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Ab sofort sollen an deutschen Grenzen wieder Kontrollen stattfinden. Das Bild zeigt die ehemalige innerdeutsche Grenze bei Heldra. Foto: Bundesarchiv

Eine Woche nachdem die Bundesregierung Schutzsuchenden aus Ungarn und Österreich die Einreise nach Deutschland gestattet hatte, beschloss sie am Sonntag, weitere Flüchtlinge durch Kontrollen an den deutschen Grenzen zu stoppen – vor allem, um auf EU-Ebene Druck auf andere europäische Staaten auszuüben. Leidtragende davon sind die Flüchtlinge.

Es war ein groß­ar­ti­ger Akt der Huma­ni­tät: Am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de hat­te die Bun­des­re­gie­rung Tau­sen­den Schutz­su­chen­den, die in Ungarn an Bahn­hö­fen fest­sa­ßen, die Wei­ter­rei­se nach Deutsch­land ermög­licht. Nur eine Woche nach die­ser Ent­schei­dung hat die Bun­des­re­gie­rung ges­tern beschlos­sen, an den deut­schen Gren­zen Grenz­kon­trol­len ein­zu­füh­ren, um Flücht­lin­ge an den Gren­zen abzu­weh­ren. Zeit­wei­se wur­de der Bahn­ver­kehr zwi­schen Deutsch­land und Öster­reich aus­ge­setzt, an vie­len Grenz­ab­schnit­ten fin­den wie­der Kon­trol­len statt.

Der Umschwung von Auf­nah­me zur Abwehr ver­dankt sich unter ande­rem dem Druck des Koali­ti­ons­part­ners CSU, der die Öff­nung der Gren­zen scharf kri­ti­siert hat­te. Vor allem aber will die Bun­des­re­gie­rung im Vor­feld des heu­te statt­fin­den­den EU-Innen­mi­nis­ter­tref­fens Druck auf ande­re EU-Staa­ten aus­üben – auf dem Rücken von Flücht­lin­gen, die nun in Ungarn oder Öster­reich festsitzen.

Grenz­kon­trol­len ver­schär­fen das Leid der Schutzsuchenden

Grenz­kon­trol­len wer­den die Flucht der Men­schen nicht ver­hin­dern – wie zahl­rei­che Berich­te zei­gen haben vie­le der Schutz­su­chen­den Ver­wand­te oder ande­re sozia­le Anknüp­fungs­punk­te in Deutsch­land oder in ande­ren EU-Staa­ten, in die sie wei­ter­rei­sen möch­ten. Gene­rell ver­su­chen Schutz­su­chen­de dort­hin zu gelan­gen, wo sie Chan­cen auf Inte­gra­ti­on und den Start eines neu­en Lebens haben. In Ungarn, wo Flücht­lin­ge nach ihrer Flucht über Grie­chen­land, Maze­do­ni­en und Ser­bi­en stran­den, lau­fen sie statt­des­sen Gefahr, inmit­ten des von der Regie­rung Vic­tor Orb­ans geschür­ten frem­den­feind­li­chen Kli­mas unter men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen in Lagern oder in der Obdach­lo­sig­keit zu lan­den. Ihnen bleibt kaum eine ande­re Wahl, als zu ver­su­chen, in ande­re EU-Staa­ten weiterzufliehen.

Für die Betrof­fe­nen bedeu­tet die Wie­der­ein­füh­rung von Grenz­kon­trol­len an den deut­schen Gren­zen wie vie­ler­orts im Schen­gen-Raum, dass sie län­ge­re und gefähr­li­che­re Flucht­we­ge wäh­len müs­sen – unter Zuhil­fe­nah­me von Schlep­pern, die vom Leid der Betrof­fe­nen und von den Grenz­schlie­ßun­gen profitieren.

Grenz­kon­trol­len sind EU-rechtswidrig

Nach § 25 Abs. 1 des Schen­ge­ner Grenz­ko­dex kann ein Mit­glied­staat die Bin­nen­gren­zen kon­trol­lie­ren, sofern eine ernst­haf­te Bedro­hung der öffent­li­chen Ord­nung oder Sicher­heit sofor­ti­ges Han­deln erfor­dert. Zunächst kön­nen die Kon­trol­len für zehn Tage ein­ge­führt wer­den. Eine ernst­haf­te Bedro­hung der öffent­li­chen Ord­nung oder Sicher­heit liegt indes nicht vor: Flücht­lin­ge sind Schutz­su­chen­de, sie sind kei­ne Gefahr für die öffent­li­che Ord­nung oder Sicher­heit – das bestä­ti­gen selbst die Sicher­heits­be­hör­den. Statt­des­sen ist die Sicher­heit der Flücht­lin­ge in Gefahr, die auf­grund geschlos­se­ner Gren­zen gefähr­li­che­re Flucht­we­ge in Kauf neh­men müssen.

