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Verstärkte Militärpräsenz im Grenzgebiet. Foto: Ministry of National Defence of the Republic of Poland

Die Krise der Menschenrechte an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist weitestgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Dabei sind Gewalt, Pushbacks und die systematische Inhaftierung von Schutzsuchenden weiterhin gängige Praxis in Polen. Auch die neue polnische Regierung hat daran bisher nichts geändert.

In Polen gilt er als der erfolg­reichs­te Film des ver­gan­ge­nen Jah­res: Der Spiel­film »Green Bor­der« der renom­mier­ten pol­ni­schen Regis­seu­rin Agnieszka Hol­land erzählt ein­drück­lich von der Gewalt gegen Schutz­su­chen­de an der Gren­ze zwi­schen Bela­rus und Polen. Eine syri­sche Fami­lie ver­sucht 2021, über die Gren­ze nach Polen und dann zu ihren Ver­wand­ten in Schwe­den zu gelangen.

Agnieszka Hol­land, die auch den Film »Hit­ler­jun­ge Salo­mon« dreh­te, ist Enke­lin von Holo­caust-Opfern sowie Toch­ter einer Kämp­fe­rin des War­schau­er Auf­stands von 1944. Wäh­rend der dama­li­ge pol­ni­sche Jus­tiz­mi­nis­ter den Film als »Nazi-Pro­pa­gan­da« ver­un­glimpf­te, war die Regis­seu­rin 2023 wegen Hass-Kam­pa­gnen gegen sie vor­über­ge­hend auf Per­so­nen­schutz angewiesen.

Seit weni­gen Tagen läuft »Green Bor­der« auch in deut­schen Kinos. Was er zeigt, ist lei­der nach wie vor grau­sa­me Rea­li­tät an der öst­li­chen Außen­gren­ze der Euro­päi­schen Uni­on. Seit August 2021 ste­cken immer wie­der Men­schen auf der Flucht in einer Art Nie­mands­land zwi­schen den bei­den Zäu­nen fest; huma­ni­tä­re Orga­ni­sa­tio­nen kön­nen ihnen nicht hel­fen, weil ihnen ver­bo­ten wird, den Strei­fen zu betre­ten. Wäh­rend Polen unter Ein­satz von Gewalt ver­sucht, die Schutz­su­chen­den von der Ein­rei­se abzu­hal­ten, drän­gen bela­rus­si­sche Grenzbeamt*innen die Men­schen mit Hun­den und Schlag­stö­cken immer wie­der Rich­tung Polen.

Als Reak­ti­on auf EU-Sank­tio­nen gegen Bela­rus hat­ten bela­rus­si­sche Behör­den 2021 begon­nen, die Ein­rei­se von Men­schen aus dem Irak, Afgha­ni­stan und Län­dern des Nahen Ostens und Afri­kas über ihre Gren­zen zu Polen, Litau­en und Lett­land zu orga­ni­sie­ren. Polen sti­li­sier­te Geflüch­te­te dar­auf­hin zur »hybri­den Gefahr« und berief sich auf einen »Aus­nah­me­zu­stand«, um bru­ta­le Gewalt, die Mili­ta­ri­sie­rung der Gren­ze und Schein­leg­a­li­sie­run­gen von rechts­wid­ri­gen Push­backs zu recht­fer­ti­gen. Seit­dem wird das geo­po­li­ti­sche Arm­drü­cken auf dem Rücken von Schutz­su­chen­den ausgetragen.

Flucht durch einen der letzten Urwälder Europas

Auch 2023 reis­ten Men­schen mit rus­si­schen oder bela­rus­si­schen Visa wei­ter an die pol­ni­sche Gren­ze und ver­such­ten, die­se zu über­win­den, aller­dings deut­lich weni­ger als in 2021. Vie­le ste­cken dann im Biało­wieża Wald, einem der letz­ten Urwäl­der Euro­pas, fest, der mit sei­nen Sümp­fen und Moo­ren lebens­ge­fähr­lich ist – im Win­ter umso mehr. Aktivist*innen der Initia­ti­ve Grupa Gra­ni­ca stie­ßen in den ver­gan­ge­nen Mona­ten immer wie­der auf Geflüch­te­te mit Erfrie­run­gen, denen eine Ampu­ta­ti­on drohte.

