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Was sind eigentlich »Zurückweisungen«?

Auch nach ihren Sondierungsgesprächen halten CDU und SPD an der Ankündigung fest, mit »Zurückweisungen« die »irreguläre Migration« zu bekämpfen. Aber was steckt eigentlich hinter den Schlagwörtern? Welche Auswirkungen haben sie auf den Flüchtlingsschutz? PRO ASYL stellt die wichtigsten Informationen zusammen.
Der Vorschlag von CDU/CSU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, am ersten Tag seiner Kanzlerschaft, die Grenzen »dauerhaft zu kontrollieren« und einen »faktischen Einreisestopp« und Zurückweisungen auch für schutzsuchende Menschen durchzusetzen ist eindeutig rechtswidrig. Trotzdem findet sich der Vorschlag auch im Sondierungspapier zwischen CDU und SPD wieder. Darin heißt es, auch Asylsuchende sollen in Abstimmung mit den Nachbarstaaten zurückgewiesen werden. Warum diese Forderungen internationale und europäische Menschenrechtsstandards und Verfahrensrechte verletzen, zeigen die folgenden Ausführungen.
Unter dem Sammelbegriff »irreguläre Migration« fasst die Bundesregierung sämtliche Einreisen von Personen nach Deutschland, bei denen die bestehenden Einreisevoraussetzungen nicht erfüllt werden. Die Voraussetzungen einer rechtmäßigen Einreise umfassen vor allem das Vorliegen gültiger Ausweisdokumente und die vorherige Visavergabe.
Menschen auf der Flucht können diese Voraussetzungen in der Regel nicht erfüllen. Sie müssen ihr Herkunftsland meist schnell verlassen, um vor Verfolgung, Krieg und Gewalt zu fliehen. Häufig wird ihnen zuvor vom Verfolgerstaat die Ausreise versperrt, viele können – da ihr Herkunftsstaat sie verfolgt – keinen Reisepass erhalten. Auch können sie in aller Regel kein Visum vorweisen. Denn es werden keine Visa ausgestellt, die es Menschen ermöglichen, Asylanträge in Deutschland zu stellen.
Häufig wird in der Diskussion um Fluchtwege auf das Resettlement-Verfahren verwiesen. Es soll besonders schutzbedürftigen Personen ermöglichen, legal und sicher nach Deutschland einzureisen. Jedoch setzt es voraus, dass die Person bereits außerhalb des Herkunftslandes ist und durch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) als Flüchtling anerkannt wurde. Auch hier ist ein langes Verfahren vorgeschaltet, auf das es außerdem keinen Rechtsanspruch gibt. Zusätzlich reichen die Plätze bei weitem nicht aus. Für das Jahr 2025 hat Deutschland beispielsweise lediglich 6.560 Plätze für Resettlement und die humanitäre Aufnahme zugesichert.
Schutzsuchende müssen daher oft auf lebensgefährliche Fluchtrouten ausweichen und zahlreiche Grenzen überwinden, um Sicherheit zu finden. Da Flüchtende aus den genannten Gründen Staatsgrenzen häufig ohne gültige Dokumente überschreiten müssen, wurde in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) durch den persönlichen Strafaufhebungsgrund in Artikel 31 Straffreiheit garantiert. Deutschland hat die GFK ratifiziert und sich damit verpflichtet, diese Garantie umzusetzen. Zwar ist die Einreise ohne Visum und gültigen Reisepass an sich strafbar (§ 95 AufenthG), gegenüber Flüchtlingen wird in Umsetzung der GFK entweder gar kein Verfahren eröffnet oder es wird wieder eingestellt. Konsequenterweise müsste jedoch schon der Asylantrag zur Straffreiheit ausreichen, um Abschreckungswirkungen zu unterbinden.