Eng­pass bei Erst­auf­nah­me­plät­zen kann Maß­nah­me nicht rechtfertigen

Aktu­ell ste­hen die Bun­des­län­der vor gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen bei der Erst­auf­nah­me der Schutz­su­chen­den, vie­ler­orts man­gelt es, meist auf­grund von gra­vie­ren­der Fehl­pla­nung, an geeig­ne­ten Unter­brin­gungs­plät­zen. Die Wie­der­ein­füh­rung von Grenz­kon­trol­len ist jedoch kei­ne geeig­ne­te Maß­nah­me, um die­se Pro­ble­me zu lösen – viel­mehr wird das Pro­blem ver­la­gert –in jene EU-Staa­ten, in denen die Flücht­lin­ge ankom­men. Und dort sind die Unter­brin­gungs­pro­ble­me noch weit­aus mas­si­ver: Hier droht, dass Flücht­lin­ge unter ent­wür­di­gen­den Ver­hält­nis­sen zusam­men­ge­pfercht wer­den oder ohne Obdach bleiben.

Daher wer­den trotz der Grenz­kon­trol­len wei­ter­hin Tau­sen­de Flücht­lin­ge nach Deutsch­land kom­men. Die Ver­zö­ge­rung von deren Ein­rei­se mag den Län­dern, die für die Erst­auf­nah­me zustän­dig sind, als Atem­pau­se erschei­nen – tat­säch­lich droht, dass sie ihre Bemü­hun­gen, für aus­rei­chen­de Kapa­zi­tä­ten zu sor­gen, nicht wei­ter intensivieren.

Flücht­lin­ge müs­sen bei Ver­wand­ten oder Bekann­ten unter­kom­men dür­fen!

Statt der Abschot­tungs­maß­nah­men braucht es drin­gend struk­tu­rel­le Refor­men in Deutsch­land. Flücht­lin­gen, die die Mög­lich­keit haben, bei Ver­wand­ten oder Bekann­ten unter­zu­kom­men, muss dies erlaubt wer­den. PRO ASYL geht davon aus, dass ein erheb­li­cher Anteil der syri­schen, afgha­ni­schen und ira­ki­schen Flücht­lin­ge in Deutsch­land bei Bekann­ten und Ver­wand­ten unter­kom­men kann. Bis­lang ist dies auf­grund von restrik­ti­ven und büro­kra­ti­schen Rege­lun­gen nicht mög­lich: Flücht­lin­ge müs­sen min­des­tens sechs Wochen und längs­tens bis zu drei Mona­ten in den über­füll­ten Erst­auf­nah­me­la­gern aus­har­ren (§ 47 AsylVfG).

Statt den Flücht­lin­gen zu ermög­li­chen, schnel­ler aus den Erst­auf­nah­me­la­gern aus­zie­hen zu kön­nen, plant die Bun­des­re­gie­rung, Flücht­lin­ge künf­tig bis zu sechs Mona­te in den Erst­auf­nah­me­la­gern fest­zu­set­zen – eine Maß­nah­me, die ange­sichts der man­geln­den Erst­auf­nah­me­plät­ze aber auch in men­schen­recht­li­cher Hin­sicht höchst pro­ble­ma­tisch ist.

Fata­les Signal für Euro­pa und den Flüchtlingsschutz

Dass nun auch Deutsch­land fak­tisch das Schen­ge­ner Abkom­men außer Kraft setzt, ist ein fata­les Signal für Euro­pa und den Flücht­lings­schutz. Deutsch­lands Ein­füh­rung von Grenz­kon­trol­len droht wei­te­re Staa­ten zu moti­vie­ren, ihre Gren­zen zu schlie­ßen – Öster­reich zieht bereits nach – und sie setzt die Staa­ten am Rand Euro­pas unter Druck, noch bru­ta­le­re Maß­nah­men zur Abschot­tung der Außen­gren­zen einzusetzen.

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