Allein in der ers­ten Jah­res­hälf­te 2023 erhielt Grupa Gra­ni­ca 4600 Anru­fe von im Grenz­raum in Not gera­te­nen Men­schen. Die Betrof­fe­nen kamen vor allem aus Kriegs- und Kon­flikt­län­dern wie Syri­en, Afgha­ni­stan, Äthio­pi­en, dem Sudan oder Eri­trea und damit aus Län­dern, deren Bürger*innen nor­ma­ler­wei­se inter­na­tio­na­len Schutz in Euro­pa erhal­ten – vor­aus­ge­setzt, sie errei­chen die Euro­päi­sche Uni­on (EU).

Mit scharfer Munition gegen Schutzsuchende

Die Gewalt gegen Schutz­su­chen­de an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze ist wei­ter­hin mas­siv, zuletzt wur­de sogar schar­fe Muni­ti­on ein­ge­setzt: Anfang Novem­ber schos­sen pol­ni­sche Grenzbeamt*innen einem 22-jäh­ri­gen Mann aus Syri­en, dem es gelun­gen war, die Gren­ze zu über­win­den, in den Rücken. Die Staats­an­walt­schaft teil­te mit, es han­de­le sich um einen »unglück­li­chen Unfall«, der Sol­dat sei »gestol­pert«. Das Opfer wur­de im Kran­ken­haus ope­riert, es bestand die Gefahr einer Lähmung.

Das EU-Grenz­re­gime tötet auf viel­fäl­ti­ge Art und Wei­se, etwa durch direk­te Gewalt, Ver­nach­läs­si­gung, die Kri­mi­na­li­sie­rung von Hil­fe oder das Errich­ten von Mau­ern, sodass Flucht­rou­ten gefähr­li­cher wer­den: Anfang Novem­ber wur­de ein wei­te­rer syri­scher Mann, der bereits seit einer Woche gesucht wor­den war, tot im Grenz­ge­biet auf­ge­fun­den. Und im August starb die 20-jäh­ri­ge Soma­lie­rin Sadia Moha­med Moha­mud, nach­dem sie zuvor zwei­mal gewalt­sam zurück­ge­scho­ben wor­den war und fast einen Monat lang in dem schma­len Strei­fen Land zwi­schen dem pol­ni­schen und dem bela­rus­si­schen Grenz­zaun hat­te aus­har­ren müssen.

Mindestens 60 Tote und Hunderte Vermisste an der polnisch-belarussischen Grenze

Die pol­ni­sche NGO Hel­sin­ki Foun­da­ti­on for Human Rights, die 2022 gemein­sam mit der pol­ni­schen Anwäl­tin Mar­ta Górc­zyńs­ka den Men­schen­rechts­preis der Stif­tung PRO ASYL erhielt, zählt min­des­tens 60 bestä­tig­te Tote auf bei­den Sei­ten der Gren­ze. Pol­ni­sche Medi­en berich­ten zudem von über 300 Men­schen, die seit 2021 im Grenz­ge­biet ver­schwun­den sei­en. Aktivist*innen sind sich jedoch sicher, dass die tat­säch­li­che Zahl der Toten und Ver­miss­ten um eini­ges höher ist.

Die Fami­li­en der Toten und Ver­miss­ten erhal­ten bis­her kei­ne sys­te­ma­ti­sche Unter­stüt­zung, um ihre Ange­hö­ri­gen zu fin­den, zu iden­ti­fi­zie­ren und falls mög­lich eine Über­füh­rung zur Bestat­tung zu orga­ni­sie­ren. An dem Punkt setzt die Hel­sin­ki Foun­da­ti­on for Human Rights mit einem neu­en Pro­jekt an. Die NGO weist dar­auf hin, dass pol­ni­sche Behör­den zum Teil direkt und indi­rekt zu dem Verschwinden(lassen) der Men­schen beitragen.

Gewaltsame Pushbacks durch polnische Grenzbeamte

Rechts­wid­ri­ge Zurück­schie­bun­gen sind wei­ter­hin gewalt­sa­me Rea­li­tät an der Gren­ze: Die Initia­ti­ve Pro­tec­ting Rights at Bor­ders (PRAB), die ille­ga­le Push­backs in Euro­pa doku­men­tiert und in Polen unter ande­rem mit der NGO Sto­war­zy­sze­nie Inter­wen­c­ji Praw­nej koope­riert, ver­zeich­ne­te allein zwi­schen Mai und August 2023 gan­ze 3.346 Push­backs zwi­schen Bela­rus und Polen. Eini­ge der Betrof­fe­nen hät­ten berich­tet, mehr­fach rechts­wid­rig zurück­ge­scho­ben wor­den zu sein.

