07.05.2024
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Demonstration des Netzwerks "Hand in Hand" am 03.02.24 in Berlin. Foto: Malte Huebner

Das Jahr 2023 war geprägt von populistischen Debatten. Flüchtlinge wurden zum Sündenbock für gesellschaftliche Missstände gemacht und ihre Abschiebung und Abwehr als vermeintliche Lösung präsentiert. Wir haben die Zahlen, die dabei oft als Argumente angeführt werden, unter die Lupe genommen und wollen so zur Versachlichung der Debatte beitragen.

Sei es beim soge­nann­ten Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz, bei der Bezahl­kar­te oder bei der Reform des euro­päi­schen Asyl­sys­tems: Für die zahl­rei­chen Abschre­ckungs­maß­na­men der im letz­ten Jahr erschre­ckend restrik­ti­ven Flücht­lings­po­li­tik wur­de immer wie­der mit Zah­len argu­men­tiert, die bei nähe­rem Blick offen­ba­ren, dass die ver­meint­li­chen »Lösun­gen« die bestehen­den Pro­ble­me und Her­aus­for­de­run­gen kaum wer­den lösen können.

114 Mil­lio­nen

Zahl der Flücht­lin­ge steigt auf Rekordwert

Trauriger Rekord: Weltweite Flüchtlingszahl binnen nur sieben Jahren verdoppelt

Es ist wei­ter­hin Krieg in der Ukrai­ne. In Gaza ent­zün­de­te sich der jahr­zehn­te­lan­ge Kon­flikt erneut auf bru­tals­te Wei­se. Neben die­sen von media­ler Auf­merk­sam­keit beglei­te­ten Kri­sen trieb der Krieg im Sudan über acht Mil­lio­nen Men­schen in die Flucht, in Deutsch­land weit­ge­hend unbe­merkt. Und auch die Ter­ror­herr­schaft der Tali­ban in Afgha­ni­stan sowie wei­te­re fast ver­ges­se­ne Kri­sen, wie die in Syri­en, im Jemen oder in der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kon­go, mach­ten die Welt für vie­le Men­schen zu einem unsi­che­ren Ort. Ins­ge­samt nah­men und neh­men welt­weit Gewalt und Ter­ror zu, von den Fol­gen des Kli­ma­wan­dels gar nicht zu sprechen.

Die­se welt­po­li­ti­sche Lage schlägt sich in trau­ri­ger Wei­se auch in den Flücht­lings­zah­len nie­der: Erst im Jahr 2022 hat­te die Zahl der Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­nen in der Welt die Rekord­mar­ke von 100 Mil­lio­nen durch­bro­chen, bis Ende 2023 stieg sie auf einen neu­en Höchst­wert von 114 Mil­lio­nen. Inner­halb von gera­de ein­mal sie­ben Jah­ren hat sich die welt­wei­te Flücht­lings­zahl verdoppelt.

50 Prozent mehr Asylanträge in Deutschland

Obwohl die meis­ten Flücht­lin­ge im glo­ba­len Süden ver­blei­ben und rund drei Vier­tel der welt­weit Ver­trie­be­nen vor allem in ärme­ren Staa­ten leben, ist auch Deutsch­land zu einem der größ­ten Auf­nah­me­län­der für Flücht­lin­ge gewor­den – nicht zuletzt durch die Auf­nah­me von über einer Mil­li­on Flücht­lin­gen aus der Ukrai­ne, die vor allem 2022 zu uns flohen.

Im Jahr 2023 ist die Zahl der Men­schen, die in Deutsch­land Asyl bean­trag­ten, stark ange­stie­gen: Laut dem Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) haben 329.100 Men­schen einen Asy­l­erst­an­trag gestellt. Der Anstieg fiel mit 51 Pro­zent im Ver­gleich zu 2022 mit 217.800 Erst­an­trä­gen deut­lich aus. Davon wur­den 22.600 Asyl­an­trä­ge für hier gebo­re­ne Kin­der gestellt. Es sind also mehr als 300.000 Men­schen neu nach Deutsch­land ein­ge­reist, um hier Schutz zu suchen.

Ange­sichts der glo­ba­len Kri­sen und Kon­flik­te und des dra­ma­ti­schen Anstiegs der welt­wei­ten Flucht­be­we­gun­gen ist eine sol­che Zahl wenig über­ra­schend, wenn­gleich sie deut­lich unter den Asyl­an­trags­zah­len der Jah­re 2015 und 2016 liegt. Mit Blick auf die Gewalt in der Welt wer­den wir uns auch künf­tig auf hohe Flücht­lings­zah­len ein­stel­len müs­sen. So lan­ge poli­ti­sche Lösun­gen für die stei­gen­de Zahl an Kon­flik­ten nicht in Sicht sind, soll­ten Poli­tik und Gesell­schaft Flucht und deren Aus­wir­kun­gen als Nor­ma­li­tät begrei­fen lernen.

Hauptherkunftsland ist seit zehn Jahren Syrien

Bereits zum zehn­ten Mal in Fol­ge kamen die meis­ten Asyl­su­chen­den in Deutsch­land aus Syri­en, wo der blu­ti­ge Bür­ger­krieg bereits im 14. Jahr tobt. Mit 102.900 Asyl­an­trä­gen (+ 45 Pro­zent) waren das fast ein Drit­tel aller Erst­an­trä­ge. Auf Rang zwei folgt die Tür­kei (61.200), mit einem sehr deut­li­chen Anstieg von 156 Pro­zent, auf Rang drei Afgha­ni­stan (51.300, + 41 Pro­zent). Es kamen also fast zwei Drit­tel aller Asyl­su­chen­den allein aus die­sen drei Staaten.

