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Warum Georgien kein sicherer Herkunftsstaat sein kann – VG Berlin weist Bundesregierung zurecht

Ein aktueller Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin zweifelt die Rechtmäßigkeit der Einstufung Georgiens als »sicheren Herkunftsstaat« an und stellt dabei den Umgang der deutschen Regierung mit europäischem Recht offen in Frage.
Gastbeitrag von
Mark Niklas Cuno, Doktorand am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung und Dozent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für das Praxisprojekt Migrationsrecht;
Barbare Lomashvili, Bachelor in Politikwissenschaften und Psychologie von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, derzeit Masterstudentin an den Universitäten Leipzig und Wien im Studiengang »Global Studies« mit Masterprojekt zum Konzept sicherer Herkunftsstaaten.
Georgien als »sicherer Herkunftsstaat« – und was das für Schutzsuchende bedeutet
Seit November 2023 stuft die deutsche Regierung Georgien als »sicheren Herkunftsstaat« ein. Die Grundlage dafür liefert das europäische Recht, demnach die EU-Mitgliedsstaaten im Einklang mit vorgegebenen Rechtsstandards selbst bestimmen, welche Drittstaaten sie als »sicher« erachten (Art. 37 Asylverfahrensrichtlinie).
Für Schutzsuchende aus Georgien heißt die Einstufung, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihre Asylanträge mit der gesetzlichen Vermutung bearbeitet, dass ihnen in ihrer Heimat keine Verfolgung drohen würde. Ihre Anträge können daraufhin als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt werden, wodurch ihnen zentrale Verfahrensrechte genommen werden (§ 29a I Asylgesetz). Die nach einem abgelehnten Asylantrag drohende Rückführung wird bei georgischen Schutzsuchenden besonders schnell vollzogen. Grund dafür ist ein im Dezember 2023 beschlossenes Migrationsabkommen zwischen den beiden Ländern. Die Bundesregierung sichert sich damit im Austausch für Kooperationsmöglichkeiten in den Bereichen Bildung, Forschung und Saisonarbeit insbesondere die Bereitschaft Georgiens, abgelehnte Asylbewerber*innen wieder aufzunehmen. In der Folge schob Deutschland im vergangenen Jahr 2024 1.600 Menschen nach Georgien ab, womit das Land zum Hauptziel für Rückführungen aus Deutschland wurde.
Beschluss macht deutlich: Teilsicherheit in einem Land reicht nicht aus
Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin (Beschluss vom 11.03.2025) zweifelt nun aufgrund der prekären Menschenrechtslage in den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien an, dass die Einstufung Georgiens als »sicheres« Herkunftsland mit dem Europarecht vereinbar ist. Es beruft sich dabei auf ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dem es obliegt, die Rechtsgrundlage für die Einstufung sogenannter sicherer Herkunftsstaaten auszulegen. Dabei stellt der EuGH fest, dass die Mitgliedsstaaten der EU keine Länder als »sicher« deklarieren dürfen, in denen einzelne Teile des Landes unsicher sind. Als unsicher begreift der EuGH dabei Landesteile, in denen keine hinreichenden rechtlichen und politischen Standards etabliert sind, um einen durchgängigen Schutz vor Verfolgung und Misshandlung zu gewährleisten (Anhang 1 der Asylverfahrensrichtlinie).
Diese Aussage traf der EuGH nach Vorlage eines tschechischen Gerichts. Die Tschechische Republik hat die Republik Moldau nur in Teilen als »sicher« eingestuft. Explizit ausgenommen war die Region Transnistrien, ein de facto unabhängiges Gebiet, das seit dem Zerfall der Sowjetunion von pro-russischen Separatisten kontrolliert wird und in der Folge nicht als »sicher« eingestuft werden kann. Vor diesem Hintergrund sah sich die deutsche Bundesregierung, auf Nachfrage der Abgeordneten Clara Bünger, bisher nicht an das Urteil gebunden (Plenarprotokoll 20/193, S. 25197). So trug Mahmut Özdemir, parlamentarischer Staatssekretär der Bundesinnenministerin vor, dass Deutschland, anders als Tschechien, nicht nur Teile Georgiens, sondern das ganze Land als »sicher« ausgewiesen habe und dementsprechend keine Konsequenz aus dem Urteil ziehen müsse.
Diese Rechtsauffassung der Bundesregierung ist juristisch nicht haltbar. Das VG Berlin weist die Regierung richtigerweise darauf hin, dass der EuGH keine Entscheidung über den konkreten Fall trifft, sondern, auf Grundlage des jeweiligen Sachverhaltes, generell über die Auslegung europäischen Rechts entscheidet (Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Wenn der EuGH also entscheidet, dass die EU-Mitgliedsstaaten nicht Länder als »sicher« einstufen dürfen, in denen keine vollständige Sicherheit besteht, so entscheidet er dies auch für Deutschland, und zwar verbindlich. Es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung für diese Erkenntnis auf die Nachhilfe des VG Berlin angewiesen ist.