Vie­le der Schutz­su­chen­den geben an, Gewalt durch pol­ni­sche oder bela­rus­si­sche Kräf­te erfah­ren zu haben. Betrof­fe­ne berich­te­ten unter ande­rem von Belei­di­gun­gen und Ver­höh­nun­gen, Schlä­gen, dem Ein­satz von Trä­nen­gas, voll­stän­di­gem Ent­klei­den, Ver­wei­ge­rung des Zugangs zu Toi­let­ten oder Essen sowie der Zer­stö­rung von Klei­dung, Schu­hen, Tele­fo­nen und Lebensmitteln.

Auch Push­backs von Kin­dern und Jugend­li­chen sind in Polen gän­gi­ge Pra­xis, wie ein aktu­el­ler Bericht von terre des hom­mes zeigt. Immer wie­der wer­den mit den rechts­wid­ri­gen Zurück­schie­bun­gen auch Fami­li­en getrennt.

Schwere Verletzungen: Mit Stacheldraht gegen Schutzsuchende

Vie­le der Schutz­su­chen­den sind in einem schlech­ten gesund­heit­li­chen Zustand, wenn sie die pol­ni­sche Sei­te errei­chen. NGOs und Medi­en berich­ten immer wie­der von Per­so­nen, die zurück­ge­las­sen und rechts­wid­rig auf die ande­re Sei­te der Gren­ze zurück­ge­drängt wur­den, ohne zuvor eine (ange­mes­se­ne) medi­zi­ni­sche Behand­lung zu erhal­ten. Ärz­te ohne Gren­zen berich­ten, dass sie zum Teil Men­schen mit schwe­ren Ver­let­zun­gen behan­deln müs­sen, die durch die fünf Meter hohe und mit Sta­chel­draht gesi­cher­te Mau­er zwi­schen Polen und Bela­rus ver­ur­sacht wurden.

Die­se 185 Kilo­me­ter lan­ge Mau­er war im Som­mer 2022 an der EU-Außen­gren­ze zu Bela­rus auf pol­ni­schem Ter­ri­to­ri­um fer­tig­ge­stellt wor­den. Die Bar­rie­re ist mit Sta­chel­draht ver­stärkt und zusätz­lich mit Über­wa­chungs­tech­no­lo­gien wie Kame­ras, Bewe­gungs­mel­dern und seis­mi­schen Sen­so­ren aus­ge­stat­tet. Doch auch sie hält Men­schen offen­sicht­lich nicht davon ab zu ver­su­chen, Schutz in der EU zu erhal­ten. Seit dem Bau kommt es jedoch häu­fi­ger zu schwe­ren Ver­let­zun­gen: gebro­che­ne Becken und Bei­ne oder schwe­re Gehirnerschütterungen.

Militarisierung: Mehr Soldaten im Grenzgebiet

Pro­tec­ting Rights at Bor­ders (PRAB) spricht von einer zuneh­men­den Mili­ta­ri­sie­rung der Gren­ze zu Bela­rus seit Juni 2023. Die pol­ni­sche Regie­rung hat­te im August 2023 ange­kün­digt, Tau­sen­de Soldat*innen an die Gren­ze zu Bela­rus ver­le­gen zu wol­len, von denen etwa 4.000 den Grenz­schutz unter­stüt­zen sollten.

Als Begrün­dung wur­de auf Akti­vi­tä­ten rus­si­scher Wag­ner-Söld­ner in Bela­rus und die Flucht von Schutz­su­chen­den über das Nach­bar­land ver­wie­sen. Die ver­stärk­te Mili­tär­prä­senz vor Ort macht es für Geflüch­te­te nun noch schwie­ri­ger, Polen und damit die EU zu errei­chen, ohne Opfer von rechts­wid­ri­gen Push­backs zu wer­den. Bereits vor 2021 hat­te Polen auf rechts­wid­ri­ge Push­backs gesetzt, für die es im Jahr 2020 durch den Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) ver­ur­teilt wurde.