Mit deut­li­chem Abstand folgt an vier­ter Stel­le der Irak (11.200, – 27 Pro­zent), das ein­zi­ge der Haupt­her­kunfts­län­der mit rück­läu­fi­gen Zah­len. Der Iran (9.400, + 48 Pro­zent), wo die Stra­ßen­pro­tes­te nach der Ermor­dung von Mah­sa Ami­ni im Jahr 2022 zwar nach­ge­las­sen haben, die staat­li­che Repres­si­on – ins­be­son­de­re gegen Frau­en – aber unver­min­dert anhält, kommt an fünf­ter Stel­le. Auf Rang 6 folgt das zum »siche­ren Her­kunfts­land« erklär­te Geor­gi­en (8.400, + 6 Pro­zent). Bei Russ­land schlu­gen sich die Mobi­li­sie­run­gen für den Ukrai­ne-Krieg sowie die zuneh­men­de Repres­si­on im Land in der Asyl­sta­tis­tik nie­der: Mit 169 Pro­zent mehr Asyl­an­trä­gen (7.700) ver­zeich­ne­te die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on auf Rang 7 der Haupt­her­kunfts­län­der den pro­zen­tu­al stärks­ten Anstieg.

Trotz restriktiver Anerkennungspraxis: Schutzquote weiter auf Rekordniveau

Die teils dra­ma­ti­sche men­schen­recht­li­che Situa­ti­on in den Haupt­her­kunfts­län­dern zeigt sich auch in der Aner­ken­nungs­quo­te, die erneut auf sehr hohem Niveau lag: Rund 69 Pro­zent der Men­schen, deren Asyl­grün­de vom BAMF geprüft wur­den, erhiel­ten Schutz in Deutsch­land. Damit ging die Quo­te im Ver­gleich zur Rekord­quo­te des Vor­jah­res (72 Pro­zent) leicht zurück. Eine Aner­ken­nung als Flücht­ling erhiel­ten 22 Pro­zent, den sub­si­diä­ren Schutz 36 Pro­zent und 11 Pro­zent wur­de ein Abschie­bungs­ver­bot zuer­kannt. Abge­lehnt wur­den 31 Pro­zent der Menschen.

Das BAMF weist in sei­ner amt­li­chen Sta­tis­tik nur eine Schutz­quo­te von 52 Pro­zent aus. Das liegt dar­an, dass 64.500 »for­mel­le Ent­schei­dun­gen« mit ein­ge­rech­net sind, bei denen kei­ne Prü­fung der Asyl­grün­de statt­fand. Die­se sind zwar nicht zu ver­nach­läs­si­gen, aber sie ver­zer­ren das Bild über die tat­säch­li­che Schutz­be­dürf­tig­keit asyl­su­chen­der Men­schen und die Situa­ti­on in deren Herkunftsländern.

Die Hälf­te der for­mel­len bezie­hungs­wei­se über 12 Pro­zent aller BAMF-Ent­schei­dun­gen waren soge­nannt Dub­lin-Ent­schei­dun­gen, nach denen ein ande­res euro­päi­sches Land für die Prü­fung des Asyl­an­trags zustän­dig sein soll. Beson­ders Men­schen aus Afgha­ni­stan und Syri­en erhiel­ten Dub­lin-Ent­schei­dun­gen, also Men­schen aus Län­dern mit höchs­ten Schutz­quo­ten. Dies ver­deut­licht, wie die amt­li­chen Zah­len das Bild der tat­säch­li­chen Asyl­ge­wäh­rung verzerren.

Dublin-Wahnsinn: 90.000 Verfahren für 800 Überstellungen »netto«

Das BAMF hat sogar in fast einem Vier­tel (23 Pro­zent) aller Asyl­ver­fah­ren zunächst ein Dub­lin-Ver­fah­ren ein­ge­lei­tet. Das bedeu­tet zwar einen deut­li­chen Rück­gang im Ver­gleich zu den Vor­jah­ren. Den­noch waren 74.600 Men­schen davon betrof­fen und muss­ten oft mona­te­lang mit der Angst vor Abschie­bung in einen ande­ren EU-Staat leben.

Die meis­ten Über­nah­me­ersu­chen gin­gen an Kroa­ti­en (16.700) und Ita­li­en (15.500). Die­se bei­den Staa­ten sind für ihren men­schen­recht­lich höchst pro­ble­ma­ti­schen Umgang mit Flücht­lin­gen bekannt, wes­halb Abschie­bun­gen dort­hin oft­mals von Gerich­ten gestoppt wurden.

Die ita­lie­ni­sche Regie­rung wei­gert sich seit Dezem­ber 2022 Flücht­lin­ge nach der Dub­lin-Ver­ord­nung zurück­zu­neh­men, was das BAMF jedoch nicht dar­an hin­dert, wei­ter die­se hoch büro­kra­ti­schen Ver­fah­ren durch­zu­füh­ren. Nach offi­zi­el­len Anga­ben wur­den elf Per­so­nen nach Ita­li­en über­stellt, wohl­ge­merkt aus 15.500 Ver­fah­ren. Ähn­lich beim Bei­spiel Grie­chen­land, wohin auf­grund der men­schen­recht­li­chen Lage kaum Über­stel­lun­gen statt­fin­den dür­fen: 5.500 Dub­lin-Ver­fah­ren hat­ten drei Über­stel­lun­gen zur Folge.

