10.04.2024

Kin­der in Haft, Asyl­schnell­ver­fah­ren an den Außen­gren­zen, Abschie­bun­gen in Län­der ohne Schutz für Flücht­lin­ge, immer mehr Deals mit auto­kra­ti­schen Regie­run­gen: Das ist die Zukunft des Flücht­lings­schut­zes in Euro­pa, wenn heu­te das EU-Par­la­ment der Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems (GEAS) zustimmt. Damit wäre der Pakt besie­gelt, die Mit­glied­staa­ten haben bereits in den letz­ten Ver­hand­lun­gen im Febru­ar  ihre Ver­schär­fun­gen durch­ge­setzt – ihre fina­le Zustim­mung  ist sicher.

„Eine Zustim­mung des Euro­pa­par­la­ments zur GEAS-Reform wäre ein his­to­ri­scher Tief­punkt für den Flücht­lings­schutz in Euro­pa. Die EU schot­tet sich immer wei­ter ab: Zu den schon bestehen­den Zäu­nen, Mau­ern, Über­wa­chungs­tech­ni­ken und Push­backs kom­men nun abseh­bar noch mehr Inhaf­tie­rung und Iso­lie­rung schutz­su­chen­der Men­schen an den Außen­gren­zen und neue men­schen­rechts­wid­ri­ge Deals mit auto­kra­ti­schen Regie­run­gen dazu“, sagt Wieb­ke Judith, rechts­po­li­ti­sche Spre­che­rin von PRO ASYL.

Seit Jah­ren Pro­tes­te gegen die Aus­höh­lung des euro­päi­schen Flüchtlingsschutzes

Über eine Reform des GEAS wird seit vie­len Jah­ren dis­ku­tiert, ver­stärkt wie­der seit rund 18 Mona­ten. Kurz vor Weih­nach­ten 2023 hat­ten sich die EU-Mit­glied­staa­ten und das Par­la­ment geei­nigt, im Febru­ar 2024 stimm­te der zustän­di­ge Aus­schuss des Euro­pa­par­la­ments dem Kom­pro­miss zu. Obwohl sich die Mit­glied­staa­ten mit ihren restrik­ti­ven Vor­schlä­gen in den aller­meis­ten Punk­ten durch­set­zen konn­ten, ist mit einer Mehr­heit im Par­la­ment für die Reform zu rechnen.

PRO ASYL pro­tes­tiert seit Jah­ren, auch zusam­men mit deut­schen und inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen, gegen die­se Ver­schär­fun­gen und die Aus­höh­lung des euro­päi­schen Flücht­lings­schut­zes. Vor der Abstim­mung appel­lie­ren 161 euro­päi­sche Orga­ni­sa­tio­nen an das Par­la­ment, der Ver­schär­fung doch nicht zuzustimmen.

Die Ver­ord­nun­gen tre­ten vor­aus­sicht­lich noch vor der Euro­pa­wahl im Juni 2024 in Kraft, kom­men aber erst 24 Mona­te spä­ter zur Anwen­dung, also im ers­ten Halb­jahr 2026.

Reform miss­ach­tet das Leid und die Rech­te von Schutzsuchenden

„Die GEAS-Reform ist unmensch­lich und miss­ach­tet das Leid und die Rech­te der Men­schen, die vor Krieg, Gewalt und Ver­fol­gung flie­hen. PRO ASYL wird zusam­men mit Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen in ganz Euro­pa wei­ter gegen die Iso­la­ti­ons- und Abschot­tungs­stra­te­gie der EU kämp­fen“, sagt Wieb­ke Judith, rechts­po­li­ti­sche Spre­che­rin von PRO ASYL.

Zu den mas­si­ven Ver­schlech­te­run­gen der GEAS-Reform gehö­ren ein stan­dar­di­sier­tes Scree­ning, Asyl­ver­fah­ren an den Außen­gren­zen unter Haft­be­din­gun­gen (auch für Fami­li­en) und extrem nied­ri­ge Stan­dards für soge­nann­te siche­re Dritt­staa­ten außer­halb Euro­pas. Das bedeu­tet: Ein gro­ßer Teil der Flücht­lin­ge wird in Zukunft kein regu­lä­res Asyl­ver­fah­ren in einem EU-Land durch­lau­fen, son­dern nur noch ein beschleu­nig­tes Ver­fah­ren an den EU-Außen­gren­zen, in des­sen Ver­lauf sie als „nicht ein­ge­reist“ gel­ten – abge­schot­tet von der Außen­welt ohne die Chan­ce auf Bera­tung oder recht­li­che Unter­stüt­zung. Auch Kin­der müs­sen in die­sen haft­ähn­li­chen Bedin­gun­gen aus­har­ren, sogar eine Inhaft­nah­me von Kin­dern wäh­rend des Grenz­ver­fah­rens ist nicht ausgeschlossen.

In die soge­nann­ten siche­ren Dritt­staa­ten kön­nen Schutz­su­chen­de, die nach Euro­pa geflo­hen sind, abge­scho­ben wer­den, ohne dass ihre tat­säch­li­chen Flucht­grün­de zuvor geprüft wur­den – ein­fach, weil in einer Ver­ein­ba­rung zwi­schen der EU und dem Dritt­staat fest­ge­legt wur­de, dass zumin­dest Tei­le des Lan­des „sicher“ sind. Die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on zum Bei­spiel muss dort nicht gelten.

Mehr Infor­ma­tio­nen zur GEAS-Reform:

(Wei­te­re Details sind ab Mitt­woch­mit­tag nach­zu­le­sen unter den News­tex­ten von PRO ASYL.)