Der EGMR hat sich bereits mehr­fach mit der Inhaf­tie­rung von Schutz­su­chen­den in Polen befasst und jedes Mal eine Ver­let­zung des Rechts auf Frei­heit und Sicher­heit oder des Rechts auf Ach­tung des Pri­vat- und Fami­li­en­le­bens festgestellt.

Systematische Inhaftierungen von Asylsuchenden

Polen besteht laut Pro­tec­ting Rights at Bor­ders dar­auf, dass Asyl­an­trä­ge nur an den offi­zi­el­len Grenz­über­gangs­stel­len ent­lang der Gren­ze ange­nom­men wer­den könn­ten. Dies sei in der Pra­xis jedoch schwie­rig, sodass die meis­ten Per­so­nen, die irre­gu­lär nach Polen ein­reis­ten, effek­tiv kei­nen Zugang zu Asyl­ver­fah­ren erhiel­ten, da ihre Asyl­an­trä­ge nicht regis­triert würden.

Schutz­su­chen­de, die Polen über Bela­rus errei­chen und nicht rechts­wid­rig zurück­ge­scho­ben wer­den, wer­den in der Regel in geschlos­se­nen Haft­an­stal­ten, soge­nann­ten »Guard­ed Cen­ters for For­eig­ners«, inhaf­tiert – auch Jugend­li­che und Kin­der, die beson­ders unter der Frei­heits­ent­zie­hung leiden.

Die Bedin­gun­gen in die­sen gefäng­nis­ähn­li­chen Ein­rich­tun­gen ent­spre­chen nicht völ­ker­recht­li­chen Stan­dards. So wird etwa der Raum, der einer inhaf­tier­ten Per­son zuge­stan­den wird, auf 2m² begrenzt, was EU- und inter­na­tio­nal fest­ge­leg­ten Min­dest­stan­dards wider­spricht. Unab­hän­gi­gen Psychotherapeut*innen wird der Zugang regel­mä­ßig ver­wehrt, und auch beim Zugang zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung bestehen gra­vie­ren­de Mängel.

Der EGMR hat sich bereits mehr­fach mit der Inhaf­tie­rung von Schutz­su­chen­den in Polen befasst und jedes Mal eine Ver­let­zung des Rechts auf Frei­heit und Sicher­heit oder des Rechts auf Ach­tung des Pri­vat- und Fami­li­en­le­bens festgestellt.

Polnische Gerichte gegen die Scheinlegalisierung von Pushbacks 

In Polen wur­den im Jahr 2021 mit Ver­weis auf einen ver­meint­li­chen »Aus­nah­me­zu­stand« zwei natio­na­le Geset­ze ein­ge­führt, die ver­su­chen, Push­backs zu »lega­li­sie­ren« und damit zu legi­ti­mie­ren. Trotz des offen­sicht­li­chen Bruchs inter­na­tio­na­len und euro­päi­schen Rechts sind die­se wei­ter­hin in Kraft. Sie sol­len ermög­li­chen, dass Anträ­ge auf inter­na­tio­na­len Schutz nicht berück­sich­tigt wer­den müs­sen und betrof­fe­ne Per­so­nen zurück­ge­scho­ben wer­den dür­fen, wenn sie unmit­tel­bar nach dem irre­gu­lä­ren Über­que­ren einer Gren­ze auf­ge­grif­fen werden.

Doch seit Inkraft­tre­ten die­ser Geset­ze haben pol­ni­sche Gerich­te immer wie­der »erheb­li­che Rechts­ver­stö­ße« fest­ge­stellt und den Grenz­schutz wegen Ver­stö­ßen gegen EU-Kon­ven­tio­nen, die Ver­fas­sung der Repu­blik Polen und natio­na­les Recht verurteilt.

Doch seit Inkraft­tre­ten die­ser Geset­ze haben pol­ni­sche Gerich­te immer wie­der »erheb­li­che Rechts­ver­stö­ße« fest­ge­stellt und den Grenz­schutz wegen Ver­stö­ßen gegen EU-Kon­ven­tio­nen, die Ver­fas­sung der Repu­blik Polen und natio­na­les Recht verurteilt.

So etwa im Fall eines ira­ki­schen Ehe­paars mit vier Kin­dern und dem Bru­der der Frau, die auf die bela­rus­si­sche Sei­te zurück­ge­drängt wor­den waren. Das Pro­vinz­ver­wal­tungs­ge­richt in Białys­tok urteil­te, dass dabei der Grund­satz der Nicht­zu­rück­wei­sung miss­ach­tet und die indi­vi­du­el­le Situa­ti­on aller betrof­fe­nen Per­so­nen nicht geprüft wor­den sei. Die Zurück­schie­bung ent­beh­re zudem jeg­li­cher Rechtsgrundlage.