Ins­ge­samt gab es 5.100 Dub­lin-Über­stel­lun­gen aus Deutsch­land. Bezo­gen auf die Zahl der ein­ge­lei­te­ten Dub­lin-Ver­fah­ren wur­den weni­ger als sie­ben Pro­zent abge­scho­ben. Die­ses Miss­ver­hält­nis wird noch absur­der, wenn man bedenkt, dass es auch aus ande­ren euro­päi­schen Staa­ten Dub­lin-Über­nah­me­ersu­chen (15.600) an und ‑Über­stel­lun­gen (4.300) nach Deutsch­land gab. Im Ergeb­nis war das BAMF im ver­gan­ge­nen Jahr also mit mehr als 90.000 hoch­bü­ro­kra­ti­schen ein- und aus­ge­hen­den Dub­lin-Ver­fah­ren beschäf­tigt, um im Ergeb­nis 800 Asyl­ver­fah­ren abge­ben zu können.

Viel bes­ser lässt sich die Inef­fi­zi­enz und das stu­re Fest­hal­ten an einem längst geschei­ter­ten Sys­tem kaum in Zah­len aus­drü­cken. Ein Sys­tem, das nicht nur beim BAMF und den Ver­wal­tungs­ge­rich­ten hohe per­so­nel­le und finan­zi­el­le Res­sour­cen ver­schlingt, son­dern vor allem in unzäh­li­gen Fäl­len unmensch­li­che Här­ten produziert.

Das Dub­lin-Sys­tem soll zwar künf­tig im Rah­men der Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems (GEAS) durch die Ver­ord­nung für ein Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment abge­löst wer­den. Doch vie­les wird unver­än­dert blei­ben oder sogar noch büro­kra­ti­scher wer­den, ohne dass das die Grund­pro­ble­me des euro­päi­schen Asyl­sys­tems löst. Auch die Unmensch­lich­keit eines Sys­tems, das nicht funk­tio­niert, wird lei­der blei­ben, wenn Staa­ten wie Grie­chen­land, Ita­li­en oder Kroa­ti­en nicht bereit sind, men­schen­wür­di­ge Bedin­gun­gen für Asyl­su­chen­de zu garantieren.

Kontrollen an deutschen Grenzen: Illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden?

Mit Umset­zung der GEAS-Reform zwin­gen die EU-Staa­ten zukünf­tig Schutz­su­chen­de, an der EU-Außen­gren­ze ihre Asyl­ver­fah­ren durch­zu­füh­ren. Damit wer­den sie erst gar nicht in die EU rein­ge­las­sen, mit dem Ziel, sie bei Ableh­nung von der Gren­ze aus direkt wie­der abschie­ben zu können.

Aber auch an den deut­schen Bin­nen­gren­zen wird seit Okto­ber 2023 ver­schärft kon­trol­liert. Die seit Jah­ren bestehen­den Kon­trol­len an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze wur­den auf die Gren­zen zur Schweiz, zu Tsche­chi­en und zu Polen aus­ge­wei­tet und wer­den bereits als Erfolg gefei­ert. Ins­ge­samt wur­den an deut­schen Land­gren­zen von Mit­te Okto­ber 2023 bis Mit­te Febru­ar 2024 knapp 23.000 uner­laub­te Ein­rei­sen fest­ge­stellt und fast 13.000 Men­schen an der Gren­ze oder im grenz­na­hen Bereich zurück­ge­wie­sen oder zurück­ge­scho­ben.

Recht­lich ist es jedoch ein­deu­tig, dass Asyl­su­chen­de an der Gren­ze nicht zurück­ge­wie­sen wer­den dür­fen. Aller­dings deu­ten die Zah­len zum Halb­jahr 2023, als es nur an der Gren­ze zu Öster­reich sta­tio­nä­re Kon­trol­len gab, dar­auf hin, dass es mög­li­cher­wei­se zu ille­ga­len Push-Backs von Schutz­su­chen­den kam und kommt. Es stell­ten näm­lich nur 17 Pro­zent der Men­schen nach erfolg­ter »uner­laub­ter Ein­rei­se« ein Asyl­ge­such, wäh­rend die­ser Anteil an den Gren­zen zur Schweiz oder Polen bei 62 Pro­zent lag und an allen ande­ren Lan­des­gren­zen bei 44 Pro­zent. Das legt die Ver­mu­tung nahe, dass Asyl­ge­su­che von der Bun­des­po­li­zei igno­riert wur­den. Auch die Zahl der Zurück­wei­sun­gen an der Gren­ze zu Öster­reich war mit 56 Pro­zent im Ver­hält­nis zu den »uner­laub­ten Ein­rei­sen« deut­lich höher als bei­spiels­wei­se an der pol­ni­schen (0,1 Pro­zent) oder tsche­chi­schen Gren­ze (0,6 Pro­zent). Zurück­ge­wie­sen wur­den vor allem Men­schen aus Afgha­ni­stan (2.900) und Syri­en (1.300) – es ist kaum vor­stell­bar, dass so vie­le von ihnen an der Gren­ze kein Asyl­ge­such geäu­ßert haben. Es ist zu befürch­ten, dass die Zah­len an den Gren­zen zu Polen oder Tsche­chi­en künf­tig ähn­lich aus­fal­len werden.