Menschen, die die Voraussetzungen einer rechtmäßigen Einreise nicht erfüllen und damit »unerlaubt« einreisen, können grundsätzlich an der Grenze abgewiesen werden. Eine Zurückweisung (§ 15 AufenthG) erfolgt, wenn die Einreise noch nicht stattgefunden hat, also beim Grenzübertritt bzw. an der Grenze. Die unerlaubte Einreise kann dadurch präventiv verhindert werden. Zurückweisungen sind eng mit Grenzkontrollen verknüpft – nur wenn die Kontrolle unmittelbar im Grenzraum stattfindet, ist eine Zurückweisung möglich.
Von Zurückweisungen zu unterscheiden ist die sogenannte Zurückschiebung, die in § 57 AufenthG geregelt ist. Diese betrifft Fälle, in denen eine Person unmittelbar nach dem Grenzübertritt und der erfolgten Einreise aufgegriffen wird.
Äußert eine Person an der Grenze bei der Bundespolizei ein Asylgesuch, darf sie jedoch unter keinen Umständen abgewiesen werden, auch wenn sie nicht über die erforderlichen Dokumente zur Einreise verfügt. Der Gesetzgeber definiert, dass ein Asylgesuch vorliegt, wenn eine Person schriftlich, mündlich oder auf andere Weise zum Ausdruck bringt, dass sie Schutz in Deutschland sucht (§ 13 AsylG). Die Bundespolizei ist als Grenzbehörde verpflichtet, die schutzsuchende Person an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weiterzuleiten. Im deutschen Asylgesetz ist das in § 18 Abs. 1 AsylG geregelt.
Äußert eine Person an der Grenze bei der Bundespolizei ein Asylgesuch, darf sie unter keinen Umständen zurückgeschickt werden. Die Bundespolizei hat die Aufgabe, das Schutzgesuch aufzunehmen und zur Prüfung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weiterzuleiten (§ 18 Abs. 1 AsylG). Denn ob Deutschland oder ein anderes Land für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, muss im sogenannten Dublin-Verfahren individuell geprüft werden. Diese europarechtliche Regelung schließt auch eine »Schnellprüfung« an der Grenze aus.
Hierfür gibt es gute Gründe: In der EU gilt nach der Dublin-Verordnung die Grundregel, dass jener Mitgliedstaat, in den eine geflüchtete Person als erstes eingereist ist, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das sind in der Regel Länder an der EU-Außengrenze, also etwa Italien, Griechenland oder Polen. Deutschland sowie die meisten deutschen Nachbarländer profitieren von dieser ungleichen Verantwortungsteilung. Sie sind regelmäßig nicht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Die Dublin-Regelung gibt vor, dass nach Prüfung der Zuständigkeit die asylsuchende Person innerhalb einer bestimmten Frist in das zuständige Mitgliedsland überstellt werden muss. Eine direkte Abweisung Asylsuchender an der Grenze verstößt folglich gegen diese europäische Vorgabe.
Im Dublin-Verfahren sind menschenrechtliche Kontrollmechanismen verankert. Es wird geprüft, ob eine Überstellung in ein EU-Mitgliedsland gegen die individuellen Menschenrechte der asylsuchenden Person verstoßen könnte. Beispielsweise muss das Asylverfahren in Deutschland durchgeführt werden, wenn in einem Ersteinreisestaat systemische Mängel im Asylverfahren festgestellt werden, aufgrund derer den Asylsuchenden dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Art. 4 EU-Grundrechte Charta) droht. In diesen Fällen muss das Asylverfahren in Deutschland stattfinden.
Das mag zunächst verwundern, da es sich um europäische Mitgliedsstaaten bzw. assoziierte Länder wie die Schweiz handelt, die insgesamt als »sichere Staaten« gelten. Auch ist es Ziel der Europäischen Union, gleiche Aufnahme- und Verfahrensstandards in den Mitgliedsstaaten zu erreichen, doch davon ist sie aktuell weit entfernt. Insbesondere EU-Außengrenzstaaten wie Griechenland, Polen oder Kroatien setzen auf Misshandlungen, Inhaftierungen und Verelendung. In Ungarn oder Rumänien können Asylsuchende weder mit einem fairen Verfahren noch mit ausreichender Versorgung rechnen. Und selbst Flüchtlinge, deren Asylverfahren positiv abgeschlossen wurde, sind in einigen EU-Mitgliedsstaaten wie Bulgarien und Griechenland einer Politik der Verelendung ausgesetzt. Der absolute Mindeststandard von »Bett, Brot, Seife« wird längst nicht überall eingehalten.