Vor dem EGMR sind der­zeit min­des­tens elf Ver­fah­ren zu pol­ni­schen Push­backs anhän­gig. In der Ver­gan­gen­heit hat­te der EGMR Polen bereits mehr­fach wegen der rechts­wid­ri­gen Zurück­wei­sung von Asyl­su­chen­den an der Gren­ze zu Bela­rus ver­ur­teilt. Doch die dama­li­ge Regie­rung igno­rier­te die Recht­spre­chung des EGMR.

Einschüchterung und Kriminalisierung von humanitärer Hilfe

Pol­ni­sche Gerich­te stop­pen die Kri­mi­na­li­sie­rungs­ver­su­che durch pol­ni­sche Behör­den regel­mä­ßig und spre­chen Aktivist*innen frei, den­noch gehen die Repres­sio­nen wei­ter, sowohl gegen Ein­zel­per­so­nen als auch gegen Orga­ni­sa­tio­nen, die im pol­nisch-bela­rus­si­schen Grenz­ge­biet huma­ni­tä­re Hil­fe leisten.

Die PRO ASYL Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Hel­sin­ki Foun­da­ti­on for Human Rights stellt Per­so­nen, die auf­grund ihrer Hil­fe an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze Repres­sio­nen durch pol­ni­sche Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den aus­ge­setzt sind, Rechts­bei­stand zur Ver­fü­gung. Eine Frei­wil­li­ge, die wegen Bei­hil­fe zum ille­ga­len Grenz­über­tritt ange­klagt und vor­über­ge­hend fest­ge­nom­men wor­den war, konn­te so im Novem­ber 2023 frei­ge­spro­chen wer­den. Das Regio­nal­ge­richt Bia­lys­tok bestä­tig­te in dem Zusam­men­hang erneut, dass huma­ni­tä­re Hil­fe legal sei.

Anzeige, weil Essen über die Grenzmauer gereicht wurde 

In einem ande­ren Fall sprach das Gericht in Siem­ia­ty­c­ze eine Grup­pe von huma­ni­tä­ren Helfer*innen frei, die im Früh­jahr 2023 Lebens­mit­tel, Geträn­ke und Klei­dung über die Grenz­mau­er gereicht hat­ten (ähn­lich im Okto­ber 2023 hier). Der Grenz­schutz hat­te Anzei­ge gegen die­se Per­so­nen erstat­tet und sie der Bege­hung von Ord­nungs­wid­rig­kei­ten beschul­digt, näm­lich der Miss­ach­tung des Ver­bots, die an die Staats­gren­ze angren­zen­de Zone, den soge­nann­ten »Grenz­strei­fen«, zu betre­ten, und des Ver­bots, Gegen­stän­de über die Gren­ze zu Bela­rus zu bringen.

Das Gericht führ­te in der Urteils­be­grün­dung aus, dass die Mau­er nicht an der pol­ni­schen Gren­ze, son­dern auf pol­ni­schem Staats­ge­biet ste­he. Ein schma­ler Strei­fen hin­ter der Mau­er sei dem­entspre­chend noch pol­ni­sches Hoheits­ge­biet. Die­se Fest­stel­lung könn­te auch für Per­so­nen rele­vant sein, die sich direkt an der Grenz­mau­er befin­den und inter­na­tio­na­len Schutz suchen. Bis­her hat­te der Grenz­schutz behaup­tet, die­se Per­so­nen befän­den sich noch auf bela­rus­si­schem Gebiet und unter­lä­gen daher nicht der pol­ni­schen Gerichtsbarkeit.

Die Repres­sio­nen die­nen der Ein­schüch­te­rung von Men­schen, die sich mit Geflüch­te­ten soli­da­risch zei­gen. Nicht weni­ge der Frei­wil­li­gen, die seit über zwei Jah­ren an der Gren­ze aktiv sind, sind inzwi­schen erschöpft und ausgebrannt.

Die Repres­sio­nen die­nen der Ein­schüch­te­rung von Men­schen, die sich mit Geflüch­te­ten soli­da­risch zeigen.