Hohe Schutzquoten für Syrien und Afghanistan

Von den Flücht­lin­gen, die es nach Deutsch­land geschafft und beim BAMF eine inhalt­li­che Asyl­prü­fung erhal­ten haben, hat­ten die­je­ni­gen aus Syri­en und Afgha­ni­stan die bes­ten Chan­cen auf Schutz. Asyl­su­chen­de aus Syri­en erhiel­ten in fast 100 Pro­zent der Fäl­le einen Schutz­sta­tus, es gab nur ver­ein­zelt Ableh­nun­gen. 14 Pro­zent wur­den als Flücht­lin­ge aner­kannt, 86 Pro­zent erhiel­ten den sub­si­diä­ren Schutz, hin­zu kamen noch eini­ge Abschie­bungs­ver­bo­te (weni­ger als 0,5 Prozent).

Aller­dings waren rund 90 Pro­zent der Flücht­lings­an­er­ken­nun­gen von Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen abge­lei­tet, bei­spiels­wei­se für in Deutsch­land gebo­re­ne Babys von seit Jah­ren aner­kann­ten Flücht­lin­gen. Neu ein­rei­sen­de Asyl­su­chen­de aus Syri­en hat­ten also kaum noch eine Chan­ce auf den Flüchtlingsstatus.

Auch Men­schen aus Afgha­ni­stan fan­den fast immer Schutz (99 Pro­zent), wenn das BAMF ihre Asyl­an­trä­ge prüf­te. 45 Pro­zent wur­den als Flücht­lin­ge aner­kannt, drei Pro­zent erhiel­ten sub­si­diä­ren Schutz und 50 Pro­zent ein Abschie­bungs­ver­bot. Etwas mehr als ein Pro­zent wur­den abge­lehnt, Ten­denz aller­dings stei­gend: Im ers­ten Quar­tal 2024 wur­den drei Pro­zent der Schutz­su­chen­den aus Afgha­ni­stan abge­lehnt. Der poli­ti­sche Druck ange­sichts seit Jah­ren hoher Flücht­lings­zah­len scheint sich also auch in der BAMF-Ent­schei­dungs­pra­xis zu Afgha­ni­stan nie­der­zu­schla­gen – der desas­trö­sen Men­schen­rechts­la­ge unter der Ter­ror­herr­schaft der Tali­ban zum Trotz. Immer­hin erkann­te das BAMF Frau­en und Mäd­chen aus Afgha­ni­stan zuneh­mend als GFK-Flücht­lin­ge an, nach­dem eini­ge EU-Staa­ten Afgha­nin­nen als ver­folg­te sozia­le Grup­pe betrach­te­ten und schließ­lich auch die Euro­päi­sche Asyl­agen­tur ihre Aner­ken­nung emp­fahl, anstatt ihnen wie in den Vor­jah­ren zumeist nur Abschie­bungs­ver­bo­te zuzugestehen.

Steigende Türkei-Antragszahlen, Sturzflug der Schutzquote

Die in den letz­ten Jah­ren und ins­be­son­de­re 2023 deut­lich gestie­ge­nen Asyl­zah­len aus der Tür­kei stan­den einer noch restrik­ti­ve­ren BAMF-Ent­schei­dungs­pra­xis und stark gesun­ke­nen Schutz­quo­ten gegen­über. Obwohl sich die men­schen­recht­li­che Lage unter dem Regime Recep Tayyip Erdoğans kei­nes­wegs ver­bes­sert hat, erhiel­ten 2023 nur noch 18 Pro­zent Schutz (meist die Flücht­lings­an­er­ken­nung). Im Jahr 2020 waren es noch fast die Hälf­te und 2022 immer­hin noch mehr als ein Drittel.

Ins­be­son­de­re Kurd*innen waren und sind Leid­tra­gen­de die­ser Pra­xis, die im ver­gan­ge­nen Jahr rund 84 Pro­zent der Asyl­su­chen­den aus der Tür­kei aus­mach­ten. Im Gegen­satz zu Antrags­stel­len­den der tür­ki­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pe, die in rund zwei Drit­tel der Fäl­le vom BAMF Schutz erhiel­ten (65 Pro­zent), lag die Schutz­quo­te für die kur­di­sche Bevöl­ke­rungs­grup­pe aus der Tür­kei bei nur noch sechs Pro­zent (2022: elf Prozent).

Iran: Das BAMF lehnt ab, die Gerichte korrigieren

Ähn­lich restrik­tiv war die Linie gegen­über Schutz­su­chen­den aus dem Iran, obwohl Innen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser ange­sichts der men­schen­recht­lich schwie­ri­gen Lage in dem Land eine Ver­län­ge­rung des Ende 2023 aus­ge­lau­fe­nen Abschie­bungs­stopps unter­stütz­te. Die ihr unter­stell­te Asyl­be­hör­de lehn­te jedoch auch im ver­gan­ge­nen Jahr mehr als die Hälf­te der ira­ni­schen Asyl­su­chen­den ab, nur 45 Pro­zent der Men­schen erhiel­ten Schutz. Im lau­fen­den Jahr setz­te sich die­se Pra­xis in ver­schärf­ter Form fort: Nur noch 39 Pro­zent erhiel­ten im ers­ten Quar­tal 2024 Schutz. Mit der Men­schen­rechts­si­tua­ti­on im Iran ist eine Ableh­nungs­quo­te von mehr als 60 Pro­zent kaum erklärbar.