Das Dublin-Verfahren, das auch PRO ASYL kritisiert, sieht die wichtige individuelle Prüfung der Bedingungen im Land der Ersteinreise vor. Viele deutsche Gerichte haben daher bereits Überstellungen von Asylsuchenden oder auch bereits anerkannten Flüchtlingen z.B. nach Griechenland, Italien, Bulgarien oder Ungarn gestoppt, da den Menschen dort unmenschliche bzw. erniedrigende Situationen drohen würden.
Erst im Oktober 2024 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erneut klargestellt, dass Zurückweisungen von Schutzsuchenden auch an der deutschen Grenze verboten sind und der Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren zwingend erforderlich ist. Geklagt hatte ein junger Syrer, der 2018 an der Grenze zu Österreich aufgegriffen wurde, ein Asylgesuch geäußert hatte und dennoch binnen weniger Stunden nach Griechenland abgeschoben wurde, wo er mehrere Monate inhaftiert war. Es wäre die Verantwortung Deutschlands gewesen, in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu prüfen, ob dem Betroffenen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen. Da Deutschland dieser Verantwortung nicht gerecht geworden ist, wurde es wegen eines Verstoßes gegen das Folterverbot (Art. 3 EMRK) verurteilt.
Die europarechtlichen Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung haben Vorrang vor § 18 Abs. 2 des deutschen Asylgesetzes, der nahelegt, dass Schutzsuchenden unter bestimmten Voraussetzungen die Einreise von der Bundespolizei verweigert werden kann.
PRO ASYL erreichen immer wieder Berichte von Schutzsuchenden, die ihr Asylgesuch gegenüber der Bundespolizei an der Grenze geäußert haben und dennoch kein Asylverfahren in Deutschland eröffnen konnten. Stattdessen fanden sie sich unmittelbar, oder nach einer kurzen Inhaftierung, jenseits der deutschen Grenzen wieder. Wenn sich diese Berichte bewahrheiten, handelt es sich um eine rechtswidrige Abweisung, in diesem Fall wird der Begriff »Pushback« oder »Paper-Pushback« verwendet.
Falldokumentationen zu alarmierenden Fällen sind bereits öffentlich: Gemeinsam mit Pushback Alarm Austria und dem Border Violence Monitoring Network veröffentlichte etwa der Bayerische Flüchtlingsrat entsprechende Berichte. Meldungen gibt es auch von den Flüchtlingsräten Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Medien berichten auch von Fällen, in denen Menschen, die einen Asylantrag stellen wollten, unmittelbar ins Herkunftsland abgeschoben wurden.
Der Blick in die Polizeistatistiken bestätigt diesen Verdacht: Laut Halbjahresstatistiken der Bundespolizei hat sich die Zahl der Zurückweisungen an den deutschen Landesgrenzen nach der Einführung der Grenzkontrollen zu Polen, Tschechien und der Schweiz fast verdoppelt – von 9.464 (erstes Halbjahr 2023) auf 17.771 (erstes Halbjahr 2024). Die meisten Betroffenen kommen aus Afghanistan, Syrien oder der Ukraine – Länder aus denen viele Schutzsuchende kommen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen.
Auffällig ist, dass die Zahl der Asylanträge, die an der Grenze gestellt wurden, im selben Zeitraum drastisch zurückging – von 17.033 (erstes Halbjahr 2023) auf 7.784 (erstes Halbjahr 2024). Warum stellen so viele Menschen aus Afghanistan, Syrien oder der Ukraine keinen Asylantrag an der Grenze? Diese Frage bleibt offen.