Was folgt aus dem Urteil?
Dass allein der Beschluss des VG Berlin die deutsche Politik dazu bekehrt, Georgien von der Liste »sicherer« Herkunftsländer zu streichen, darf bezweifelt werden. Zunächst ist der weitere Gang des Verfahrens abzuwarten. Die Entscheidung betrifft den Eilantrag eines georgischen Ehepaars, das in Deutschland Schutz vor Verfolgung sucht. In der noch ausstehenden Hauptsacheentscheidung wird das VG allerdings ebenfalls zu dem Schluss kommen, dass Georgien nicht als »sicheres« Herkunftsland eingestuft werden kann. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist ein Berufungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg denkbar (§ 78 III Nr. 1 Asylgesetz).
In letzter Zeit ist dieses OVG damit aufgefallen, aufgrund seiner restriktiveren Rechtsauffassung immer wieder auf Kollisionskurs mit seinem VG zu gehen. Gleichwohl ist die Vorgabe des EuGH, dass sogenannte sichere Herkunftsländer vollständig sicher sein müssen, so klar, dass eine divergierende Rechtsauffassung des OVG kaum vorstellbar ist. Gleiches gilt für die Beurteilung, ob Abchasien und Südossetien tatsächlich unsicher sind. Völkerrechtlich gehören diese Regionen zwar zu Georgien, entziehen sich jedoch mit russischer Unterstützung faktisch der Kontrolle der georgischen Regierung. Insofern weisen diese Gebiete unübersehbare Parallelen zu Transnistrien auf.
Ein rechtskräftiges Urteil könnte dann, auch wenn es die Bundesregierung nicht unmittelbar bindet, die Politik davon überzeugen, dass es durch die Rechtsprechung des EuGH dazu verpflichtet ist, Georgien nicht weiter als »sicher« zu deklarieren. Ob die Überzeugung der Regierung letztlich auch darin mündet, dass sie Georgien tatsächlich per Rechtsverordnung von der Liste »sicherer« Herkunftsländer streicht, bleibt abzuwarten. Immer wieder ließ die CDU/CSU durchblicken, sich in der Asylpolitik geltendem Europarecht widersetzen zu wollen. Zudem einigte sich die neue Regierung im Rahmen der Koalitionsverhandlungen jüngst darauf, die Liste »sicherer« Herkunftsländer deutlich zu erweitern.
Mehr Rechte, gleiche Chancenlosigkeit
Bereits bevor Georgien als »sicher« eingestuft wurde, erkannte das BAMF lediglich 0,3 Prozent aller georgischen Antragssteller*innen Schutz zu. Die Schutzquote für Personen aus Georgien wird sich deshalb wohl auch dann nicht signifikant erhöhen, wenn die Bundesregierung das Land von der Liste sogenannter sicherer Herkunftsstaaten streicht.
Allerdings könnten die Asylanträge georgischer Personen dann nicht mehr, wie bisher, als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt werden (§ 29a I Asylgesetz), was bedeutet, dass die Menschen bei einem ablehnenden Bescheid effektiveren Rechtsschutz genießen würden. Die Frist für eine Klage dagegen würde sich von einer Woche auf zwei Wochen erhöhen (§ 74 I Asylgesetz) und eine Abschiebung während des Gerichtsverfahrens wäre gesetzlich ausgeschlossen (§ 75 I Asylgesetz). Zudem würden auch die Aufenthaltsrechte der Personen gestärkt. Georgische Schutzsuchende unterlägen keinem unbegrenzten Beschäftigungsverbot mehr (§ 61 II Asylgesetz) und wären nicht mehr dazu verpflichtet, bis zum Ende ihres Asylverfahrens in einer Aufnahmeeinrichtung zu leben (§ 47 Ia Asylgesetz).
Georgien in der Krise – und Deutschland schaut weg
Neben den rechtlichen Konsequenzen ist das politische Signal, Georgien von der Liste »sicherer« Herkunftsstaaten zu streichen, bedeutsam. Auf diese Weise würde Deutschland seine Anerkennung für die prekäre Lage der Menschen dort zum Ausdruck bringen. Insofern dürfte die Streichung für viele georgische Personen aber einen bitteren Beigeschmack haben. Sollte die Regierung in Folge der Gerichtsentscheidung zu dem Schluss kommen, Georgien nicht weiter als »sicher« einzustufen, so würde sie dies einzig aufgrund der abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien tun. Die besorgniserregende Entwicklung in ganz Georgien bliebe in ihren Augen weiterhin unbeachtlich.