Die­se restrik­ti­ve BAMF-Linie wird auch von den Ver­wal­tungs­ge­rich­ten kri­tisch gese­hen. Zwar lie­gen uns bis­lang kei­ne amt­li­chen Gerichts­sta­tis­ti­ken für das Jahr 2023 vor. Aber laut per­so­nen­ba­sier­ten Aus­wer­tun­gen des BAMF haben Ver­wal­tungs­ge­rich­te im ver­gan­ge­nen Jahr in 54 Pro­zent der inhalt­lich über­prüf­ten Asyl­kla­gen von Iraner*innen nach­träg­lich einen Schutz­sta­tus zuge­spro­chen, zumeist die vol­le Flücht­lings­an­er­ken­nung. Eine solch ver­hee­ren­de Bilanz ist skan­da­lös und spricht ent­we­der für erheb­li­che Qua­li­täts­män­gel in der Asyl­be­hör­de oder für Ableh­nun­gen aus poli­tisch moti­vier­ten Gründen.

Ein Viertel aller BAMF-Bescheide war rechtswidrig

Auch beim Her­kunfts­land Tür­kei hoben Ver­wal­tungs­ge­rich­te vie­le BAMF-Beschei­de auf und erkann­ten häu­fig die Flücht­lings­ei­gen­schaft nach­träg­lich an: Jeder fünf­te inhalt­lich geprüf­te BAMF-Bescheid erwies sich als falsch und konn­te der gericht­li­chen Über­prü­fung nicht stand­hal­ten. Bezo­gen auf alle Her­kunfts­län­der ergibt die BAMF-Aus­wer­tung, dass 25 Pro­zent der inhalt­li­chen Gerichts­ent­schei­dun­gen zu einem (bes­se­ren) Schutz­sta­tus führ­ten und den ursprüng­li­chen BAMF-Bescheid als falsch und rechts­wid­rig einstuften.

Tau­sen­de Men­schen erhiel­ten also erst durch Kla­gen bei Gericht den ihnen zuste­hen­den Schutz­sta­tus – ange­sichts einer Ver­fah­rens­dau­er von durch­schnitt­lich 21 Mona­ten bei Asyl­kla­gen und den zuvor häu­fig mona­te­lan­gen Asyl­ver­fah­ren sind das oft Jah­re der Unge­wiss­heit, in denen ihnen wich­ti­ge Rech­te wie etwa das auf Fami­li­en­nach­zug vor­ent­hal­ten bleibt.

Mehr Abschiebungen, aber fast doppelt so viele »freiwillige Ausreisen«

Die Zah­len zei­gen: Im Jahr 2023 erhiel­ten die meis­ten Asyl­su­chen­den Schutz vom BAMF und den Gerich­ten und blei­ben dau­er­haft in Deutsch­land. Des­sen unge­ach­tet ziel­ten Maß­nah­men wie das »Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz« dar­auf ab, Men­schen ein­fa­cher abschie­ben zu kön­nen, statt zukunfts­fä­hi­ge Lösun­gen für den Groß­teil der Men­schen anzu­bie­ten, näm­lich denen, die bleiben.

Die Zahl der Abschie­bun­gen ist im letz­ten Jahr aber sogar deut­lich gestie­gen, mit 3.500 um 27 Pro­zent auf 16.400. Den­noch wur­de in poli­ti­schen Debat­ten beklagt, dass sich die Zahl unter dem Niveau vor der Pan­de­mie (22.100) bewegt und es wur­den Zusam­men­hän­ge zu über­las­te­ten Kom­mu­nen hergestellt.

Dabei ist es kei­nes­wegs so, dass der Staat bei Men­schen, die aus­rei­se­pflich­tig sind, immer Zwangs­mit­tel anwen­den muss. Im Gegen­teil: Die Zahl der »frei­wil­li­gen Aus­rei­sen« lag in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer deut­lich höher, als die Zahl der Abschie­bun­gen. Auch im ver­gan­ge­nen Jahr sind laut Ein­gangs­sta­tis­tik der Bun­des­po­li­zei mit 29.600 Men­schen fast dop­pelt so vie­le Men­schen »frei­wil­lig« aus­ge­reist, als abge­scho­ben wurden.

Da vie­le Men­schen sich nicht behörd­lich abmel­den, wenn sie aus­rei­sen, gibt es eine gro­ße Dun­kel­zif­fer und die tat­säch­li­che Zahl der »frei­wil­li­gen Aus­rei­sen« dürf­te noch deut­lich höher sein. Eine ver­meint­lich zu gerin­ge Zahl an Abschie­bun­gen bedeu­tet also nicht, dass Men­schen nicht das Land ver­las­sen, wenn sie aus­rei­sen müssen.