»Ich möchte einen Asylantrag stellen, denn ich werde verfolgt« – viele Schutzsuchende berichten, dass sie eingeschüchtert waren und keine Gelegenheit hatten, einen solchen oder ähnlichen Satz vor der Bundespolizei zu äußern. Im Herbst 2024 sorgte ein Bericht des Spiegels für Schlagzeilen, der sich mit den bei der Einreisebefragung der Bundespolizei verwendeten Vordrucke befasste. Das Brisante: Bei den vorgesehenen Antwortmöglichkeiten war es nicht möglich, »Asyl« oder etwas Vergleichbares anzugeben. Eine Fragetechnik, die schutzsuchende Menschen in die Irre führt und den Schutzsuchenden das Gefühl gibt, sie könnten kein Asylgesuch äußern.
Zusätzlich wird immer wieder von Schwierigkeiten bei der Kommunikation über Sprachmittler*innen berichte. Beistand gibt es in dieser Situation in der Regel nicht. Ein menschenrechtlicher Kontrollmechanismus ist nicht installiert und auch Beratungsstellen können nicht unmittelbar herangezogen werden.
Die Maßgabe der Bundesregierung ist in der Frage bislang eigentlich klar: »Liegt ein Asylgesuch vor, steht der Bundespolizei kein inhaltliches Prüfungsrecht zu. Dies gilt selbst dann, wenn das Asylgesuch aus Sicht der Bundespolizei unschlüssig, offensichtlich unglaubwürdig, rechtsmissbräuchlich oder sonst unbegründet ist. Die inhaltliche Bewertung obliegt ausschließlich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)« (BT-Drucksache 20/5674, Antwort auf Frage 11). Ob sich auch die neue Bundesregierung daran halten wird, ist aktuell fraglich.
Deutschland ist Teil des Schengenraums, einer der zentralen Errungenschaften der Europäischen Union. Seit 1985 hat sich der Schengenraum, der aus nunmehr 29 Ländern besteht, zum größten Raum des freien Personenverkehrs entwickelt. Ausdrücklich umfasst die Reisefreiheit auch Menschen mit Drittstaatsangehörigkeit. Praktisch bedeutet das: An den Schengen-Außengrenzen finden Grenzkontrollen statt, innerhalb des Schengenraums – an den Binnengrenzen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten – hingegen nicht.
Der Schengener Grenzkodex stellt das grundlegende Regelwerk hierfür dar, er wurde Mitte 2024 reformiert.
Um die Errungenschaften des Schengenraums zu schützen, normiert der Schengener Grenzkodex enge Ausnahmen, unter welchen Bedingungen zeitlich begrenzte Grenzkontrollen an den Binnengrenzen als letztes Mittel stattfinden dürfen, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen. Zusätzlich haben sich die Schengen-Staaten das Ziel gesetzt, diese Eingriffe so minimalinvasiv wie möglich vorzunehmen. Das lässt sich in den Erwägungsgründen 21 bis 23 des Schengener Grenzkodex in Folge SGK nachlesen.
Normiert ist in der Ausnahmeregelung zur temporären Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen in Art. 25 ff. Schengener Grenzkodex, dass Binnengrenzkontrollen bei einer ernsthaften Bedrohung der inneren Sicherheit und öffentlichen Ordnung durch außergewöhnliche Umstände eingeführt werden dürfen.
Dabei werden verschiedene Zeitfristen festgelegt: Bei unvorhergesehenen Ereignissen sind die Kontrollen auf eine Dauer von einem Monat begrenzt (Art. 25 a III 1 SGK). Hält die Bedrohung an, darf die Grenzkontrolle auf höchstens drei Monate verlängert werden (Art. 25 a III 2 SGK).
Bei einer vorhersehbaren Gefahr sind nach Ankündigung bei der Kommission Grenzkontrollen von sechs Monaten möglich, die vier mal, also auf eine Gesamtdauer von höchstens zwei Jahre, verlängert werden können (Art. 25a IV, V SGK).
