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Im Jahr 2015 hat die Europäische Union einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei abgeschlossen. Seitdem nutzt Erdogan die Vereinbarung immer wieder um Druck auszuüben. Ein deutsches Gericht meldet nun Bedenken an den Abläufen im Rahmen des Deals an. Foto: dpa

Das VG München hat die Überstellung eines Flüchtlings aus Syrien nach Griechenland verhindert, weil ihm dort aufgrund des EU-Türkei-Deals die Abschiebung in die Türkei droht. Der Deal steht bereits seit seiner Vereinbarung öffentlich in der Kritik. Der aktuelle Umgang der Türkei mit Geflüchteten aus Syrien bestätigt die Befürchtungen.

Das Ver­wal­tungs­ge­richt Mün­chen hat­te am 17. Juli 2019 im Eil­ver­fah­ren die bereits geplan­te Dub­lin-Rück­füh­rung nach Grie­chen­land gestoppt, weil dem Schutz­su­chen­den dort eine Ket­ten­ab­schie­bung in die Tür­kei dro­hen würde.

PRO ASYL und Equal Rights Bey­ond Bor­ders beglei­ten das Ver­fah­ren in Deutsch­land, in Grie­chen­land unter­stützt unse­re grie­chi­sche Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) den Fall. Dies ist der ers­te bekann­te Fall die­ser Art in Deutschland.

Keine inhaltliche Prüfung des Asylgesuchs

2018 war der jun­ge Syrer über die Tür­kei nach Kos geflo­hen, eine der grie­chi­schen Inseln in der Ägä­is. Wie es der EU-Tür­kei Deal vor­sieht, wur­de sein Asyl­an­trag dort als »unzu­läs­sig« abge­lehnt, da die Tür­kei für ihn ein »siche­rer Dritt­staat« sei. Sein Asyl­an­trag wur­de also gar nicht erst inhalt­lich geprüft. Dass er als syri­scher Flücht­ling nor­ma­ler­wei­se in Euro­pa einen Schutz­sta­tus erhal­ten wür­de, hat kei­ne Rol­le gespielt. Damit droh­te die Abschie­bung in die Türkei.

Am 18. März 2016 wur­de zwi­schen der EU und der Tür­kei ver­ein­bart, dass auf grie­chi­schen Inseln ankom­men­de Asyl­su­chen­de in die Tür­kei zurück­ge­scho­ben wer­den. Statt den Asyl­an­trag inhalt­lich zu prü­fen, wer­den die Betrof­fe­nen dafür auf den Inseln fest­ge­hal­ten. Die Kon­se­quenz: Tau­sen­de Men­schen leben unter unmensch­li­chen Zustän­den, die kata­stro­pha­le Lage vor Ort scheint zur Nor­ma­li­tät gewor­den zu sein. 

Seit 2016 hat sich die Situa­ti­on in der Tür­kei ver­schlech­tert, beson­ders durch die repres­si­ve Ant­wort der tür­ki­schen Regie­rung auf den geschei­ter­ten Putsch­ver­such – nir­gend­wo sonst sind so vie­le Journalist*innen inhaf­tiert, Menschenrechtler*innen wer­den vor Gericht gestellt. Beson­ders fatal: Die Tür­kei hat die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) nur mit geo­gra­phi­schem Vor­be­halt rati­fi­ziert: Sie gilt nicht im Hin­blick auf Schutz­su­chen­de außer­halb Euro­pas. Vor allem in den letz­ten Mona­ten schiebt sie sogar Hun­der­te Flücht­lin­ge nach Syri­en ab.

Flucht vor der drohenden Abschiebung

Aus Angst davor floh der jun­ge Syrer wei­ter nach Deutsch­land, wo sei­ne Fami­lie wohnt. Kurz nach der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze wur­de er von der Bun­des­po­li­zei auf­ge­grif­fen und sofort in Haft genom­men. Aus der Haft her­aus stell­te er einen Asyl­an­trag. Die­ser wur­de vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) abge­lehnt, da Grie­chen­land nach der Dub­lin-Ver­ord­nung für die Prü­fung des Asyl­ver­fah­rens zustän­dig sei. Erneut wur­de der Schutz­su­chen­de also unab­hän­gig von sei­ner Flucht­ge­schich­te aus for­ma­len Grün­den abge­lehnt, eine inhalt­li­che Prü­fung erfolg­te nicht. Die Über­stel­lung nach Grie­chen­land war bereits ange­setzt. Nur dank sei­ner Fami­lie in Deutsch­land, dem enor­men Enga­ge­ment der Rechts­ver­tre­tung sowie der unter­stüt­zen­den Orga­ni­sa­tio­nen konn­te der Betrof­fe­ne gegen die­se Ent­schei­dung vor Gericht ziehen.

