Zum Internationalen Frauentag am 8. März stellt die Menschenrechtsorganisation PRO ASYL die dramatische Situation der Frauen in Afghanistan in den Mittelpunkt. „Holt uns hier raus!“ heißt der flehentliche Appell einer Gruppe von afghanischen Frauenrechtlerinnen, die sich in ihrer Heimat vor den Todesdrohungen der Taliban verstecken müssen. PRO ASYL veröffentlicht und unterstützt den Appell und fordert die Bundesregierung auf, gefährdete Einzelpersonen aus Afghanistan sofort aufzunehmen und die Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag sofort zu realisieren.
PRO ASYL ist in Sorge, dass die Taliban die weltweite Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine nutzen, um die Menschen in Afghanistan immer heftiger zu verfolgen, zu foltern und zu töten. Die Berichte über Ausreiseverbote, Hausdurchsuchungen, Einschüchterungen, Verhaftungen und Brutalität gegen Frauen häufen sich. Deshalb betont PRO ASYL: Vergesst Afghanistan nicht! Und fordert die sofortige Realisierung des Koalitionsvertrages.
Bedrohte Menschen sofort aufnehmen!
Seit Monaten gibt es kaum eine Chance für Afghan*innen, in Deutschland aufgenommen zu werden. Auch nicht für Menschen, die für deutsche Institutionen gearbeitet haben, oder sich als Journalist*innen, Anwält*innen oder Menschenrechtsaktivist*innen für Demokratie und Menschenrechte stark machten. Individuelle Anträge auf Aufnahme nach §22 Aufenthaltsgesetz werden mit dem Argument nicht bewilligt, dies sei kein singuläres Einzelschicksal, das sich ganz erheblich von der Gefährdungssituation anderer Personen in Afghanistan unterscheide. Zudem müsse der Fall von besonderer Bedeutung für die politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland sein.
Das alles gilt am 8. März besonders auch für die noch in Afghanistan verbliebenen 34 Frauen der Gruppe „United Voice of Women for Peace“, die mit dem damaligen Friedensministerium zusammenarbeiteten. Sie appellieren an die deutsche Bundesregierung: „Holt uns hier raus! Bringt uns und unsere Familien in Sicherheit! Wartet nicht länger, jeder Tag zählt!“
Keine Institution reagiert auf Hilferufe
„Hunderte von Frauen, die gegen die Taliban protestiert haben, wurden verhaftet und eingesperrt und vegetieren unter schlimmsten Bedingungen in den Gefängnissen. Viele von ihnen wurden im Gefängnis vergewaltigt“, schreibt eine der Frauen. Sie ist nach Pakistan geflohen, lebt dort aber ohne gültige Papiere unter erbärmlichen Bedingungen und hofft, dass sie nach Deutschland ausreisen kann, wo Verwandte von ihr leben.
„Die Taliban bedrohten uns und suchten auf alle möglichen Weisen nach uns, wir konnten unser Haus in unserer Provinz nicht mehr verlassen, waren dort eingesperrt und bedroht“, schildert sie. „Auf dem Höhepunkt von Angst und Verzweiflung mussten wir schließlich fliehen.“ Nun ist sie in Pakistan, doch: „Seit mehr als drei Monaten reagiert keine Institution in Deutschland auf unsere Hilferufe. Unser Aufenthaltsvisum ist abgelaufen, und es ist nicht klar, was mit uns passieren wird.“
Mutiges Engagement von afghanischen Frauen
Als Frauen- und Menschenrechtlerinnen haben sie sich mutig für das engagiert, was die Taliban verachten und bekämpfen: gleiche Rechte für Frauen und Männer, eine demokratische Verfassung, Frieden und Freiheit. Nun müssen sie sich verstecken und bekommen Drohungen per SMS und Brief.
Und die Frauen richten Forderungen für alle Frauen in Afghanistan an die internationale Gesellschaft: Die Staaten müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um das Leben von Frauen in Afghanistan zu schützen und ihnen ihre Rechte zurückzugeben. Denn Frauen werden unter dem Regime der Taliban bedroht, geschlagen und mit dem Tode bestraft. Und sie werden entrechtet, dürfen nicht am öffentlichen und politischen Leben teilnehmen und nur sehr eingeschränkt zur Schule gehen, studieren und arbeiten.
Koalitionsvertrag umsetzen
PRO ASYL fordert, den Koalitionsvertrag sofort umzusetzen. Dort wurde versprochen, diejenigen besonders zu schützen, „die Deutschland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben“. Es wurden unter anderem verabredet: „humanitäre Visa für gefährdete Personen“, eine Reform des Ortskräfteverfahrens, ein Bundesaufnahmeprogramm sowie eine Beschleunigung des Familiennachzugs.
