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Vier Jahre EU-Türkei-Deal – und wird es noch schlimmer?
Rechtsextreme und rassistisch motivierte Übergriffe, Aussetzung des Rechts auf Asyl und medizinischer Notstand - in den vergangenen Wochen haben sich die Ereignisse auf den griechischen Inseln in der Ägäis überschlagen.
»Flüchtlinge wollen die Insel verlassen, aber die Polizei lässt sie nicht aufs Festland. Die Situation hier ist unmenschlich. Es ist eine Schande für Europa!« sagt S. aus Somalia. Aufgrund des EU-Türkei-Deals kann er Samos seit drei Jahren nicht verlassen. Seit drei Jahren lebt er meist in einem Zelt. Er appelliert: »Eine Lösung muss sofort gefunden werden.«
Moria: Jeden Tag eine Großveranstaltung
Während auch in Griechenland das öffentliche Leben stillgelegt wird, um körperlichen Kontakt zu minimieren und damit der Ausbreitung von Covid-19 entgegen zu treten, müssen Mitte März 2020 rund 41.000 Schutzsuchende in meist informellen Unterkünften innerhalb und außerhalb der fünf EU-Hotspots auf den ägäischen Inseln ausharren. Über die Hälfte sind Frauen, Kinder und Jugendliche.
Das Lager Moria auf Lesvos ist ein einziger Albtraum: Ende Januar 2020 gab es dort drei Ärzte, acht Krankenschwestern und sieben Dolmetscher für knapp 20.000 Menschen. In Teilen des Lagers müssen sich bis zu 500 Personen eine Dusche teilen. Zwischen September 2019 und Januar 2020 wurden sieben Todesfälle bestätigt.
Kein Notfallplan für Covid-19-Ausbruch
Laut Ärzte ohne Grenzen gibt es keinen ernstzunehmenden Notfallplan für den Fall, dass Covid-19 das Lager erreicht. Simple Präventionsmaßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen können nicht eingehalten werden. Risikogruppen, etwa ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen, können sich zum Schutz nicht selbst isolieren. Es droht eine rasante Ausbreitung des Virus.
Um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, hat die griechische Regierung eine teilweise Ausgangssperre für Moria Hotspots verhängt. Moria könnte endgültig zur Todesfalle werden. Die Inselverwaltungen werden erneut sich selbst überlassen.
»Die medizinische Versorgung ist begrenzt, wenn diese medizinischen Dienste geschlossen werden, wenn die Organisationen nicht mehr in der Lage sind Flüchtlingen zu helfen, selbst in ihrem begrenzten Umfang, dann ist das eine Katastrophe. Ich weiß, dass es viele Flüchtlinge in Moria gibt, die krank sind, aber keinen Zugang zu medizinischer Hilfe haben.«
Wer Abschottung sät, erntet Rassismus
Bisher galt insbesondere Lesvos als Ort der Solidarität gegenüber Schutzsuchenden. Viele Bewohner*innen stellen tagtäglich eine große Aufnahmebereitschaft unter Beweis, die die Inselgemeinschaft seit Jahren ausmacht. Jedoch fühlen sich die Bewohner*innen zunehmend von der Politik im Stich gelassen. Efi Latsoudi, RSA Mitarbeiter*in, bestätigt, dass durch die Ignoranz der Politik die Stimmung in der Bevölkerung umschlägt. Teile radikalisieren sich und erklären Flüchtlinge zu ihrem Feindbild.
In einer Timeline hat RSA die Entwicklungen nach dem Regierungswechsel im Juli 2019 dokumentiert. Diese umfasst auch die Reihe von Protesten der Inselbewohner*innen und Lokalregierung gegen die Errichtung neuer geschlossener Lager.
