02.12.2023

Vor dem Beginn der Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz for­dert PRO ASYL die Bun­des­län­der und das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um auf, einen bun­des­wei­ten Abschie­be­stopp für Jesid*innen zu erlas­sen und ihnen aus völ­ker­recht­li­chen und huma­ni­tä­ren Grün­den eine Auf­ent­halts­er­laub­nis zu ertei­len. Obwohl der deut­sche Bun­des­tag die Ver­fol­gung der Jesid*innen als Völ­ker­mord aner­kannt hat, obwohl die Lage im Irak nach wie vor sehr unsi­cher ist, gibt es ver­mehrt Abschie­bun­gen von Jesid*innen, dar­un­ter auch Familien.

Zu Beginn die­ses Jah­res stell­te sich der gesam­te Bun­des­tag an die Sei­te der Jesid*innen und erkann­te ihre sys­te­ma­ti­sche Ver­fol­gung und Ermor­dung im Nord­irak seit 2014 durch die Ter­ror­mi­liz „Isla­mi­scher Staat“ (IS) als Völ­ker­mord an. „Den guten Wor­ten der Politiker*innen müs­sen nun auch gute Taten fol­gen: Men­schen, die als Opfer eines Völ­ker­mords aner­kannt wur­den, dür­fen nicht in das Land des Völ­ker­mords abge­scho­ben wer­den. Wir for­dern einen bun­des­wei­ten Abschie­be­stopp für Jesid*innen. Dar­über hin­aus müs­sen Jesid*innen, die in Deutsch­land leben, einer dau­er­haf­te und siche­re Per­spek­ti­ve bekom­men“, sagt Karl Kopp, Spre­cher von PRO ASYL. Des­halb for­dert PRO ASYL eine Auf­ent­halts­er­laub­nis aus völ­ker­recht­li­chen und huma­ni­tä­ren Grün­den für Jesid*innen nach Para­graf 23 Auf­ent­halts­ge­setz.

Jesi­di­sche Fami­lie aus Bay­ern in den Irak abgeschoben 

Im Beschluss des Bun­des­ta­ges am 19. Janu­ar 2023 hieß es unter ande­rem: „Die Dia­spo­ra ist Teil unse­rer Gesell­schaft mit all ihren Erfah­run­gen und Erin­ne­run­gen. Der Deut­sche Bun­des­tag wird sich mit Nach­druck zum Schutz êzî­di­schen Lebens in Deutsch­land und ihrer Men­schen­rech­te welt­weit ein­set­zen.“ Den­noch haben eini­ge Bun­des­län­der damit begon­nen, Geflüch­te­te, die bis­lang eine Dul­dung hat­ten, in den Irak abzu­schie­ben. Die­se Abschie­be­flü­ge las­sen alte Trau­ma­ta auf­le­ben. Beson­ders dra­ma­tisch war Mit­te Novem­ber die Abschie­bung einer jesi­di­schen Fami­lie aus Bay­ern, die bru­tal aus­ein­an­der­ge­ris­sen und am sel­ben Tag in den Irak geflo­gen wur­de (sie­he unten).

In Deutsch­land lebt die größ­te jesi­di­sche Dia­spo­ra in Euro­pa, rund 250.000 Men­schen. Offi­zi­el­le Zah­len dazu, wie vie­le Jesid*innen aus Deutsch­land abge­scho­ben wur­den, gibt es nicht. PRO ASYL schätzt, dass der­zeit 5.000 bis 10.000 ira­ki­sche Jesid*innen aus­rei­se­pflich­tig und von Abschie­bun­gen in den Irak bedroht sind. Seit Wochen machen jesi­di­sche und ande­re Orga­ni­sa­tio­nen dar­auf auf­merk­sam, unter ande­rem mit einem offe­nen Brief an die Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten und einem Brief an Innen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser.

Völ­ker­mord schafft neue Realität

Das Schick­sal der Jesid*innen ist ein ein­drück­li­ches Bei­spiel für eine neue Rea­li­tät, die ein Völ­ker­mord schafft. Es gibt kein „zurück“ in die Zeit davor. In einem von Min­der­hei­ten und zahl­rei­chen Kon­flikt­li­ni­en gepräg­ten Gebiet wie der Her­kunfts­re­gi­on der Jesid*innen hat der Völ­ker­mord des „Isla­mi­schen Staats“ das sowie­so fra­gi­le gesell­schaft­li­che Gewe­be zer­ris­sen, trau­ma­ti­sier­te Opfer ste­hen Nach­barn gegen­über, die poten­zi­el­le Täter waren – und es poten­zi­ell jeder­zeit wie­der wer­den können.