Auf der Website www.proasyl.de finden Sie neben dem Appell einen Text zur Situation von Frauen in Afghanistan und zwei Kurzinterviews mit zwei Frauen der Gruppe „United Voice of Women for Peace“
Der Appell im Wortlaut:
Appell der afghanischen Frauengruppe „United Voice of Women for Peace“:
Holt uns hier raus!
Seit Monaten sind wir in unserem eigenen Land auf der Flucht vor den Taliban. Wir ziehen von einem Versteck zum anderen, weil unser Leben und das unserer Familien in Gefahr ist. Als Frauenrechtlerinnen haben wir uns jahrelang für das engagiert, was die Taliban verachten und bekämpfen: gleiche Rechte für Frauen und Männer, eine demokratische Verfassung, Frieden und Freiheit. Nun verfolgen sie uns und andere Engagierte, drohen, verhaften, misshandeln und töten. Wir bekommen Drohungen per SMS und Brief. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Taliban auch an uns grausame Rache üben.
Deshalb appellieren wir an die deutsche Bundesregierung für uns selbst:
Holt uns hier raus!
Bringt uns und unsere Familien in Sicherheit!
Wartet nicht länger, jeder Tag zählt!
Für unser Land und alle Frauen fordern wir:
Vergesst die Frauen in Afghanistan nicht!
Menschenrechte für die Frauen in Afghanistan!
Der Rückfall in eine Gesellschaftsordnung, in der Frauen aus dem öffentlichen Leben verdrängt, entrechtet, misshandelt, gesteinigt und getötet werden, darf nicht hingenommen werden!
Das bedeutet:
Humanitäre Hilfe in Afghanistan ist nötig, darf aber nicht zur Anerkennung der De-facto-Regierung der Taliban führen oder diese unterstützen.
Internationale Hilfsorganisationen müssen dafür sorgen, dass Frauen an der Verteilung von Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern beteiligt werden.
Die internationale Gemeinschaft muss Möglichkeiten nutzen, um die afghanischen Frauen wieder sichtbar zu machen. Wenn westliche Regierungen die De-facto-Regierung der Taliban zu Gesprächen einladen, müssen sie auch ehemalige afghanische Politikerinnen zu den Gesprächen einladen.
Die internationale Gemeinschaft muss sich gegenüber der De-facto-Regierung der Taliban dafür einsetzen, dass Frauen wieder in allen wirtschaftlichen Bereichen und in den Behörden arbeiten dürfen.
Auch ältere Mädchen müssen in Afghanistan wieder zur Schule gehen können. Wenn Organisationen oder Staaten Geld für Schulen in Afghanistan geben, müssen sie ihre Zusagen daran knüpfen, dass die weiterführenden Schulen wieder für Mädchen geöffnet werden.
Zum Hintergrund: Wer wir sind
Wir, das sind die in Afghanistan verbliebenen 34 Frauen der Gruppe „United Voice of Women for Peace“. Unsere Gruppe wurde vom 2019 gegründeten afghanischen Friedensministerium ins Leben gerufen, um die für die Friedensverhandlungen zuständige Kommission der afghanischen Regierung zu beraten und mit Konzepten zur Friedensstrategie zu unterstützen.
Wir stammen aus allen 34 Provinzen des Landes und wurden von den regionalen Frauenorganisationen gewählt. Alle hatten sich bereits seit vielen Jahren für Frauenrechte, Menschenrechte und Frieden in unserem Land engagiert. Als gut vernetzte Expertinnen und prominente Frauenrechtlerinnen standen wir immer wieder in der Öffentlichkeit, waren vielen Menschen – und so auch den Taliban – bekannt. Bis heute existieren Fotos von Veranstaltungen, Beiträge in den sozialen Medien, Interviews und Artikel. Einige von uns waren auch in Regierungsstellen ihrer jeweiligen Provinzen, als Leiterinnen unterschiedlicher Nichtregierungsorganisationen oder als Mitarbeiterinnen des Friedensministeriums aktiv.
Ab Ende 2004 galt in Afghanistan eine moderne Verfassung, die zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau garantierte. Es existierte auch eine eigene Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Sie kämpfte gegen Misshandlungen und Vergewaltigungen ebenso wie gegen Steinigungen und andere grausame Strafen.
Da diese moderne Verfassung aber von Anfang an auch auf den Widerstand von Gegnern der Demokratisierung wie Warlords und Taliban stieß, erlebten viele von uns schon damals Drohungen und Gewalt. Doch das war nichts gegen die Lebensgefahr, der wir jetzt ausgesetzt sind.