Härtere Abschiebungsgesetze führen vor allem zu mehr Grundrechtseingriffen

Ohne­hin zei­gen bereits fünf »Refor­men« im Bereich Abschie­bun­gen seit 2015, dass immer här­te­re Abschie­bungs­ge­set­ze nicht zu einem Rück­gang der Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen oder zu wesent­lich mehr Abschie­bun­gen füh­ren, son­dern vor allem zu ver­stärk­ten Ein­grif­fen in Frei­heits- und Men­schen­rech­te. Glei­ches ist auch von dem kürz­lich beschlos­se­nen »Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz« zu erwar­ten, das vor allem zu mehr Haft für Men­schen füh­ren wird, die nichts ver­bro­chen haben, außer um Schutz zu bit­ten. Zu einer Ent­las­tung der Kom­mu­nen wird aber auch die­se neu­er­li­che Reform nicht führen.

Abschiebungen oft aus praktischen oder rechtlichen Gründen unmöglich

Das zeigt auch die Zahl der Dul­dun­gen für Per­so­nen mit unge­klär­ter Iden­ti­tät: Knapp 17.300 Men­schen und damit weni­ger als neun Pro­zent der Aus­rei­se­pflich­ti­gen hat­ten Ende 2023 die­se »Dul­dung light«. Ihnen wur­de unter­stellt, dass sie ihre eige­ne Abschie­bung ver­hin­dern. Seit deren Ein­füh­rung im Jahr 2019 beweg­te sich die Zahl immer in die­ser Grö­ßen­ord­nung. Damit ist die immer wie­der sug­ge­rier­te Unter­stel­lung, die Men­schen wür­den sich ihrer Abschie­bung ver­wei­gern, falsch: Die Men­schen kön­nen in den meis­ten Fäl­len schlicht nicht abge­scho­ben werden.

Die Grün­de, war­um Men­schen gedul­det wer­den, sind viel­fäl­tig: 20.900 Men­schen hat­ten wegen fami­liä­ren Bin­dun­gen eine Dul­dung, 2.500 aus medi­zi­ni­schen Grün­den. In über 7.700 Fäl­len lagen »drin­gen­de huma­ni­tä­re oder per­sön­li­che Grün­de« vor, bei­spiels­wei­se die Been­di­gung der Schu­le oder die Betreu­ung kran­ker Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ger. 3.400 Men­schen hat­ten eine Dul­dung wegen eines Abschie­bungs­stopps, 6.400 wegen »ziel­staats­be­zo­ge­nen Abschie­bungs­hin­der­nis­sen«, also wegen dro­hen­der Gefah­ren für Leib und Leben im Her­kunfts­land. Hin­zu kamen 4.100 unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge und 6.100 Men­schen, die eine Dul­dung wegen eines Asyl­fol­ge­an­trags erhiel­ten. Auch 3.800 Men­schen mit Aus­bil­dungs­dul­dung und 1.100 Men­schen mit einer Beschäf­ti­gungs­dul­dung blie­ben aus­rei­se­pflich­tig, trotz Aus­bil­dung oder Arbeit.

Laut den Zah­len des Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ters (AZR) war der häu­figs­te Dul­dungs­grund jedoch »sons­ti­ge Dul­dungs­grün­de« (66.300 Fäl­le). Die Daten­la­ge des AZRs ent­hält dazu aber kei­ne genaue­ren Infor­ma­tio­nen – es kann sich zum Bei­spiel um Men­schen han­deln, die enge ver­wandt­schaft­li­che Bezie­hun­gen zu Per­so­nen mit Auf­ent­halts­recht haben. Ähn­lich ist es bei dem zweit­häu­figs­ten Dul­dungs­grund »feh­len­de Rei­se­do­ku­men­te« (47.000 Fäl­le): Die­se AZR-Kate­go­rie besagt nicht, dass die feh­len­den Rei­se­do­ku­men­te ursäch­lich für die Dul­dung waren. Unter ihnen waren näm­lich tau­sen­de Men­schen aus Afgha­ni­stan, der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on oder Syri­en – also Staa­ten, in die man die Men­schen auch mit Rei­se­do­ku­men­ten nicht hät­te abschie­ben können.

Unterm Strich kann man sagen: Zehn­tau­sen­de Men­schen hat­ten und haben gute, teils sogar zwin­gen­de Grün­de für einen Ver­bleib in Deutsch­land. Man­gels gesetz­li­cher Rege­lun­gen und auf­grund teils äußerst restrik­ti­ver aus­län­der­be­hörd­li­cher Pra­xis hat­ten sie jedoch nur eine Dul­dung und tru­gen so zur hohen Zahl der »Aus­rei­se­pflich­ti­gen« bei. Abschie­bung hin­ge­gen: unmöglich.

Menschenrechtliche Lage in vielen Ländern lässt Abschiebungen nicht zu

Dass For­de­run­gen nach und Geset­ze für mehr Abschie­bun­gen vor allem dem rech­ten Dis­kurs in die Hän­de spie­len, aber in der Sache an der Rea­li­tät vor­bei gehen, unter­streicht auch der Blick auf die Haupt­her­kunfts­län­der der »Aus­rei­se­pflich­ti­gen« und Gedul­de­ten Ende 2023: Irak (24.600), Afgha­ni­stan (14.300), Tür­kei (13.500), Rus­si­sche Föde­ra­ti­on (12.800), Nige­ria (12.700), Syri­en (10.300), Ser­bi­en (9.900) und Iran (9.200).

