Anlässlich des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde am 4. März 2022 vom Rat der EU zum ersten Mal der sogenannte vorübergehende Schutz aktiviert. Er erlaubt es, dass aus der Ukraine fliehende Menschen in der ganzen EU unbürokratisch Schutz finden, arbeiten dürfen und ein Leben in Sicherheit aufbauen können. Ein Jahr nach der Aktivierung zieht PRO ASYL Bilanz und fordert, die Regelungen, die sich bewährt haben, für alle Schutzsuchenden anzuwenden. Gemeinsam mit einem Bündnis von über 50 Organisationen fordert PRO ASYL zudem die konsequente Anwendung des vorübergehenden Schutzes für alle aus der Ukraine geflüchteten Menschen.
„Der vorübergehende Schutz hat ermöglicht, was in der Flüchtlingspolitik lange Zeit unmöglich schien: Ukrainische Kriegsflüchtlinge können ihren Schutzort in Europa frei wählen, dürfen direkt arbeiten oder zur Schule gehen und bekommen unkomplizierten Schutz. Diese positiven Regelungen führen auch dazu, dass die Aufnahme von über einer Million nach Deutschland geflüchteten Menschen aus der Ukraine gut gelingt. Schutzsuchende aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan haben auch vielfach Verwandte hier, die ihnen beim Ankommen helfen würden. Sie werden aber gezwungen in Erstaufnahmeeinrichtungen zu leben, können nur schwer den Wohnort wechseln und werden so mit repressiven Maßnahmen gegängelt“, kommentiert Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Positive Regelungen beim vorübergehenden Schutz erleichtern das Ankommen
Ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine kann zumindest mit Blick auf die Aufnahme der geflohenen Ukrainer*innen eine insgesamt positive Bilanz gezogen werden. Laut einer repräsentativen Studie leben zum Beispiel 74 Prozent der befragten Ukrainer*innen in privaten Haushalten, nur 9 Prozent müssen in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete untergebracht werden. Im Kontrast dazu müssen Asylsuchende bis zu 18 Monaten in oft abgelegenen Aufnahmeeinrichtungen wohnen, in denen es an Privatsphäre mangelt und wo ein selbstbestimmtes Leben unmöglich ist. Selbst wenn sie Verwandte in Deutschland haben, dürfen sie nicht bei ihnen wohnen.
Wie die Studie zeigt, haben sich 60 Prozent der Ukrainer*innen für Deutschland als Schutzland entschieden, da sie hier bereits Familie, Freund*innen und Bekannte haben. Das ergibt Sinn, können diese doch beim Ankommen und Einleben unterstützen. Andere Flüchtlinge haben diese Möglichkeit nicht, obwohl auch viele Syrer*innen oder Afghan*innen schon Verwandte und Bekannte in Deutschland haben: Sie sind aufgrund der sogenannten Dublin-Regelungen gezwungen, ihren Asylantrag im ersten Einreiseland oder im Land der Visa-Erteilung zu stellen – egal wie groß ihr Netzwerk in einem anderen EU-Land ist. Schlagen sie sich doch in das EU-Land ihrer Wahl durch, wird versucht, sie in den Mitgliedstaat der Ersteinreise abzuschieben – so verzögert sich der Zugang zu Asyl und Schutz oft über viele Monate.
Besonders positiv ist, dass ukrainische Geflüchtete mit dem vorübergehenden Schutz direkt Sprachkurse besuchen und nach einer Arbeit suchen können. Asylsuchende dürfen dagegen meist über Monate hinweg nicht arbeiten und bekommen auch nur die geringen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Ukrainische Geflüchtete bekommen seit Juni 2022 reguläre Sozialhilfe.
„Die schlechten Lebensbedingungen während eines Asylverfahrens in Deutschland sind nicht zu rechtfertigen. Anstatt die Menschen über Monate hinweg in Lagern zu isolieren und ihnen das Arbeiten zu verbieten, sollte die Bundesregierung ihnen wie den Ukrainerinnen und Ukrainern auch einen direkten Start in Deutschland ermöglichen. Stattdessen werden Asylsuchende auf die Wartebank gesetzt“, sagt Judith.
Aktuelle Zahlen zeigen, dass mit 121 Überfällen, Anschlägen, Sachbeschädigungen und tätlichen Angriffen die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2022 erstmals seit 2015 wieder deutlich zugenommen hat (73 Prozent mehr als im Vorjahr). „Diese Unterkünfte werden nun wieder zur Zielscheibe rassistischer Anschläge. Anstatt die aufgeheizte Stimmung anzufachen müssen sich alle demokratischen Parteien für den Schutz von Flüchtlingen in diesem Land stark machen“, so Wiebke Judith.
Zivilgesellschaftliches Bündnis fordert gleiche Rechte für alle aus der Ukraine geflohene Menschen
„Zum Jahrestag des vorübergehenden Schutzes dürfen die Augen nicht davor verschlossen werden, dass bei weitem nicht alle aus der Ukraine geflüchteten Menschen tatsächlich Schutz bekommen haben. Hierzu zählen zum Beispiel afrikanische Studierende, die sich in der Ukraine neue Perspektiven aufgebaut hatten – die von den russischen Bomben zerstört wurden. Viele bangen noch, ob sie diese Perspektiven in Deutschland weiterentwickeln können. Dass einige schon in Abschiebungshaft genommen wurden, ist besonders dramatisch“, so Judith.
PRO ASYL fordert daher mit einem Bündnis von über 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen in einem heute veröffentlichten Statement, allen aus der Ukraine geflüchteten Menschen den vorübergehenden Schutz zu geben. Viele der unterzeichnenden Organisationen unterstützen seit dem letzten Jahr aus der Ukraine geflüchtete Menschen ohne ukrainischen Pass. Obwohl sie vor demselben Krieg wie ukrainische Staatsangehörige geflohen sind und Schutz suchen, ist ihre derzeitige Situation von Unsicherheit, Diskriminierung und Willkür geprägt. Für sie müssen dringend langfristige und einheitliche aufenthaltsrechtliche Lösungen gefunden werden. Zudem sollte der Zugang zu Sprach- und Integrationskursen, Studienplätzen und Arbeit ermöglicht werden.
Derzeit befinden sich in Deutschland etwa 38.000 Geflüchtete aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass. Da sie nicht wie ukrainische Staatsangehörige pauschal von der Anwendung der EU-Richtlinie 2001/55/EG zum vorübergehenden Schutz profitieren, die in Deutschland mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 AufenthG für zwei Jahre einhergeht, sind viele Menschen jetzt schon von Abschiebung bedroht. Bei anderen laufen bald
Fiktionsbescheinigungen aus.
Weiterführende Informationen
PRO ASYL hat einen Überblick über die Regelungen für Geflüchtete aus der Ukraine veröffentlicht veröffentlicht, der regelmäßig aktualisiert wird.
Zudem berichtet die Aktivistin Kateryna von Vitsche in einer aktuellen Podcast-Folge von PRO ASYL über ihre persönliche Flucht aus der Ukraine und erzählt von der Situation vieler Ukrainer*innen im Ausland.
Pressekontakt
Für das Bündnis: zivilgesellschaftliches.buendnis@cusbu.de, zivilgesellschaftliches.buendnis@muenchner-fluechtlingsrat.de, beyondevacuation@gmail.com
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