Nur dank sei­ner Fami­lie in Deutsch­land, dem enor­men Enga­ge­ment der Rechts­ver­tre­tung sowie der unter­stüt­zen­den Orga­ni­sa­tio­nen konn­te der Betrof­fe­ne gegen die­se Ent­schei­dung vor Gericht ziehen.

Deutschland: VG stoppt Abschiebung wegen Zweifel an der Rechtmäßigkeit

Das VG stoppt die Abschie­bung mit der Begrün­dung: Auf­grund der bereits ergan­ge­nen Unzu­läs­sig­keits­ent­schei­dung in Grie­chen­land droht dem Klä­ger bei Rück­kehr die unmit­tel­ba­re Gefahr der Abschie­bung in die Tür­kei. Dies ist ins­be­son­de­re des­halb recht­lich frag­wür­dig, da Syrer*innen in der Tür­kei kei­nen Flücht­lings­sta­tus gemäß der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on, son­dern nur einen soge­nann­ten »tem­po­rä­ren Schutz« erhal­ten. Der aller­dings gewährt weder den glei­chen Schutz noch die glei­chen Rech­te, die Flücht­lin­gen gemäß der Kon­ven­ti­on zuste­hen. Das Gericht stellt daher die Fra­ge, ob es in Grie­chen­land sys­te­mi­sche Män­gel bezüg­lich der Anwen­dung des euro­pa­recht­li­chen Kon­zep­tes des »siche­ren Dritt­staats« gäbe, als der die Tür­kei ein­ge­stuft wird.

In Griechenland droht Haft 

Dass dies der ers­te bekann­te Fall vor einem deut­schen Gericht ist, hat vor allem damit zu tun, dass die Betrof­fe­nen in Grie­chen­land auf den Ägä­is-Inseln – ohne effek­ti­ven Rechts­schutz – fest­ge­hal­ten wer­den. Sie wer­den ver­pflich­tet, für die Län­ge des Ver­fah­rens auf den Inseln aus­zu­har­ren. Zweck des Deals war, dass die Schutz­su­chen­den das grie­chi­sche Fest­land nie errei­chen, son­dern mög­lichst schnell in die Tür­kei zurück­ge­scho­ben wer­den oder, auf­grund der Situa­ti­on und der Per­spek­tiv­lo­sig­keit in den Hot­spots, frei­wil­lig ausreisen.

Dass dies der ers­te bekann­te Fall vor einem deut­schen Gericht ist, hat vor allem damit zu tun, dass die Betrof­fe­nen in Grie­chen­land auf den Ägä­is-Inseln – ohne effek­ti­ven Rechts­schutz – fest­ge­hal­ten werden.

Auch in die­sem Fall konn­te der jun­ge Syrer nur zu sei­ner Fami­lie in Deutsch­land gelan­gen, weil er Kos eigen­stän­dig ver­las­sen hat. Wegen die­ser Über­schrei­tung droht ihm im Fal­le der Abschie­bung nach Grie­chen­land auto­ma­tisch Haft – ohne wei­te­re Prü­fung, für unbe­stimm­te Zeit.

Systemische Mängel im Asylsystem

Auch jen­seits der Haft ist die Lage auf den Inseln und dem Fest­land alar­mie­rend, Unter­brin­gung oder ande­re For­men der Unter­stüt­zung sind nicht gesi­chert. Die sys­te­ma­ti­schen Män­gel des grie­chi­schen Auf­nah­me­sys­tems hal­ten an. Das gilt in sämt­li­chen Berei­chen, ins­be­son­de­re für Schutz­su­chen­de die inhaf­tiert wor­den sind.