Grund für aus­blei­ben­de Abschie­bun­gen in sol­che Staa­ten ist nicht, dass Men­schen unter­tau­chen, son­dern die Abschie­bun­gen sind aus men­schen­recht­li­chen Grün­den schlicht unmög­lich. In den Irak, nach Afgha­ni­stan und nach Syri­en waren Abschie­bun­gen durch Beschlüs­se der Kon­fe­renz der Innenminister*innen sogar über Jah­re hin­weg wei­test­ge­hend aus­ge­setzt. Hin­zu kom­men Staa­ten, die nicht bereit sind, Per­so­nen zurückzunehmen.

»Abschie­bun­gen im gro­ßen Stil« sind also gar nicht mög­lich. Mit sol­chen Paro­len soll wohl eine ver­meint­li­che poli­ti­sche Hand­lungs­fä­hig­keit sug­ge­riert wer­den. Aber auch wenn här­te­re Abschie­be­ge­set­ze zu ein paar mehr Abschie­bun­gen füh­ren: Der Preis für die Betrof­fe­nen ist sehr hoch, Kom­mu­nen wer­den dadurch nicht spür­bar ent­las­tet und Gerich­te und Behör­den wer­den zusätz­lich beschäftigt.

Bei den Aus­rei­se­pflich­ti­gen han­delt es sich nicht, wie oft ange­nom­men, nur um Geflüch­te­te, son­dern ein gro­ßer Teil (41 Pro­zent) sind Men­schen, die nie einen Asyl­an­trag gestellt haben.

Nur 59 Prozent der Ausreisepflichtigen sind abgelehnte Asylsuchende

Von den 242.600 Aus­rei­se­pflich­ti­gen Ende 2023 leb­ten 127.100 – also mehr als die Hälf­te – bereits län­ger als vier Jah­re in Deutsch­land, ein Drit­tel (82.900) sogar schon län­ger als sechs Jah­re. Bei den Aus­rei­se­pflich­ti­gen han­delt es sich nicht, wie oft ange­nom­men, nur um Geflüch­te­te, son­dern ein gro­ßer Teil (41 Pro­zent) sind Men­schen, die nie einen Asyl­an­trag gestellt haben. Sie sind bei­spiels­wei­se zum Stu­di­um, zur Arbeit, via Ehe­gat­ten­nach­zug oder mit einem Besuchs­vi­sum nach Deutsch­land ein­ge­reist und nach Ablauf des Auf­ent­halts­ti­tels nicht (recht­zei­tig) aus­ge­reist. Nur rund 142.300 der Aus­rei­se­pflich­ti­gen sind abge­lehn­te Asyl­be­wer­ber (59 Pro­zent), ein sehr gro­ßer Teil von ihnen hat also nie­mals eine Asyl-Unter­kunft bewohnt hat.

Des­we­gen ist es unsin­nig und völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig, auf so vie­le Men­schen, die seit vie­len Jah­ren in Deutsch­land ihren Lebens­mit­tel­punkt gefun­den haben und oft­mals gut inte­griert sind, den Druck zu ver­stär­ken, um am Ende eini­ge weni­ge abschie­ben zu kön­nen. Man soll­te ihnen lie­ber Per­spek­ti­ven anbie­ten, in Deutsch­land ein Leben auf­bau­en zu kön­nen und Teil der Gesell­schaft zu werden.

Nach Jahren erstmals Rückgang der Geduldeten- und Ausreisepflichtigen-Zahlen

Die mit fast einer vier­tel Mil­li­on tat­säch­lich viel zu hohe Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen ist im ver­gan­ge­nen Jahr jedoch – ent­ge­gen aller Paro­len – stark zurück­ge­gan­gen. Dies lag vor allem am Chan­cen-Auf­ent­halts­recht, das seit Anfang letz­ten Jah­res zur Anwen­dung kam.

Ende 2022 lag die Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen näm­lich noch bei 304.300, dar­un­ter 248.100 mit einer Dul­dung. Die­se Zahl ist seit 2012 jähr­lich ange­stie­gen und hat sich in die­sen zehn Jah­ren fast ver­drei­facht – wohl­ge­merkt trotz unzäh­li­ger Abschie­bungs­re­for­men. Im Jahr 2023 hat sich die Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen um 61.700 (20 Pro­zent) redu­ziert, die Zahl der Gedul­de­ten um 54.200  auf 194.000 (22 Prozent).

Dass dies kaum mit den rund 3.500 mehr Abschie­bun­gen im Jahr 2023 zu tun haben kann, liegt auf der Hand. Haupt­ur­säch­lich dafür sind 55.500 Auf­ent­halts­er­laub­nis­se, die nach dem Chan­cen-Auf­ent­halts­recht erteilt wur­den. Durch die­se Rege­lung kön­nen Men­schen mit einer Dul­dung nach vie­len Jah­ren in Deutsch­land und häu­fig sehr guter Inte­gra­ti­on end­lich aus der Aus­rei­se­pflicht her­aus­kom­men. Sol­che Rege­lun­gen kön­nen tat­säch­lich wirk­sam zur Ent­las­tung von Kom­mu­nen bei der Unter­brin­gung bei­getra­gen und sie wer­den vor allem den Men­schen gerecht, die seit Jah­ren bei uns leben und die so leich­ter in Woh­nung und Arbeit finden.