Nach einem Scree­ning wer­den Asyl­grenz­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gun­gen an den Außen­gren­zen für bestimm­te Per­so­nen­grup­pen ver­pflich­tend sein, sie kön­nen zwölf Wochen dau­ern. Ins­ge­samt kön­nen geflüch­te­te Men­schen bis zu sechs Mona­te an den Außen­gren­zen fest­ge­hal­ten wer­den, da sich noch ein neu­es Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren anschließt. Im Fall eines der neu­en Aus­nah­me­zu­stän­de kann dies aus­ge­wei­tet wer­den. Die Mit­glied­staa­ten kön­nen die Grenz­ver­fah­ren zudem auch auf Men­schen anwen­den, die über angeb­lich siche­re Dritt­staa­ten geflo­hen sind. Fai­re Asyl­ver­fah­ren wird es an den Außen­gren­zen nicht geben, wie die lang­jäh­ri­ge Erfah­rung aus der Pra­xis zeigt. Beson­ders dra­ma­tisch ist, dass es nicht ein­mal Aus­nah­men für Kin­der mit ihren Fami­li­en geben wird. Hier­für woll­te sich die Bun­des­re­gie­rung ein­set­zen. Das Par­la­ment hat­te zumin­dest eine Alters­gren­ze von zwölf Jah­ren ver­langt – aber dies dann in den Ver­hand­lun­gen aufgegeben.

Auch kön­nen mit der Eini­gung künf­tig deut­lich mehr außer­eu­ro­päi­sche Dritt­staa­ten als „sicher“ ein­ge­stuft wer­den, um Flücht­lin­ge in die­se Län­der abzu­schie­ben. Weder muss in dem Dritt­staat die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on gel­ten noch muss das gan­ze Land „sicher“ sein. Wenn es eine ent­spre­chen­de Ver­ein­ba­rung zwi­schen Dritt­staat und EU gibt, soll die „Sicher­heit“ schlicht ange­nom­men wer­den kön­nen. Dadurch wird die Mög­lich­keit eröff­net, dass Mit­glied­staa­ten sich weit­ge­hend aus dem Flücht­lings­schutz zurück­zie­hen, indem sie Nach­bar­län­der oder ande­re Staa­ten ent­lang der Flucht­rou­ten als „sicher“ einstufen.

Das wird dazu füh­ren, dass Men­schen, die nach Euro­pa geflo­hen sind, ohne Prü­fung ihrer tat­säch­li­chen Flucht­grün­de in die­se Län­der abge­scho­ben wer­den. Mit der Reform kann die Blau­pau­se des EU-Tür­kei- Deals ein­fa­cher auf wei­te­re Dritt­staa­ten über­tra­gen wer­den, obwohl gera­de die­ser Deal zu immensem Leid und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen geführt hat. In Grie­chen­land gilt die Tür­kei auf Grund­la­ge des Deals unter ande­rem für syri­sche und afgha­ni­sche Flücht­lin­ge als „sicher“, ihre Asyl­ver­fah­ren wer­den des­we­gen als „unzu­läs­sig“ abge­lehnt – nach den Grün­den, war­um sie ihr Her­kunfts­land ver­las­sen haben, wer­den sie nicht mehr gefragt.

Auch auf die beson­ders toxi­sche Kri­sen­ver­ord­nung wur­de sich von den Gesetz­ge­bern geei­nigt (mehr Infor­ma­tio­nen hier). Hier lagen Mit­glied­staa­ten und Euro­pa­par­la­ment beson­ders weit aus­ein­an­der – doch erneut setz­ten sich pri­mär die Mit­glied­staa­ten durch. Damit kön­nen im Fall von Kri­sen und „Instru­men­ta­li­sie­rung von Migrant*innen“ die Grenz­ver­fah­ren mas­siv aus­ge­wei­tet wer­den – sowohl was die Dau­er der Ver­fah­ren angeht als auch wer alles in den Grenz­ver­fah­ren sein/ihr Asyl­ver­fah­ren durch­lau­fen muss. Bis­lang hat­te das Euro­pa­par­la­ment das Kon­zept der „Instru­men­ta­li­sie­rung“ noch nicht akzep­tiert, auch weil erheb­li­che Grund­rechts­be­den­ken damit ein­her­ge­hen. Doch auch dies fin­det sich nun in der Eini­gung wie­der und schafft damit die Basis für zukünf­ti­ge Aus­nah­me­zu­stän­de an den Außen­gren­zen, in denen es zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen wie bru­ta­len Push­backs kom­men wird.

Die bis­he­ri­ge Dub­lin-III-Ver­ord­nung, die fest­legt, wel­cher Mit­glied­staat für ein Asyl­ver­fah­ren zustän­dig ist, wird durch die Ver­ord­nung für ein Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment ersetzt. Doch vie­les wird beim alten blei­ben, Grund­pro­ble­me des euro­päi­schen Asyl­sys­tems wer­den nicht gelöst. Denn wei­ter­hin sind es die Außen­grenz­staa­ten, die pri­mär für die Durch­füh­rung der Asyl(grenz)verfahren zustän­dig sind. Beim EU-Par­la­ment gab es zumin­dest den Ansatz, durch einen star­ken Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus einen gewis­sen Neu­an­fang zu wagen. Doch die Mit­glied­staa­ten haben sich auch hier durch­ge­setzt. Ergeb­nis ist, dass die Auf­nah­me von Schutz­su­chen­den als Soli­da­ri­täts­maß­nah­me gleich­ge­stellt wird mit Geld­zah­lun­gen oder Pro­jek­ten in Dritt­staa­ten, die der Flucht­ver­hin­de­rung die­nen. Es ist zu erwar­ten, dass das gan­ze Sys­tem sogar noch büro­kra­ti­scher wird als die aktu­el­len Dublin-Regeln.

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