Die sys­te­mi­schen Män­gel bezie­hen sich auch auf das Asyl­ver­fah­ren selbst: Zwar hat er Kla­ge gegen die Ableh­nung sei­nes Asyl­an­trags als unbe­grün­det ein­ge­legt, die­se gilt jedoch bereits jetzt als aus­sichts­los. Im Sep­tem­ber 2017 hat das obers­te grie­chi­sche Ver­wal­tungs­ge­richt Grie­chen­lands in einer knap­pen, aber klar poli­ti­schen Ent­schei­dung die Anwen­dung des EU-Tür­kei-Deals für syri­sche Schutz­su­chen­de bestä­tigt und die Tür­kei als sicher ein­ge­stuft. Der Fall gilt als Prä­ze­denz­fall.  Seit­her wer­den fast alle Kla­gen abge­lehnt. Auch sei­ne Kla­ge gilt daher als aus­sichts­los – die sich ver­schär­fen­de Situa­ti­on in der Tür­kei bleibt außer acht.

Seit Mitte Juli: Massenhafte Abschiebungen aus der Türkei nach Syrien

Der­weil ver­schärft sich die Situa­ti­on für syri­sche Flücht­lin­ge in der Tür­kei dras­tisch. Seit Mit­te Juli wur­den hun­der­te syri­sche Flücht­lin­ge abge­scho­ben, u.a. in die wei­ter­hin umkämpf­te Regi­on Idlib. Am 23. Juli setz­te der Gou­ver­neur von Istan­bul den in der Stadt leben­den syri­schen Flücht­lin­gen ohne Regis­trie­rung oder mit Regis­trie­run­gen aus ande­ren Regio­nen eine Frist von einem Monat, um in die­se Regio­nen zurück zu keh­ren. Schon in der Woche davor wur­de aber laut Berich­ten ange­fan­gen Syrer*innen ver­stärkt zu kontrollieren.

Die syri­sche Beob­ach­tungs­stel­le für Men­schen­rech­te berich­tet, dass inner­halb weni­ger Tage mehr als 140 syri­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge nach Syri­en abge­scho­ben wur­den, dar­un­ter auch Per­so­nen, die sich wäh­rend einer Poli­zei­kon­trol­le als in einer ande­ren Pro­vinz regis­trier­te »tem­po­rär Schutz­be­rech­tig­te« aus­wei­sen konn­ten. Laut dem Forum syri­scher Ver­ei­ne wur­den bereits in der Woche vor der Ankün­di­gung 600 Syrer*innen aus Istan­bul nach Syri­en abgeschoben.

Ein 21-Jäh­ri­ger Syrer, der erst vor kur­zem in die Tür­kei geflüch­tet war und sich in Istan­bul auf­grund des Regis­trie­rungs­stopps nicht mehr regis­trie­ren konn­te, wur­de laut Medi­en­be­rich­ten von der Poli­zei auf­ge­grif­fen und in ein Haft­zen­trum am Ran­de Istan­buls gebracht. Dort wur­de er gezwun­gen, ein tür­ki­sches Doku­ment zu unter­schrei­ben, wel­ches er nicht ver­stand. Anschlie­ßend wur­de er über den Grenz­über­gang Bab al-Hawa in die syri­sche Pro­vinz Idlib gebracht. Die Medi­en­be­rich­te wur­den von der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Human Rights Watch durch eige­ne Recher­chen bestätigt.

Verschärfte Lage für Geflüchtete in der Türkei

Die Abschie­bun­gen rei­hen sich ein in eine gene­rell für syri­sche Flücht­lin­ge ver­schärf­te Lage in der Tür­kei. So haben schon 2018 meh­re­re Pro­vin­zen, dar­un­ter auch Istan­bul, auf­ge­hört Syrer*innen zu regis­trie­ren – wodurch sie ohne Sta­tus und ohne Schutz in der Tür­kei leben. Auch wach­sen die Res­sen­ti­ments in der Tür­kei gegen Flücht­lin­ge und es kommt zu Übergriffen.

Ein »siche­rer Dritt­staat« muss das Refou­le­ment-Ver­bot ein­hal­ten, so schreibt es das euro­päi­sche Recht vor!

Die­se Abschie­bun­gen sind ein kla­rer Ver­stoß gegen das völ­ker­recht­li­che Abschie­bungs­ver­bot, das soge­nann­te Refou­le­ment-Ver­bot, denn in Syri­en droht wei­ter­hin poli­ti­sche Ver­fol­gung und Gefahr durch Kämp­fe – beson­ders in Idlib, wel­ches täg­lich vom Assad-Regime bom­bar­diert wird. Damit sind die­se Ent­wick­lun­gen auch für den Fall vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Mün­chen rele­vant, denn ein »siche­rer Dritt­staat« muss das Refou­le­ment-Ver­bot ein­hal­ten, so schreibt es das euro­päi­sche Recht vor!