Die meisten abgelehnten Asylbewerber*innen haben einen Aufenthaltstitel

Neben den 142.300 aus­rei­se­pflich­ti­gen abge­lehn­ten Asylbewerber*innen leben in Deutsch­land fast 900.000 abge­lehn­te Asyl­be­wer­ber (Stich­tag: 30. Juni 2023, aktu­el­le­re Zah­len noch nicht vorhanden).

Drei Vier­tel von ihnen (78 Pro­zent) sind jedoch kei­nes­wegs aus­rei­se­pflich­tig, son­dern haben einen recht­mä­ßi­gen Auf­ent­halt. Knapp die Hälf­te hat einen befris­te­ten Auf­ent­halts­sta­tus, 30 Pro­zent haben sogar einen unbe­fris­te­ten. Durch das Chan­cen-Auf­ent­halts­recht hat sich die­se Zahl bis Ende des Jah­res ver­mut­lich noch gestei­gert. Für die meis­ten die­ser Auf­ent­halts­ti­tel, die nach abge­lehn­tem Asyl­an­trag ver­ge­ben wer­den, sind gute Inte­gra­ti­on, die Siche­rung des Lebens­un­ter­halts und jah­re­lan­ger Auf­ent­halt in Deutsch­land zwin­gen­de Voraussetzungen.

Der poli­ti­sche und admi­nis­tra­ti­ve Fokus soll­te sich auf die groß­zü­gi­ge Anwen­dung bestehen­der gesetz­li­cher Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen für die­je­ni­gen rich­ten, deren Abschie­bun­gen über­haupt nicht oder jah­re­lang nicht mög­lich sind. Man­cher­orts geschieht das glück­li­cher­wei­se schon und Aus­län­der­be­hör­den sehen sich als »Dienst­leis­tungs­be­hör­de« oder »Will­kom­mens­be­hör­de« – aber an vie­len Orten steht nach wie vor die Aus­rei­se­pflicht von Men­schen im Vor­der­grund, unge­ach­tet des­sen, dass sie nicht abge­scho­ben wer­den können.

Mehr Sachlichkeit und Menschlichkeit notwendig, um Herausforderungen gerecht zu werden

Ange­sichts welt­weit zuneh­men­der Kri­sen und Kon­flik­te wer­den auch künf­tig Men­schen flie­hen müs­sen. Die meis­ten Ver­trie­be­nen flüch­ten und leben immer noch im Glo­ba­len Süden, aber es wer­den auch vie­le Men­schen nach Euro­pa und Deutsch­land kommen.

Des­we­gen soll­ten wir uns dar­um küm­mern, dass ihre Teil­ha­be an Gesell­schaft und Arbeits­markt gelin­gen kann. Die meis­ten Men­schen, die sich auf eine oft lebens­ge­fähr­li­che Flucht bege­ben und alles hin­ter sich gelas­sen haben, bren­nen dar­auf, ihr neu­es Leben in Deutsch­land auf­zu­bau­en. Dass dies mög­lich ist, zei­gen Zah­len der­je­ni­gen Men­schen, die 2015 ein­ge­reist sind: Die Erwerbs­quo­te der Flücht­lin­ge von 2015 liegt mit 65 Pro­zent sogar über der all­ge­mei­nen Erwerbs­quo­te.

Nur auf Abwehr und Restrik­ti­on set­zen­de Maß­nah­men wie die GEAS-Reform, Kon­trol­len an deut­schen Gren­zen, ein »Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz« oder die Bezahl­kar­te wer­den den Her­aus­for­de­run­gen der welt­wei­ten Flucht­be­we­gun­gen alles ande­re als gerecht. Im Gegen­teil: Sie machen nur die Flucht­we­ge der Men­schen gefähr­li­cher und teu­rer und schaf­fen ein Kon­junk­tur­pro­gramm für »Schlep­per«. Aber sie hal­ten Men­schen kaum davon ab, siche­re Zufluchts­or­te zu suchen.

Es ist absurd und unehr­lich, wie ange­sichts der exis­tie­ren­den und oft dra­ma­ti­schen Flucht­ur­sa­chen der Anschein erweckt wer­den soll, dass durch ord­nungs­po­li­ti­sche Maß­nah­men Flucht­be­we­gun­gen gesteu­ert wer­den könn­ten. Flucht ist in unse­rer glo­ba­li­sier­ten Welt zur trau­ri­gen Nor­ma­li­tät gewor­den. Abschot­tung um jeden Preis wird daher nicht vor Flucht schüt­zen, son­dern allein vor siche­rer Zuflucht.

Des­we­gen soll­ten wir uns für siche­re Zufluchts­or­te für schutz­su­chen­de Men­schen und deren Teil­ha­be an dem hie­si­gen gesell­schaft­li­chen Leben ein­set­zen. Laut­star­ke Paro­len und ver­meint­lich ein­fa­che Lösun­gen hel­fen nie­man­dem wei­ter, son­dern sind eine Gefahr für uns alle: Sie füh­ren dazu, dass die Gül­tig­keit der Men­schen­rech­te für alle in Fra­ge gestellt wird. Ange­sichts einer sol­chen Gefahr soll­ten wir für ein paar Flücht­lin­ge weni­ger und ein paar Abschie­bun­gen mehr nicht wei­ter an ihnen rum­sä­beln. Die Men­schen­rech­te sind uni­ver­sell und müs­sen das auch bleiben.

(dmo)