Schiffs­un­glücks vor der Stadt Pylos am 14. Juni 2023 haben RSA und PRO ASYL gemein­sam mit ande­ren grie­chi­schen Orga­ni­sa­tio­nen im Namen von 40 Über­le­ben­den im Sep­tem­ber 2023 Beschwer­de beim Mari­n­ege­richt in Pirä­us ein­ge­reicht. Eine Ent­schei­dung der zustän­di­gen Staats­an­wäl­tin steht noch aus.

PRO ASYL hat zudem im Mai 2022 eine umfang­rei­che Stu­die mit her­aus­ge­ge­ben, in der Wege für eine unab­hän­gi­ge Kon­trol­le des Grenz­schut­zes an den EU-Außen­gren­zen vor­ge­schla­gen werden.

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