Der Sinn und Zweck hin­ter dem Begriff »siche­rer Dritt­staat« ist, dass eine Per­son auf einen ver­meint­lich mög­li­chen Schutz in einem ande­ren Land ver­wie­sen wer­den kann, in dem sie sich vor­her auf­ge­hal­ten hat­te. Der schutz­su­chen­den Per­son wird dann aus die­sem Grund kein Asyl gewährt – unab­hän­gig von den Flucht­grün­den. Eine inhalt­li­che Prü­fung des Asyl­an­trags zur Schutz­wür­dig­keit fin­det gar nicht erst statt.  Die recht­li­che Defi­ni­ti­on fin­det sich in Art. 38 der Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie der Euro­päi­schen Uni­on und umfasst u.a. fol­gen­de Voraussetzungen:

  1. Die Mög­lich­keit für die Per­son in dem Land einen Schutz­sta­tus gemäß der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on mit den ent­spre­chen­den Rech­ten zu bekommen;
  2. Die Ein­hal­tung des Gebots der Nicht-Zurück­wei­sung (Non-Refou­le­ment) durch das Land. 

Türkische Regierung droht mit Aussetzung des Deals 

Immer wie­der nutz­te die  Tür­kei den Deal als Druck­mit­tel gegen­über der EU und droh­te damit bei unlieb­sa­men Ent­schei­dun­gen, den Deal ein­sei­tig auf­zu­kün­di­gen.  Allein seit Anfang 2018 griff die Tür­kei min­des­tens fünf­mal auf die Droh­ge­bär­de zurück und konn­te damit häu­fig eine mil­de Hal­tung der EU gegen­über immer wei­ter aus­grei­fen­den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen erzielen.

Jüngst ver­schärf­te sich die Gang­art noch. Als Reak­ti­on auf EU Sank­tio­nen gegen­über der Tür­kei wegen Erd­gas­boh­run­gen vor Zypern und den aus­blei­ben­den Visa­er­leich­te­run­gen hat der tür­ki­sche Außen­mi­nis­ter Çavuşoğ­lu ange­kün­digt, das Rück­über­nah­me­ab­kom­men mit der EU »aus­zu­set­zen«. Die EU geht davon aus, dass der Deal wie bis­lang wei­ter läuft.

Ers­te Mel­dun­gen bestä­ti­gen, dass die Rück­füh­run­gen von Les­bos in die Tür­kei auch im August 2019 fort­ge­setzt wur­den. Erst kurz vor der Äuße­rung des tür­ki­schen Außen­mi­nis­ters waren wei­te­re €1,41 Mil­li­ar­den durch die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on zur Unter­stüt­zung von Flücht­lin­gen in der Tür­kei an die tür­ki­sche Regie­rung aus­ge­zahlt wor­den – auch das ist Teil des Deals mit der Regie­rung Erdoğan. Im August wur­den von der EU Kom­mis­si­on noch eine wei­te­re Auf­sto­ckung der Hil­fe um 127 Mil­lio­nen € angekündigt.

Stoppt Abschiebungen!

Der Über­stel­lungs­stopp durch das VG Mün­chen ver­deut­licht, dass auch Deutsch­land den men­schen­recht­li­chen Scheins des Deals nicht mehr auf­recht­erhal­ten kann. Der offe­ne und kla­re Ver­stoß der Tür­kei gegen das Refou­le­ment-Ver­bot ist nur die Spit­ze des Eis­ber­ges der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, die im Rah­men des EU Tür­kei Deals zur Nor­ma­li­tät gewor­den sind.

Wäh­rend immer mehr tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge vor dem Regime Erdoğan flie­hen, ist die Fas­sa­de des Deals zwi­schen EU und der Tür­kei im drit­ten Jahr voll­kom­men gebrö­ckelt. Wir schlie­ßen uns dem Appell u.a. von unse­rer Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an für die Wah­rung von Flücht­lings­rech­ten an. Wir for­dern: Stoppt den Deal!

(beb / kk)