Neue Regierung, neuer Umgang mit Geflüchteten?

Ende letz­ten Jah­res kam es in Polen zum Macht­wech­sel: Das pol­ni­sche Par­la­ment wähl­te den ehe­ma­li­gen EU-Rats­prä­si­den­ten Donald Tusk (Bür­ger­ko­ali­ti­on) zum Regie­rungs­chef. Am 15. Okto­ber 2023 hat­te die natio­nal­po­pu­lis­ti­sche Par­tei Recht und Gerech­tig­keit (PiS), die Polen seit 2015 regiert, kei­ne Mehr­heit mehr erhal­ten. Statt­des­sen regiert nun eine Koali­ti­on aus den libe­ral­de­mo­kra­ti­schen und pro­eu­ro­päi­schen Par­tei­en Bür­ger­ko­ali­ti­on (Koalic­ja Oby­wa­tel­ska, KO), Drit­ter Weg (Trze­cia Dro­ga) und Neue Lin­ke (Nowa Lewica).

In sei­ner Regie­rungs­er­klä­rung mahn­te Tusk die Ein­hal­tung von Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit an und kün­dig­te eine gute Zusam­men­ar­beit sei­nes Lan­des mit der EU an. Die Ein­däm­mung der »unkon­trol­lier­ten Migra­ti­on«, ohne dabei Men­schen­rech­te zu ver­ra­ten, bezeich­ne­te er als eine der gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen der künf­ti­gen Regie­rung. Der stell­ver­tre­ten­de Minis­ter Maciej Duszc­zyk, der in der neu­en Regie­rung für Migra­ti­on zustän­dig ist, erklär­te jedoch jüngst in einem Inter­view, dass die Push­backs fort­ge­setzt wür­den, um »die Gren­ze zu sichern«, »aber mit einem huma­ni­tä­ren Element«.

Anfang Janu­ar appel­lier­ten 101 Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, dar­un­ter Amnes­ty Inter­na­tio­nal und die Hel­sin­ki Foun­da­ti­on for Human Rights (HFHR), sowie 550 Ein­zel­per­so­nen an den pol­ni­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Donald Tusk, die Poli­tik der Push­backs an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze unver­züg­lich zu been­den. Doch bis­her hat sich auch unter der neu­en Regie­rung nichts an der Situa­ti­on für Schutz­su­chen­de geän­dert. Die natio­na­len Geset­ze, die Push­backs »lega­li­sie­ren«, sind wei­ter­hin in Kraft.

Am 20. Dezem­ber 2023 haben sich die EU-Mit­glied­staa­ten, das EU-Par­la­ment und die EU-Kom­mis­si­on auf eine Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems (GEAS) geei­nigt. PRO ASYL kri­ti­siert die Ergeb­nis­se scharf, da sie den Abbau der Men­schen­rech­te von Geflüch­te­ten in Euro­pa bedeuten.

Die EU-Insti­tu­tio­nen und Mit­glieds­staa­ten haben sich bei der GEAS-Reform auch auf eine höchst pro­ble­ma­ti­sche »Kri­sen­ver­ord­nung« geei­nigt, für die Polen mit sei­ner Pra­xis im Som­mer 2021 neben ande­ren Mit­glieds­staa­ten pro­mi­nen­ter Stich­wort­ge­ber gewe­sen ist.

Mit Ver­weis auf eine »Instru­men­ta­li­sie­rung« von Schutz­su­chen­den durch den bela­rus­si­schen Dik­ta­tor Lukaschen­ko hat­te Polen 2021 einen »Aus­nah­me­zu­stand« aus­ge­ru­fen, auf des­sen Grund­la­ge die mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen legi­ti­miert wur­den. Anstatt gegen die Rechts­brü­che an den öst­li­chen Außen­gren­zen der EU vor­zu­ge­hen, brach­te die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on im Dezem­ber 2021 den Vor­schlag einer »Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung« ein, der weit­rei­chen­de Abwei­chun­gen von asyl­recht­li­chen Ver­fah­rens­ga­ran­tien vorsah.

