20.02.2024

Län­der wol­len Ampel zum Bruch des Koali­ti­ons­ver­trags treiben

Erneut ist die Bezahl­kar­te für Geflüch­te­te Gegen­stand eines öffent­lich insze­nier­ten Streits in der Bun­des­re­gie­rung – angeb­lich, um eine „rechts­si­che­re“ Ein­füh­rung der Bezahl­kar­te zu gewähr­leis­ten. Gin­ge es aber tat­säch­lich nur um die Rechts­si­cher­heit, bräuch­te es kei­ne Geset­zes­än­de­rung: Die Stadt Han­no­ver macht längst vor, dass und wie eine sol­che Kar­te dis­kri­mi­nie­rungs­frei schon jetzt zum Ein­satz kom­men kann. In ver­schie­de­nen Län­dern und Kom­mu­nen sind Bezahl­kar­ten vor­han­den oder in Vor­be­rei­tung – auch sol­che, die aus Sicht von PRO ASYL inak­zep­ta­ble Beschrän­kun­gen vorsehen.

„Eine – sogar dis­kri­mi­nie­rungs­freie – Umset­zung der Bezahl­kar­te ist bereits heu­te mög­lich. Nur, wer die Mög­lich­kei­ten zur Dis­kri­mi­nie­rung per Kar­te stark aus­wei­ten will, braucht eine Geset­zes­än­de­rung. Die aktu­el­len Äuße­run­gen, in denen die Bezahl­kar­te zum wich­tigs­ten Instru­ment der Sen­kung der Asyl­an­trags­zah­len sti­li­siert wird, sind kom­plett rea­li­täts­fern. Nie­mand lässt sich wegen der Bezahl­kar­te von der Flucht vor Ver­fol­gung oder Krieg abschre­cken. Das ein­zi­ge Resul­tat ist, dass Schutz­su­chen­de im All­tag gegän­gelt und aus­ge­grenzt wer­den“, so Andrea Kothen, Refe­ren­tin bei PRO ASYL.

Die Län­der haben die Bezahl­kar­te als umfang­rei­ches Dis­kri­mi­nie­rungs­in­stru­ment beschlos­sen und kon­zi­piert. Doch sie wol­len offen­bar noch mehr und nun die Anwen­dungs­mög­lich­kei­ten der Kar­te aus­wei­ten. Dazu könn­te vor allem zäh­len, dass auch die­je­ni­gen Geflüch­te­ten die Bezahl­kar­te bekom­men sol­len, die auf­grund lang­jäh­ri­gen Auf­ent­halts längst einen Anspruch auf Leis­tun­gen ana­log der Sozi­al­hil­fe haben. Seit der jüngs­ten Ver­schär­fung heißt das: nach über drei Jah­ren wei­ter­hin nur eine Bezahl­kar­te anstatt gleich­be­rech­tig­te Leis­tun­gen. Und die Bun­des­re­gie­rung scheint die­sem Vor­ha­ben in wei­ten Tei­len fol­gen zu wol­len. Nicht aus­ge­schlos­sen scheint, dass in nicht fer­ner Zukunft alle Bürgergeldempfänger*innen mit einer dis­kri­mi­nie­ren­den Bezahl­kar­te leben sol­len. PRO ASYL appel­liert drin­gend an alle poli­ti­schen Par­tei­en, end­lich damit auf­zu­hö­ren, mit einem immer aggres­si­ve­ren Ton und immer wei­ter gehen­den Vor­schlä­gen auf dem Rücken geflüch­te­ter und bedürf­ti­ger Men­schen popu­lis­ti­sche Poli­tik zu betreiben.

Bun­des­re­gie­rung miss­ach­tet Vor­ga­ben des Bundesverfassungsgerichts

Wenn die Bun­des­re­gie­rung dem Drän­gen der Län­der nach­gä­be, wür­de sie nicht nur den eige­nen Koali­ti­ons­ver­trag, son­dern auch das Ver­fas­sungs­ge­richt ernst­haft miss­ach­ten: Gemein­sam hat­ten SPD, FDP und Grü­ne 2021 ver­ein­bart, das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz (Asyl­bLG) „im Lich­te der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts“ zu über­ar­bei­ten. Tat­säch­lich hat­te das höchs­te deut­sche Gericht die Leis­tun­gen des Asyl­bLG mehr­fach für unzu­rei­chend erklärt. Doch nicht ein­mal den letz­ten Beschluss des höchs­ten deut­schen Gerichts vom Okto­ber 2022 hat die Bun­des­re­gie­rung bis heu­te umge­setzt. „Die Bun­des­re­gie­rung igno­riert seit fast ein­ein­halb Jah­ren eine Ent­schei­dung des höchs­ten deut­schen Gerichts zum Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz. Kaum vor­stell­bar ist, dass die Regie­rung mit dem Beschluss des Ver­fas­sungs­ge­richts zum Nach­trags­haus­halt 2023 auch so umge­gan­gen wäre“, sagt Andrea Kothen.