Hat sich nach Ablauf dieser Zeit die schwerwiegende, außergewöhnliche Situation in Bezug auf eine anhaltende ernsthafte Bedrohung verschärft und will der Mitgliedstaat die Kontrollen an den Binnengrenzen über den Zeitraum von zwei Jahren hinaus beibehalten, kann er die Binnengrenzkontrollen nach Art. 25 a VI Schengener Grenzkodex nach Bestätigung durch die Kommission zwei weitere mal um je sechs Monate, also auf höchstens drei Jahre am Stück verlängern.
Für jede Verlängerung ist eine umfassende Unterrichtung des Europäischen Parlaments, des Rates, der Kommission und der Mitgliedsstaaten vorgeschrieben.
Damit ist es nach der Reform des Schengener Grenzkodex im Jahr 2024 nun wesentlich länger möglich, an Grenzkontrollen festzuhalten als zuvor.
Was genau eine ernsthafte Bedrohung darstellt, konkretisiert der reformierte Kodex mit Verweis auf terroristische Anschläge und gesundheitliche Notlagen. Im Bezug auf Migrationsbewegungen legt der Schengener Grenzkodex zu Grunde, dass Grenzkontrollen in dem Fall eingeführt werden können, wenn die »gut vorbereiteten zuständigen Behörden insgesamt erheblich unter Druck geraten und das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt wahrscheinlich gefährdet ist.« Unberührt bleibt davon das Recht, um Asyl nachzusuchen und ein entsprechendes Verfahren zu durchlaufen (siehe oben).
Während vor der Reform des Schengener Grenzkodex vor allem außergewöhnliche, aber zeitlich deutlich abgrenzbare Ereignisse, wie die Olympiade in Paris letztes Jahr oder die Fußball-EM in Deutschland im selben Jahr, Anlass zur Grenzkontrollen darstellten, legten die Änderungen 2024 den Fokus stärker auf den Gesundheitsschutz und die Bekämpfung von »irregulärer Migration«. Sie betont aber weiterhin, dass die Kontrollen letztes Mittel bleiben müssen und andere Maßnahmen Vorrang haben, die Hürden sind somit weiterhin hoch.
In der Praxis weniger relevant sind temporäre Binnenkontrollen, die als Reaktion auf Mängel in der Kontrolle der Außengrenzen eingeführt werden, um die innere Sicherheit und öffentliche Ordnung zu schützen (Art. 29ff. SGK). Auf dieses Mittel können Schengenstaaten zurückgreifen, wenn ein Verfahren nach Art. 19 SGK zuvor durchlaufen wurde, und sich der betreffende Mitgliedstaat nicht an die gesetzten Vorgaben zu Grenzkontrollen hält.
Insbesondere seit 2015 kam es zu einer Reihe von Wiedereinführungen von Binnengrenzkontrollen, welche zumeist mit Migrationskontrolle, manchmal in Verbindung mit Sicherheitsbedenken, begründet wurden. Die aktuelle Liste der bekannt gegebenen Grenzkontrollen ist auf der Internetseite der EU Kommission abrufbar.
Deutschland hält seit Herbst 2015 an Grenzkontrollen zu Österreich unter Verweis auf Migrationsbewegungen fest. Diese wurden 2024 vom Verwaltungsgericht München als rechtswidrig bewertet. In seinem Urteil vom 18.03.2025 erklärte auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze für rechtswidrig.
Seit dem 16. Oktober 2023 kamen Grenzkontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz dazu und am 16. September 2024 wurden durch Nancy Faeser Grenzkontrollen an allen deutschen Grenzen angeordnet, um die »irreguläre Migration« einzudämmen. Diese bestehen weiterhin fort.
Für die Bewertung der Rechtmäßigkeit von Binnengrenzkontrollen sind vor dem Hintergrund folgende Fragen relevant: Handelt es sich bei dem auslösenden Ereignis um eine ernsthafte Bedrohung der inneren Sicherheit und öffentlichen Ordnung? Gibt es keine anderen Mittel, mit denen auf die Situation reagiert werden könnte? Sind die Maßnahmen zeitlich klar begrenzt? Ist die Höchstdauer der Maßnahme erreicht?
