07.11.2023

Laut Medi­en­be­rich­ten haben Bun­des­kanz­ler Scholz und die Ministerpräsident*innen in der ver­gan­ge­nen Nacht einen gan­zen Kata­log mit ver­schär­fen­den Maß­nah­men in der Asyl­po­li­tik getrof­fen: Einen län­ge­ren Bezug von Leis­tun­gen nach dem dis­kri­mi­nie­ren­den und ver­fas­sungs­recht­lich frag­wür­di­gen Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, die Ein­füh­rung einer Bezahl­kar­te statt Bar­geld, Ver­län­ge­rung der Grenz­kon­trol­len und vor allem eine ernst­haf­te Prü­fung der hoch umstrit­te­nen Aus­la­ge­rung von Asyl­ver­fah­ren an außer­eu­ro­päi­sche Staaten. 


Zu den sozi­al­recht­li­chen Verschärfungen

„Die beschlos­se­ne Ver­län­ge­rung gekürz­ter Sozi­al­leis­tun­gen für Geflüch­te­te ist nichts ande­res als ein poli­ti­scher Tritt nach unten – mit bei­fall­hei­schen­dem Blick auf die ver­un­si­cher­ten und res­sen­ti­ment­ge­la­de­nen Tei­le der Bevöl­ke­rung“, kom­men­tiert Tareq Alaows, flücht­lings­po­li­ti­scher Spre­cher von PRO ASYL. „Mit Blick auf die Men­schen­wür­de in unse­rer Ver­fas­sung ist dies ein beschä­men­der Schritt – zumal die beschlos­se­ne Ände­rung an den aktu­el­len Flücht­lings­zah­len abseh­bar über­haupt nichts ändern wird.“

Mit dem Kür­zungs­be­schluss igno­rie­ren die Ministerpräsident*innen von Bund und Län­dern auch die Exper­ti­se und ein­mü­ti­ge Ein­schät­zung von Fach­or­ga­ni­sa­tio­nen. Die Kür­zun­gen sind in ver­fas­sungs­recht­li­cher Hin­sicht frag­lich und zeu­gen von Empa­thie­lo­sig­keit und Unkennt­nis der Lebens­rea­li­tät geflüch­te­ter Men­schen. Über 150 Fach­ver­bän­de und sozia­le Orga­ni­sa­tio­nen hat­ten sich Anfang Novem­ber gemein­sam gegen Kür­zun­gen am Exis­tenz­mi­ni­mum aus­ge­spro­chen und statt­des­sen für die sozi­al­recht­li­che Gleich­stel­lung Geflüch­te­ter gewor­ben. PRO ASYL kri­ti­siert Kür­zun­gen am Exis­tenz­mi­ni­mum als Angriff auf die Men­schen­wür­de.

Wer Inte­gra­ti­on erwar­tet, tut sich kei­nen Gefal­len damit, ankom­men­de Geflüch­te­te lan­ge Zeit erst ein­mal vor den Kopf zu sto­ßen und ihnen zu signa­li­sie­ren, dass sie nicht erwünscht sind, indem man sie mit gerin­ge­ren Sozi­al­leis­tun­gen aus­grenzt. Die wei­te­re Kür­zung der monat­li­chen Leis­tun­gen, schließt Geflüch­te­te von Maß­nah­men oder Leis­tun­gen aus, die für ihr Leben essen­ti­ell sind. Der ver­län­ger­te Aus­schluss von Ana­log­leis­tun­gen zum Bür­ger­geld schließt Men­schen von Maß­nah­men zur Vor­be­rei­tung und Ein­glie­de­rung in den Arbeits­markt aus und behin­dert ihre Ver­mitt­lung in Arbeits- und Aus­bil­dungs­stel­len. Zudem wird ihnen im Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz eine ange­mes­se­ne Gesund­heits­ver­sor­gung ver­wehrt, die für Asylbewerber*innen, die oft trau­ma­ti­sche Gewalt im Her­kl­unfts­land oder auf der Flucht erlei­den muss­ten, von erheb­li­che Bedeu­tung sind. „Wenn die Bun­des­re­gie­rung es mit dem Arbeits­markt­in­te­gra­ti­on ernst meint, dann sind die­se Kür­zun­gen der fal­sche Weg. Statt­des­sen müs­sen alle Arbeits­ver­bo­te auf­ge­ho­ben und die unter­stüt­zen­den Maß­nah­men aus­ge­wei­tet wer­den“, so Tareq Alaows.