Die Her­kunfts­re­gi­on der Jesi­den, der Sindjar, stellt ein stra­te­gisch wich­ti­ges Grenz­ge­biet dar, in dem die Inter­es­sen zahl­rei­cher Akteu­re, dar­un­ter auch des Irans und der Tür­kei auf­ein­an­der­pral­len. Die jeder­zeit pre­kä­re Sicher­heits­la­ge wird sich hier nicht grund­le­gend ändern, solan­ge der Kon­flikt in Syri­en kei­ne Lösung gefun­den hat. Für die über­wäl­ti­gen­de Mehr­zahl der vom „Isla­mi­schen Staat“ ver­trie­be­nen Jesid*innen heißt das: Sie müs­sen wei­ter­hin auf unab­seh­ba­re Zeit in ira­ki­schen Flücht­lings­la­gern leben, die 2014/15 ein­mal als Not­hilfs­la­ger ein­ge­rich­tet wur­den: nach bald zehn Jah­ren immer noch ein Leben in Zel­ten bei Som­mer­hit­ze und bei Schnee.

Auch die gene­rel­le Lage im Irak ist nach wie vor äußerst unsi­cher. Erst vor kur­zem hat die Bun­des­re­gie­rung mit die­ser Begrün­dung die Ver­län­ge­rung des Bun­des­wehr­ein­sat­zes zur Bekämp­fung der Ter­ror­mi­liz IS und zur Sta­bi­li­sie­rung beschlos­sen. Staat­li­che Stel­len sind nach wie vor für zahl­rei­che Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ver­ant­wort­lich, auch Ver­stö­ße gegen Men­schen­rech­te im Jus­tiz­sys­tem wie Fol­ter und will­kür­li­che Fest­nah­men sind weit ver­brei­tet. Ter­ro­ris­ti­sche Anschlä­ge und Ent­füh­run­gen gehö­ren wei­ter­hin zum All­tag im Irak.

Zum Hin­ter­grund:
Einen beson­ders erschüt­tern­den Abschie­be­fall gab es kürz­lich in Bay­ern: Am 20. Novem­ber wur­de eine jesi­di­sche Fami­lie aus dem Schlaf geris­sen. Rund 20 Poli­zis­ten dräng­ten in die Woh­nung, sie brach­ten die bei­den voll­jäh­ri­gen Mäd­chen gewalt­sam zu Boden. Die Eltern und die jün­ge­ren Geschwis­ter (neun und sie­ben Jah­re alt) wur­den in einem Poli­zei-Trans­por­ter zum Flug­ha­fen Frank­furt gefah­ren. Dort dau­er­te es nach Anga­ben der Fami­lie Stun­den, bis sie unter Dro­hun­gen im Flug­zeug saßen und das Boar­ding für die ande­ren Pas­sa­gie­re begin­nen konn­te. Über Istan­bul wur­de die Fami­lie nach Bag­dad gebracht. Dort wur­den sie am Flug­ha­fen erst von der Poli­zei fest­ge­hal­ten und dann nachts um 4 Uhr mit­tel­los auf die Stra­ße gesetzt, berich­te­te die Fami­lie später.

Die zwei voll­jäh­ri­gen jun­gen Frau­en machen Aus­bil­dun­gen in der Pfle­ge und wur­den nicht abge­scho­ben. Eine von ihnen hat­te aber einen Ner­ven­zu­sam­men­bruch und wur­de in Hand­schel­len in die Psych­ia­trie gefahren.

VERANSTALTUNGSHINWEIS

Ein­la­dung zum Pres­se­ge­spräch (auch Zoom): Abschie­bung von Jesi­din­nen und Jesi­den sofort stoppen


Datum:
Mon­tag, 4. Dezember
Uhr­zeit: 13 Uhr
Ort: Per Zoom und im Haus kirch­li­cher Diens­te, Archiv­stra­ße 3, 30169 Hannover

Am Pres­se­ge­spräch neh­men teil:

  • Kai Weber, Geschäfts­füh­rer Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen und Mit­glied der Bun­des­wei­ten Arbeits­ge­mein­schaft für Flücht­lin­ge PRO ASYL
  • Sozan Darm­an Ali Al Shaekh, jesi­di­sche Akti­vis­tin (Ezi­dxan Inter­na­tio­nal Aid e.V.) und IS- Überlebende
  • Hol­ger Geis­ler, Her­aus­ge­ber Lalis Dia­log und ehe­ma­li­ger Spre­cher des Zen­tral­rats der Yezi­den in Deutsch­land (ZYD)

Mode­ra­ti­on:

  • Enno Stün­kel, Cel­ler Netz­werk gegen Antisemitismus

Ein­wahl­link zum Pres­se­ge­spräch: https://us02web.zoom.us/j/87679784531?pwd=aTVMT21JWTlHT01CbEljTXlxZW9rUT09

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