Eines der Antrittsversprechen der im Sommer 2019 gewählten Regierung unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, Nea Dimokratia, war die Leerung der bestehenden Hotspots und die Schaffung geschlossener Lager auf den Inseln. Das Asylrecht wurde massiv beschnitten und Mitsotakis versprach die Ausweitung der Abschiebungen in die Türkei. Seit Herbst 2019 kommt es auf den Inseln zunehmend auch zu rassistischen Protesten, die sich gegen die Aufnahme von Schutzsuchenden richten.
Die Bürgermeister der betroffenen Inseln in der Nord-Ägäis wehren sich gegen die Schaffung geschlossener Zentren. Ende Februar eskalieren die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden aus beiden Lagern. Die Bewohner*innen fordern – aus unterschiedlichen Gründen – die Evakuierung der Schutzsuchenden.
Flüchtlinge bleiben machtpolitischer Spielball
Nachdem die Türkei Anfang März 2020 verkündet, die Einreise in die EU nicht mehr zu verhindern, hoffen viele Schutzsuchende auf Sicherheit in Europa. Die griechische Regierung reagiert mit roher Gewalt und setzt kurzer Hand das Recht einen Asylantrag zu stellen für einen Monat aus – ein offensichtlicher Bruch internationalen und europäischen Rechts.
»Hier sind in den letzten Tagen viele Menschen wütend auf uns geworden. Einer kam zu mir und sagte, »Du musst zurück in dein Land gehen! «. Ich bin hier, weil ich nicht in meinem Land sein kann.«
Schutzsuchende werden gewaltsam daran gehindert, in Griechenland einzureisen. Viele werden direkt in die Türkei zurückgewiesen. Andere werden Tage unter unhaltbaren Bedingungen auf einem Militärschiff oder in Polizeistationen festgehalten. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen lobt Griechenland für das radikale Vorgehen. »Ich danke Griechenland dafür, dass es in dieser Zeit unser »Europäisches Schutzschild« ist.«
In einer zweiten Timeline hat RSA die Angriffe gegen solidarische Strukturen, Menschenrechtsorganisationen, Freiwillige und Journalist*innen zwischen Ende Februar und März 2020 zusammengestellt.
Als nationales Schutzschild verstehen sich auch rechtsextremistische Schlägertruppen, die auch aus Deutschland auf die ägäischen Inseln reisen. Schutzsuchenden wird die Ausschiffung im Hafen verwehrt, Journalist*innen und Menschenrechtler*innen werden tätlich angegriffen und Brandanschläge auf solidarische Unterstützungsstrukturen verübt. Angst vor Übergriffen wird zum Teil des Alltags auf den Inseln.
»Ich fühle mich gefangen. Ich bin sicher, dass ich hier gefangen bin. Ich will die Insel verlassen, irgendwie. (…) Auf dieser Insel zu sein fühlt sich an, wie in einem Raum zu sein, der keine Fenster und keine Türen hat. Ich kann hier nicht mal normal atmen oder schlafen.«
Evakuierung Jetzt!
Die politische Blockade Europas hat sich seit der Unterzeichnung des Abkommens im Jahr 2016 stetig verschärft. Sie gipfelt nach vier Jahren in der aktuellen rechtlichen und humanitären Katastrophe in Griechenland.
Die Reaktion auf das dramatische Scheitern des toxischen Deals von 2016 kann nicht die Aushandlung eines weiteren Deals mit dem Erdogan-Regime sein. Es müssen neue politische Maßnahmen beschlossen werden, die sich radikal von der menschenfeindlichen Abschreckung und der Militarisierung der EU-Außengrenzen unterscheiden. Lösungen müssen im Einklang mit Flüchtlings- und Menschenrechte stehen.
Die Situation in den Lagern auf den Inseln ist lebensbedrohlich. Um den vollständigen Zusammenbruch und die massenhafte Ansteckung mit Covid-19 zu verhindern, ist ein groß angelegtes Evakuierungsprogramm in andere EU-Mitgliedsstaaten unumgänglich.
(mz / dm)