Immer wieder werden Grenzkontrollen angeordnet, obwohl die hohen Anforderungen nicht erfüllt werden. Angesichts der weiterhin rückläufigen Zahl von Asylanträgen in Deutschland sowie der Tatsache, dass an der Grenze zu Österreich die zulässige Höchstdauer für Grenzkontrollen nach zehn Jahren deutlich überschritten wurde, dürfte dies auch für die aktuellen Kontrollen an den deutschen Grenzen gelten.
In der Kurzexpertise, die die Rechtsanwälte der Kanzlei Günther zu den Plänen von Friedrich Merz vorgelegt haben, kommen diese zu dem Schluss , dass »Grenzkontrollen etwa zu Dänemark, Frankreich, Schweiz und den Niederlanden [können] derzeit und bis auf unabsehbare Zeit nicht das letzte Mittel im Sinne der Verhältnismäßigkeit darstellen, da, soweit ersichtlich, keine unerlaubten Grenzübertritte in signifikanter Anzahl auf dieser Grenze nach Deutschland erfolgen.« (S. 20) Hinsichtlich der Absichten der CDU / CSU, wird festgestellt, dass die »dauerhafte, d.h. unbefristete Wiedereinführung von Grenzkontrollen […] aus zahlreichen Gründen nicht mit Unionsrecht vereinbar [ist]. Sie ist voraussichtlich auch verfassungswidrig, weil sie den in Art. 23 GG niedergelegten europäischen Integrationsauftrag schwerwiegend verletzen würde.« (S. 25).
Immer wieder verweisen insbesondere Politiker*innen der CDU /CSU darauf, dass eine Notlage bestünde, die es notwendig mache, Binnengrenzkontrollen einzuführen und Zurückweisungen von Schutzsuchenden entgegen europäischen Rechts vorzunehmen. Dabei berufen sich CDU/CSU auf eine Notstandsregelung, die sich in Art. 72 AEUV, also des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union findet.
Unter strengen Voraussetzungen erlaubt das EU-Recht, Regelungen des Sekundärrechts – wie den Schengener Grenzkodex, die Aufnahmerichtlinie oder die Dublin Verordnung – zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat auszusetzen. Die EU-Verträge und insbesondere die Grundrechtecharta der EU gelten allerdings als Primärrecht und sind auch in einer Notlage bindend. Da die Einheit der Europäischen Union nur gewahrt werden kann, wenn Mitgliedsstaaten nur in absoluten Ausnahmefällen vom EU-Recht abweichen, sind die Hürden hierfür sehr hoch. Im Normalfall müssen die Mitgliedstaaten ihre Interessen innerhalb des geltenden Unionsrechts durchsetzen.
Jede Aktivierung der Ausnahmeklausel unterliegt daher der gerichtlichen Überprüfung. Bisher akzeptierte der Gerichtshof in keinem einzigen Fall einen Rückgriff auf die Ausnahmeklausel. Stattdessen betont er, dass das Sekundärrecht die legitimen Interessen der Staaten bereits berücksichtigt und legt die entsprechenden Bestimmungen im Zweifel großzügig aus. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist ein Urteil zur Rechtswidrigkeit der Grenzkontrollen an der slowenisch-österreichischen Grenze. Darin wird dargelegt, dass Österreich bei der Aktivierung solcher Maßnahmen zahlreiche Faktoren berücksichtigen müsste, anstatt sie lediglich auf die Asylantragszahlen zu stützen.
Ist ein Mitgliedstaat der Ansicht, dass der Rückgriff auf die Notstandsregelung unausweichlich ist, obliegt ihm die Nachweispflicht zu beweisen, »dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehme« (EuGH Urteil vom 2. April 2020).