Konzept der »Instrumentalisierung« legitimiert Menschenrechtsverletzungen

Die »Kri­sen­ver­ord­nung«, die Teil der GEAS-Eini­gung vom 20.12.2023 ist, arbei­tet genau mit die­sem Kon­zept der »Instru­men­ta­li­sie­rung«. Im Fall von Kri­sen und der »Instru­men­ta­li­sie­rung von Migrant*innen« durch Staa­ten kön­nen Grenz­ver­fah­ren mas­siv aus­ge­wei­tet wer­den – sowohl in Bezug auf ihre Dau­er als auch auf die Grup­pe von Per­so­nen, die in die­se Ver­fah­ren für ihr Asyl­ver­fah­ren ein­be­zo­gen wer­den müs­sen. Im Fal­le einer »Instru­men­ta­li­sie­rung« dür­fen die Mit­glied­staa­ten sogar alle Asyl­su­chen­den an ihren Gren­zen inhaf­tie­ren. In der Pra­xis könn­te dies zu mehr rechts­wid­ri­gen Push­backs führen.

Das Kon­zept der »Instru­men­ta­li­sie­rung« ist somit ein Blan­koch­eck für Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an den Außen­gren­zen, um Schutz­su­chen­de von der Ein­rei­se in die EU abzu­hal­ten. Die aktu­el­le pol­ni­sche Pra­xis der Push­backs, Inhaf­tie­run­gen und man­geln­den Ver­fah­rens­ga­ran­tien könn­te somit ver­ste­tigt, aus­ge­wei­tet und recht­lich zemen­tiert werden.

Drin­gend not­wen­dig wäre statt­des­sen eine 180 Grad Wen­de in der pol­ni­schen Flücht­lings­po­li­tik. Es wird sich zwar erst zei­gen müs­sen, wo die neue pol­ni­sche Regie­rung steht. Mit dem Kon­zept der Instru­men­ta­li­sie­rung wur­de auf euro­päi­scher Ebe­ne aller­dings bereits die Basis für zukünf­ti­ge »Aus­nah­me­zu­stän­de« und eine wei­te­re Aus­höh­lung des Flücht­lings­schut­zes an den EU-Außen­gren­zen geschaffen.

Wahlkampf auf dem Rücken von Schutzsuchenden

Donald Tusk agiert auch als Minis­ter­prä­si­dent unter dem Druck der PiS-Par­tei. Die­se hat­te Migra­ti­on im Som­mer und Herbst 2023 zu einem zen­tra­len Wahl­kampf­the­ma gemacht und damit Ängs­te und ras­sis­ti­sche Res­sen­ti­ments gegen Geflüch­te­te geschürt. So mobi­li­sier­te sie am Wahl­tag par­al­lel zu einem Refe­ren­dum, bei dem zwei von vier Fra­gen mit offen­kun­dig fal­schen Infor­ma­tio­nen Stim­mung gegen Schutz­su­chen­de und die Euro­päi­sche Uni­on mach­ten. Doch auch die ehe­ma­li­ge Oppo­si­ti­on griff auf flücht­lings­feind­li­che Rhe­to­rik zurück und warn­te vor »unkon­trol­lier­ter Migration«. 

Ein wei­te­res zen­tra­les The­ma im Wahl­kampf war die Visa-Schmier­geld­af­fä­re. Offen­sicht­lich hat die natio­nal­po­pu­lis­ti­sche PiS-Regie­rung jah­re­lang einen Han­del mit Schen­gen-Visa betrie­ben, bei dem Schmier­gel­der geflos­sen sind: So konn­te man bei kor­rup­ten Vermittler*innen und pol­ni­schen Kon­su­lats­an­ge­stell­ten in Asi­en und Afri­ka ein pol­ni­sches Arbeits­vi­sum erhal­ten, mit dem auch eine Wei­ter­rei­se in die EU mög­lich wur­de. Laut der ehe­ma­li­gen Oppo­si­ti­on han­delt es sich womög­lich um Hun­dert­tau­sen­de unrecht­mä­ßig ver­ge­be­ne Visa.

Die EU-Kom­mis­si­on und die Bun­des­re­gie­rung hat­ten Polen Mit­te Sep­tem­ber zur Auf­klä­rung auf­ge­for­dert. Auch in der bela­rus­si­schen Haupt­stadt Minsk soll es mög­lich gewe­sen sein, unrecht­mä­ßig pol­ni­sche Visa gegen Schmier­geld zu erhal­ten. Das ist ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund der Skan­da­li­sie­rung des bela­rus­si­schen Visa-Han­dels durch die ehe­ma­li­ge pol­ni­sche Regie­rung bizarr.

 (hk)