Bereits seit dem Frühjahr 2024 füllen Demonstrant*innen die Straßen der georgischen Hauptstadt Tiflis und setzen damit ein Zeichen des Widerstandes gegen die repressiven Maßnahmen der eigenen Regierung. Zu Beginn protestierten die Menschen gegen das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz. Das Gesetz zielt darauf ab, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Privatpersonen, die aus dem Ausland finanziert werden und politisch tätig sind, als »ausländische Agenten« zu kennzeichnen. In der Folge müssen sich diese NGOs beim Justizministerium registrieren und alle veröffentlichten Materialien mit einem entsprechenden Hinweis versehen. Damit wird die unabhängige Arbeit von NGOs systematisch untergraben, was die Meinungsfreiheit und andere demokratische Werte gefährdet.
Nachdem das Anti-LGBTQIA+ Gesetz im September 2024 in Kraft getreten ist, entflammte eine neue Welle der Proteste, die rigoros staatlich unterbunden wird. Neben all dem fordert die Bevölkerung unter Massenprotest Neuwahlen, da sie die mutmaßlich gefälschten Wahlergebnisse nicht anerkennt. In diesem Kontext leisten zudem seit Oktober 2024 pro-europäische Bürger*innen Widerstand gegen die Entscheidung der pro-russischen Regierung, die EU-Beitrittsverhandlungen abzubrechen. Diesen Demonstrationen begegnet der Staat mit massenhaften Inhaftierungen, Gewalt, Verfolgung und Repression. Die dennoch andauernde Mobilisierung der Demonstrant*innen ist damit nicht nur ein Zeichen des Unmuts, sondern auch ein verzweifelter Kampf um grundlegende Rechte und Freiheiten, die den Bürger*innen systematisch vorenthalten werden.
Deutschland sollte Einstufung zurücknehmen
Mit dieser Entwicklung muss sich Deutschland klarer und nachdrücklicher auseinandersetzen. Auch das VG Berlin erwähnt die generelle Lage Georgiens nur am Rande und geht primär auf Abchasien und Südossetien ein. Anders als die deutsche Regierung macht das Gericht jedoch deutlich, dass es die Einordnung Georgiens als »sicheres« Herkunftsland auch aufgrund der generellen politischen Lage für bedenklich hält, da bestimmte Personengruppen, etwa aufgrund des Anti-LGBTQIA+ Gesetzes, gefährdet werden.
Die Frage, inwieweit solche »personenbezogenen« Aspekte (zum Beispiel Verfolgung aufgrund des Gender, der sexuellen oder politischen Orientierung) bei der Einstufung »sicherer« Herkunftsstaaten zu berücksichtigen sind, hat das VG im Rahmen des Klageverfahrens eines senegalesischen Mannes bereits dem EuGH zur Klärung vorgelegt. Die Antwort des EuGH wird gegebenenfalls auch auf Georgien anwendbar sein. Bis dahin ist es aus Sicht des VG Berlin nachvollziehbar, den Weg des geringsten juristischen Widerstandes zu gehen. Nach Vorgabe des EuGH führt dieser momentan über Abchasien und Südossetien.
Unter dem Strich ist die Entscheidung des VG Berlin begrüßenswert. Sie zeigt auf, dass Deutschland Konsequenzen aus dem Urteil des EuGH ziehen muss und keine Länder als »sicher« deklarieren darf, in denen Teile des Staatsgebiets unsicher sind. Das bedeutet, dass die Regierung nicht nur Georgien, sondern auch Moldau, das aufgrund der abtrünnigen Region Transnistrien ebenfalls nur in Teilen »sicher« ist, von der Liste streichen muss. Anders als von Union und SPD geplant, wird die Liste »sicherer« Herkunftsstaaten also zunächst nicht länger, sondern kürzer – vorausgesetzt, die Parteien beabsichtigen, sich an geltendes Recht zu halten.
PRO ASYL kritisiert grundsätzlich das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten«, das in der Regel dem Einzelfall nicht gerecht wird, denn politische Situationen verändern sich kontinuierlich und sind für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen völlig heterogen. In einem aktuellen Schattenbericht zu Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien kommt PRO ASYL zu dem Ergebnis, dass das Konzept in diesen Ländern die Realitäten vor Ort verkennt. Das Gleiche gilt wie vorliegend beschrieben für Georgien, ebenso für Moldau, wo die Region Transnistrien von Russland kontrolliert wird und die Situation von Rom*nja zum Teil existenzbedrohend ist.