Aktuell ist eine solche Notlage in Deutschland bei Weitem nicht erkennbar. 2024 wurden rund 225.000 Asylanträge gestellt – über 30 Prozent weniger als im Vorjahr. Die Integrationskapazitäten sind belastet, aber nicht erschöpft. Die tragischen Attentate in Solingen und Aschaffenburg schockieren zu Recht, doch sie können nicht pauschal gegen alle Flüchtlinge ausgelegt werden. Die Argumentation der CDU/CSU wirkt daher wenig überzeugend.
Eine weitere Möglichkeit zur Abweichung vom europäischen Recht ist im Art. 78 III AEUV angelegt. Dieser lautet wie folgt: »Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.«
Der EuGH hält eine Abweichung von Rechtsakten über diese Norm für möglich – solange die Abweichung von Rechtsakten zeitlich begrenzt ist und sich darauf beschränkt, schnell und effektiv durch vorläufige Regelung auf bestimmte Krisensituationen zu reagieren. Damit ist eine dauerhafte und generelle Umgehung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens ausgeschlossen.
Diese Norm verleiht ausschließlich dem Rat der Europäischen Union, also der Vertretung der Mitgliedstaaten, die Kompetenz, per Beschluss Maßnahmen anzuordnen. So erließ der Rat der Europäischen Union zum Beispiel im Spätsommer 2015 einen Beschluss, wonach 120.000 Personen etwa aus Griechenland und Italien auf die übrigen Mitgliedstaaten verteilt werden sollten.
Deutschland oder andere Mitgliedsstaaten können auf Grundlage dieser Norm allerdings Rechtsakte nicht eigenständig aussetzen. Eine Aussetzung der Regelungen des Schengener Grenzkodexes oder der Dublin-III-Verordnung kann Deutschland demnach nicht eigenmächtig beschließen.
Die Forderungen nach Zurückweisungen von Asylsuchenden verletzt internationale und europäische Menschenrechtsstandards und Verfahrensrechte!
Neben ihrer fragwürdigen rechtlichen Grundlage, und der offensichtlichen Überschreitung der maximal zulässigen Anordnungsdauer bei den Kontrollen zu Österreich, gefährden die andauernden Binnengrenzschließungen zentrale Errungenschaften der Europäischen Union, insbesondere das Reisen ohne Grenzkontrollen. Die Kontrollmaßnahmen an den Grenzen symbolisieren zudem einen bröckelnden Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union. Ähnliches gilt für die Drohung, zur Durchsetzung von Zurückweisungen Schutzsuchender an geschlossenen Binnengrenzen auf Notstandsklauseln des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zurückzugreifen. Aus guten Gründen sind die gerichtlichen Anforderungen für das Vorlegen einer Notlage so hoch, dass sie bislang in keinem Fall bestätigt wurden.Der Europäische Gerichtshof schützt damit den europäischen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, den Unions-Politiker*innen zunehmend leichtfertig aufs Spiel setzen.
Deutschland ist EU-Gründungsmitglied, der bevölkerungsreichste Mitgliedstaat und die größte Volkswirtschaft der EU. Bereits die Androhung Deutschlands, europäisches Recht bewusst missachten zu wollen, gefährdet die aktuell so dringend benötigte Einigkeit der EU. Ein solcher nationaler Alleingang hätte Signalwirkung und könnte einen gefährlichen Dominoeffekt auslösen.
Deutschland galt im europäischen Vergleich bislang als verantwortungsvoller Mitgliedstaat und vertrat in Verhandlungen am ehesten noch menschenrechtsbasierte Positionen. Hier droht eine Kehrtwende.
PRO ASYL hat die wichtigsten Kritikpunkte zu den Forderungen Merz’ bereits hier aufgeschlüsselt.
Im Auftrag von PRO ASYL und Greenpeace hat sich außerdem die Kanzlei Günther mit den Vorschlägen der CDU zur Asyl- und Klimapolitik auseinandergesetzt. Das Rechtsgutachten ist hier zu finden.