Statt einer ver­fas­sungs­treu­en Über­ar­bei­tung des Asyl­bLG hat die Bun­des­re­gie­rung im Zuge des Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­set­zes erst kürz­lich sogar eine dras­ti­sche Ver­schär­fung ein­ge­führt: Die Dau­er des Bezugs von Grund­leis­tun­gen nach dem Asyl­bLG wur­de von 18 auf 36 Mona­te ver­län­gert. Künf­tig ent­hält die Regie­rung Geflüch­te­ten damit dop­pelt so lang wie bis­her annä­hernd men­schen­wür­di­ge Sozi­al­leis­tun­gen vor. Damit wur­de auch die poten­zi­el­le Anwen­dung der Bezahl­kar­te bereits jetzt auf drei Jah­re ver­län­gert. Ein Gut­ach­ten des Wis­sen­schaft­li­chen Diens­tes des Bun­des­ta­ges vom Dezem­ber 2023 bestä­tigt mit zahl­rei­chen Bele­gen, dass schon eine War­te­zeit von 18 Mona­ten ver­fas­sungs­recht­lich bedenk­lich ist.

„SPD, FDP und Grü­ne sind gut bera­ten, die selbst gege­be­ne Agen­da end­lich ein­mal mit Rück­grat zu ver­tre­ten. Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz ist bereits in der der­zei­ti­gen Form ver­fas­sungs­recht­lich unhalt­bar. Es kann nicht sein, dass die Bun­des­re­gie­rung die men­schen­recht­lich und ver­fas­sungs­recht­lich gebo­te­nen Vor­ga­ben mut­wil­lig bei­sei­te schiebt und statt­des­sen stän­dig neue Ver­schär­fun­gen erfin­det. Wenn die Koali­ti­on wei­ter­hin den schril­len Stim­men von rechts nach­gibt, gibt sie auch ihre eige­nen sozi­al­po­li­ti­schen Ansprü­che der Lächer­lich­keit preis“, so Kothen.

Hin­ter­grund

In Deutsch­land erhal­ten Asyl­su­chen­de bereits seit 30 Jah­ren deut­lich gerin­ge­re Leis­tun­gen als die Empfänger*innen von Bür­ger­geld. Die Dau­er der abge­senk­ten Grund­leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz vari­ier­te mehr­fach, im Zuge des Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­set­zes wur­de sie von 18 auf 36 Mona­te ver­län­gert – aus Sicht von PRO ASYL eine ver­fas­sungs­wid­ri­ge Ände­rung. Ein Teil der Grund­leis­tun­gen wird, vor allem in der Anfangs­zeit, als Sach­leis­tung gewährt: Ein Bett im Sam­mel­la­ger, Hygie­ne­pa­ke­te, Fer­tig­es­sen, Alt­klei­der. Der frei zur Ver­fü­gung ste­hen­de Betrag ist äußerst gering – er liegt anfangs für einen allein­ste­hen­den Erwach­se­nen bei maxi­mal 204 Euro im Monat. Selbst wenn zu einem spä­te­ren Zeit­punkt in den Kom­mu­nen statt Sach­leis­tun­gen Geld aus­ge­zahlt wer­den, beträgt der Regel­leis­tungs­be­trag maxi­mal 460 Euro – das sind rund 100 Euro weni­ger als das Bürgergeld.

Die Ent­schei­dung der Län­der, Asylantragsteller*innen zukünf­tig den ver­füg­ba­ren Betrag als Gut­ha­ben auf einer Bezahl­kar­te aus­zu­ge­ben, soll ihre Mög­lich­kei­ten wei­ter beschrän­ken: Die Bar­geld­ver­fü­gung soll wei­ter dras­tisch redu­ziert wer­den, Über­wei­sun­gen sol­len nicht mög­lich sein. Die Men­schen sol­len mög­lichst nur noch an ihrem Wohn­ort ein­kau­fen dürfen.

Ohne Bar­geld kann aber man nicht güns­tig auf dem Floh­markt ein­kau­fen, den Kin­dern kein Geld für die Klas­sen­kas­se mit­ge­ben, beim Gemein­de­fest nicht ein­mal einen Kaf­fee erste­hen. Ohne Über­wei­sungs­mög­lich­keit kann man kei­nen Han­dy­ver­trag und kei­ne Sport­ver­eins­mit­glied­schaft abschlie­ßen und die monat­li­chen Raten an den Rechts­an­walt nicht über­wei­sen. Die Bezahl­kar­te wird den All­tag der Betrof­fe­nen erheb­lich erschweren.

Das ist auch die erklär­te Absicht, denn Bund und Län­der haben die Bezahl­kar­te mit dem aben­teu­er­li­chen Argu­ment ver­tre­ten, dass die Bezahl­kar­te zu einem Rück­gang der Asyl­su­chen­den in Deutsch­land bei­tra­gen soll. Dafür gibt es aber kei­ner­lei Anhalts­punk­te. Im Gegen­teil zei­gen ver­schie­de­ne Stu­di­en, unter ande­rem eine des Bun­des­amts für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge, dass die Höhe der Sozi­al­leis­tun­gen in einem Land auf der Flucht wenig rele­vant ist. Die Men­schen treibt pri­mär die Fra­ge um, wo sie Sicher­heit fin­den kön­nen – und dar­über hin­aus, ob Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge vor Ort und Sprach­kennt­nis­se vor­han­den sind oder ob es Arbeits­markt­chan­cen gibt.

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