Die Erfah­run­gen der Ver­gan­gen­heit haben gezeigt, dass Kür­zung von Sozi­al­leis­tung und der Umstieg auf mehr Sach­leis­tun­gen für die Kom­mu­nen kei­nen posi­ti­ven Effekt, dafür aber vie­le nega­ti­ve Fol­gen haben: Men­schen wer­den durch Sach­leis­tun­gen ent­wür­digt und gede­mü­tigt, aber nicht von der Flucht vor Krieg und Ver­trei­bung oder der Obdach­lo­sig­keit in ande­ren Tei­len Euro­pas abge­hal­ten. Wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chun­gen, wie zum Bei­spiel die des Bun­des­am­tes, zei­gen: Das Vor­han­den­sein von Rechts­staat­lich­keit, Freun­den und Fami­lie oder die Arbeits­markt­be­din­gun­gen sind Fak­to­ren für den Ziel­ort einer Flucht. Sozi­al­leis­tungs­sys­te­me dage­gen wir­ken sich nicht als ent­schei­dungs­re­le­vant aus. Auch die Ein­füh­rung einer Bezahl­kar­te wird an dem Flucht­weg von Men­schen nichts ändern.

Zu der Aus­la­ge­rung von Asylverfahren

„Die Beschlüs­se der Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz, die die Prü­fung von Asyl­an­trä­gen in Dritt­staa­ten vor­se­hen, sind brand­ge­fähr­lich. Anstatt prag­ma­ti­sche Maß­nah­men für die Auf­nah­me von schutz­be­dürf­ti­gen Men­schen zu tref­fen, soll die Lösung der deut­schen Her­aus­for­de­run­gen wohl in der Tür­kei oder in Nord­afri­ka gesucht wer­den. Es ist abso­lut rea­li­täts­fern, dass sol­che Deals wirk­sam und vor allem men­schen­rechts­kon­form umge­setzt wer­den. Statt­des­sen hat jeder Ver­such der Aus­la­ge­rung gezeigt, dass die­se immenses Leid pro­du­ziert – von Nau­ru bis nach Moria. Wenn die Bun­des­re­gie­rung die­sen Beschlüs­sen folgt, dann steigt sie ein in die rechts­po­pu­lis­ti­sche Geis­ter­fahrt der bri­ti­schen oder däni­schen Regie­rung – und wird spä­tes­tens vom Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te auf den Boden der Tat­sa­chen zurück geholt wer­den. Den Kom­mu­nen hat die­se Zeit- und Ener­gie­ver­geu­dung dann jeden­falls nicht gehol­fen“, sagt Tareq Alaows.

Vor­schlä­ge für die Aus­la­ge­rung von Asyl­ver­fah­ren gibt es schon lan­ge, funk­tio­nie­ren­de Model­le aber kaum und ohne mas­si­ve Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen kei­ne. Ansät­ze wie der EU-Tür­kei-Deal, die die Flucht über bestimm­te Rou­ten ver­hin­dern wol­len, füh­ren aber pri­mär dazu, dass flie­hen­de Men­schen ande­re und oft gefähr­li­che­re Rou­ten neh­men. So haben sich zwar die Ankunfts­zah­len in der EU seit 2016 ver­rin­gert, doch gleich­zei­tig sind die Gren­zen töd­li­cher geworden.

Hin­ter­grund zu ver­rin­ger­ten Leis­tun­gen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz:

Bei der Erfin­dung des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes vor genau 30 Jah­ren hiel­ten Bun­des­re­gie­rung und Par­la­ment eine Kür­zung des sozi­al­recht­li­chen Exis­tenz­mi­ni­mums für zwölf Mona­te ver­tret­bar, dar­über hin­aus aber für unzu­mut­bar. Es kön­ne dann man­gels „noch nicht abseh­ba­rer wei­te­rer [Aufenthalts-]Dauer nicht mehr auf einen gerin­ge­ren Bedarf abge­stellt wer­den […]. Ins­be­son­de­re sind nun­mehr Bedürf­nis­se anzu­er­ken­nen, die auf eine stär­ke­re Anglei­chung an die hie­si­gen Lebens­ver­hält­nis­se und auf bes­se­re sozia­le Inte­gra­ti­on gerich­tet sind.“ (Bun­des­tags­druck­sa­che 12/5008 vom 24.5.1993). Der­lei Über­le­gun­gen hiel­ten die Regie­run­gen den­noch nicht davon ab, die gekürz­ten Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz bestän­dig zu verlängern.

Nach dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat jeder Mensch das Recht auf ein men­schen­wür­di­ges phy­si­sches, aber auch sozio­kul­tu­rel­les Exis­tenz­mi­ni­mum, das die gesell­schaft­li­che Teil­ha­be ermög­li­chen soll. Ob die gegen­über dem sozi­al­recht­li­chen Exis­tenz­mi­ni­mum gekürz­ten Grund­leis­tun­gen des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes über­haupt mit dem Ver­fas­sungs­recht ver­ein­bar sind, ist frag­lich. Nach­dem das Ver­fas­sungs­ge­richt kon­kre­te Leis­tungs­sät­ze des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes bereits mehr­fach nach oben kor­ri­gier­te und Kür­zun­gen wider­sprach, ist aktu­ell ein wei­te­res Ver­fah­ren beim Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt anhängig.

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