12.09.2024

Das heu­te von PRO ASYL ver­öf­fent­lich­te Rechts­gut­ach­ten zur Lage der Jus­tiz in der Tür­kei belegt, dass in der Tür­kei Straf­ver­fah­ren genutzt wer­den, um unlieb­sa­mes poli­ti­sches Han­deln zu bestra­fen. Die­se Rea­li­tät muss das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge aner­ken­nen und sei­ne Ent­schei­dungs­pra­xis ändern. 

Straf­ver­fah­ren mit poli­ti­schem Bezug sind in der Tür­kei zu einer Far­ce ver­kom­men. Will­kür­li­che Ver­fah­ren und Haft­stra­fen sind an der Tages­ord­nung. Das heu­te ver­öf­fent­lich­te Gut­ach­ten bestä­tigt die­se Rea­li­tät, vor der vie­le Schutz­su­chen­de aus der Tür­kei nach Deutsch­land flie­hen“, erklärt Wieb­ke Judith, rechts­po­li­ti­sche Spre­che­rin von PRO ASYL. „Das Gut­ach­ten stellt eine wich­ti­ge Infor­ma­ti­ons­quel­le für Asyl­ver­fah­ren dar. Ver­folg­te des Regimes Erdoğans müs­sen geschützt werden!“

Das 140-sei­ti­ge Gut­ach­ten „Zur Lage der Jus­tiz in der Tür­kei. Rechts­un­si­cher­heit in Straf­ver­fah­ren mit poli­ti­schem Bezug“ zeigt auf, dass Straf­ver­fah­ren, die auf ter­ro­ris­mus­be­zo­ge­nen Vor­wür­fen basie­ren, regel­mä­ßig rechts­staat­li­che Kri­te­ri­en unter­lau­fen. So sind zum einen rele­van­te Straf­tat­be­stän­de nicht klar defi­niert. Zum ande­ren wer­den die vor­han­de­nen wei­ten Defi­ni­tio­nen regel­mä­ßig unter­lau­fen, womit Ver­ur­tei­lun­gen und Straf­maß unvor­her­seh­bar wer­den. Zudem stüt­zen sich Ankla­gen und Ver­ur­tei­lun­gen häu­fig auf frag­wür­di­ge Bewei­se, etwa auf Aus­sa­gen „gehei­mer“ Zeug*innen, die von Anwält*innen nicht befragt wer­den können.

Umstruk­tu­rie­run­gen und Neu­be­set­zun­gen etwa von Gerich­ten haben die Unab­hän­gig­keit der Straf­jus­tiz erheb­lich beein­träch­tigt, die rich­ter­li­che Unab­hän­gig­keit ist nicht mehr gewähr­leis­tet. Betrof­fe­ne Per­so­nen haben damit kei­ne Mög­lich­keit, sich effek­tiv zu ver­tei­di­gen. Sie erwar­tet kein fai­res Verfahren.

Tür­kei wei­ter­hin unter Haupt­her­kunfts­län­dern von Asyl­su­chen­den in Deutschland 

Im ers­ten Halb­jahr 2024 regis­trier­te das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) knapp 16.000 Erst­an­trä­ge tür­ki­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger in Deutsch­land. Damit liegt die Tür­kei auf Rang drei der Haupt­her­kunfts­län­der Asyl­su­chen­der in Deutsch­land. Eine aktu­el­le Abfra­ge von PRO ASYL beim BAMF bestä­tigt, dass es wei­ter­hin vor allem Kurd*innen aus der Tür­kei sind, die einen Asyl­an­trag in Deutsch­land stel­len (11.911 Erst­an­trä­ge). Bei deren Asyl­an­trä­gen legt das BAMF seit Jah­ren eine beson­ders restrik­ti­ve Ent­schei­dungs­pra­xis an den Tag. Im ers­ten Halb­jahr 2024 sank die berei­nig­te Schutz­quo­te von Kurd*innen aus der Tür­kei auf 4,5 Pro­zent (2023: 6 Pro­zent). Im Ver­gleich: Bei Ange­hö­ri­gen der tür­ki­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pe liegt die berei­nig­te Schutz­quo­te bei 57 Pro­zent (2023: 65 Prozent).

Beson­ders ter­ro­ris­mus­be­zo­ge­ne Anschul­di­gun­gen wer­den in der Tür­kei genutzt, um aus Sicht der tür­ki­schen Regie­rung unlieb­sa­me Mei­nun­gen zu bekämp­fen. Das neue Gut­ach­ten belegt, dass Kurd*innen dabei einem beson­de­ren Risi­ko aus­ge­setzt sind, Opfer der tür­ki­schen Jus­tiz zu wer­den. „Dass die Schutz­quo­te gera­de der kur­di­schen Grup­pe wei­ter­hin auf Tal­fahrt ist, ist ange­sichts des hohen Ver­fol­gungs­drucks bri­sant. Die mehr als frag­wür­di­ge Ent­schei­dungs­pra­xis durch das Bun­des­amt ken­nen wir aus Beschei­den von Betrof­fe­nen, die sich an uns wen­den. Vor dem Hin­ter­grund der heu­te vor­ge­leg­ten Erkennt­nis­se muss sich die Pra­xis end­lich ändern“, führt Wieb­ke Judith, rechts­po­li­ti­sche Spre­che­rin von PRO ASYL, aus. 

Umfäng­li­che Ana­ly­se des tür­ki­schen Rechtsstaats 

Im Auf­trag von PRO ASYL führ­ten zwei renom­mier­te Rechtswissenschaftler*innen die Stu­die durch. Die Iden­ti­tät der Autor*innen wird aus Sicher­heits­grün­den nicht bekanntgegeben.

In der Stu­die ana­ly­sie­ren sie den Zustand der tür­ki­schen Straf­jus­tiz mit Blick auf deren Unab­hän­gig­keit, Unpar­tei­lich­keit sowie die Wah­rung von Ver­fah­rens­rech­ten, ins­be­son­de­re in Bezug auf Ver­fah­ren mit Ter­ro­ris­mus­vor­wür­fen. Grund­la­ge hier­für sind Urtei­le sowohl tür­ki­scher Gerich­te als auch des euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te, Berich­te des Euro­pa­rats und der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on und Inter­views, die mit in der Tür­kei prak­ti­zie­ren­den Anwält*innen geführt wur­den. Die Stu­die bil­det die Situa­ti­on bis März 2024 ab.

Die Stu­die wur­de von der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­hil­fe inhalt­lich beglei­tet und finan­zi­ell unter­stützt, eben­so unter­stütz­te die deut­sche Sek­ti­on von Amnes­ty Inter­na­tio­nal finanziell. 

Wei­ter­füh­ren­de Informationen
Eine Zusam­men­fas­sung der zen­tra­len Aus­sa­gen des Gut­ach­tens fin­den Sie hier auf der Home­page von PRO ASYL.

In der das Gut­ach­ten beglei­ten­den Bro­schü­re „Aras und Berat – Ver­folgt von der tür­ki­schen Straf­jus­tiz“ wer­den die Ein­zel­fäl­le von zwei Män­nern vor­ge­stellt, die der will­kür­li­chen Straf­ver­fol­gung zum Opfer gefal­len sind und in Deutsch­land im Asyl­ver­fah­ren (zunächst) abge­lehnt wurden.

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