20.11.2024
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Gemeinsame Aktion zum Familiennachzug von PRO ASYL und terre des hommes in Berlin. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Seit kurzem erhalten Eltern von subsidiär schutzberechtigten Minderjährigen, die bald volljährig werden, keine vorgezogenen Sondertermine mehr für den Visumantrag zur Familienzusammenführung in der deutschen Botschaft. Da mit der Volljährigkeit das Recht auf Familiennachzug erlischt, bleiben Familien damit dauerhaft oder auf immer getrennt.

Vie­le Asyl­ver­fah­ren von unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen in Deutsch­land zie­hen sich erfah­rungs­ge­mäß über zwölf bis 24 Mona­te hin, obwohl die Jugend­li­chen ein Recht auf eine schnel­le Ent­schei­dung haben. Auf die lan­gen Asyl­ver­fah­ren folgt dann auch noch das lan­ge War­ten auf einen Bot­schafts­ter­min, bei dem die Eltern den Visum­an­trag zum Nach­zug stel­len kön­nen. Die War­te­zeit beträgt bei sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten im Durch­schnitt etwa 22 Mona­te. Wer­den die Jugend­li­chen in die­ser Zeit voll­jäh­rig, erlischt ihr Anspruch auf den Nach­zug ihrer Eltern und Geschwis­ter. Dies geschieht unver­schul­det und weder die Min­der­jäh­ri­gen noch ihre Fami­li­en haben eine Mög­lich­keit, das Ver­fah­ren zu beschleunigen.

Rechtliche Ungleichbehandlung 

Bei Min­der­jäh­ri­gen mit Flücht­lings­an­er­ken­nung hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof ent­schie­den, dass für den Eltern­nach­zug das Alter bei der Asyl­an­trag­stel­lung ent­schei­dend ist, da die Dau­er der Ver­fah­ren nicht den Antragsteller*innen anzu­las­ten ist. Die­ses Urteil wird jedoch für unbe­glei­te­te sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te nicht berück­sich­tigt. Dabei könn­te die Ver­wal­tung die­sen recht­li­chen Ansatz – ohne eine Ände­rung des Geset­zes – auch auf sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te über­tra­gen und damit ihre Rech­te wahren.

Bereits wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie hat­te das Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Innern und für Hei­mat (BMI) Ver­fah­rens­hin­wei­se her­aus­ge­ge­ben, die es Eltern ermög­lich­ten, auch dann nach Deutsch­land ein­zu­rei­sen, wenn ihre Kin­der voll­jäh­rig wurden.

Verzweiflung unter den Jugendlichen 

Für die betrof­fe­nen Jugend­li­chen ist die Situa­ti­on eine Kata­stro­phe. Sie haben über jah­re­lang den Ver­spre­chun­gen der Behör­den ver­trau­en müs­sen und sich bemüht, alle an sie gestell­ten For­de­run­gen zu erfül­len. Über Mona­te, teils sogar Jah­re hin­weg, wur­de ihnen von Bera­tungs­stel­len und Betreuer*innen zuge­si­chert, dass ihre Fami­li­en recht­zei­tig einen Son­der­ter­min für den Visa­an­trag erhal­ten wür­den, bevor sie das 18. Lebens­jahr errei­chen. Dies ent­sprach bis­lang der durch­gän­gi­gen Pra­xis. Die plötz­li­che Ände­rung der Ver­ga­be­pra­xis durch das Aus­wär­ti­ge Amt (AA) stürzt sie in tie­fe Ver­zweif­lung. Im All­tag zeigt sich, dass vie­le Jugend­li­che durch die­se emo­tio­na­le Belas­tung in der Schu­le, bei der Aus­bil­dung und bei der gesell­schaft­li­chen Teil­ha­be mas­siv ein­ge­schränkt werden.

Betreuer*innen berich­ten von depres­si­ven Zustän­den bis hin zu sui­zi­da­lem Ver­hal­ten. Vie­le Jugend­li­che wün­schen sich nichts sehn­li­cher, als ihre Fami­li­en wie­der­zu­se­hen und mit ihnen zusam­men­zu­le­ben. Sie füh­len sich im Stich gelas­sen und emp­fin­den in eini­gen Fäl­len sogar Schuld­ge­füh­le, weil sie in Sicher­heit leben, wäh­rend ihre Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen wei­ter­hin in Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten ver­blei­ben müssen.

Perfide Taktik des Auswärtigen Amtes bei der Ablehnung von Sonderterminen

Eini­ge fast voll­jäh­ri­ge, sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te ver­su­chen, auf recht­li­chem Wege ein Visum zu erwir­ken. Doch spe­zia­li­sier­te Anwält*innen für die Eil­an­trä­ge zu fin­den, ist für die Jugend­li­chen schwie­rig und oft mit hohen Kos­ten verbunden.

Die ers­ten Anträ­ge wur­den bereits abge­lehnt, mit der Begrün­dung, dass die Echt­heits­prü­fung der Iden­ti­täts­do­ku­men­te noch nicht erfolgt sei. Die Prü­fung kann jedoch nur im Rah­men des Bot­schafts­ter­mins statt­fin­den, da Doku­men­te nicht vor­her online ein­ge­reicht wer­den kön­nen. Aber genau den Ter­min lehnt ja das Gericht ab. Die­se zyni­sche Ent­schei­dung führt in der Kon­se­quenz zu dau­er­haf­ten Familientrennungen.

Dass die Ver­wal­tungs­pra­xis zu Unguns­ten der Min­der­jäh­ri­gen ver­än­dert wur­de, legt nahe, dass die Fami­li­en­ein­heit bewusst ver­hin­dert wer­den soll.

Symbolbürokratie auf Kosten der Familien

Zah­len aus dem Som­mer 2024 zei­gen, dass es pro­blem­los mög­lich wäre, jene Fäl­le vor­ran­gig zu behan­deln, in denen die Voll­jäh­rig­keit eine dau­er­haf­te Fami­li­en­tren­nung zur Fol­ge hät­te, denn es ist bekannt, dass in 1.392 Fäl­len die Refe­renz­per­son oder ein Antrag­stel­ler zwi­schen Sep­tem­ber 2024 und April 2025 voll­jäh­rig wird (VG Ber­lin, Beschluss VG 32 L 206/24 V, 27.08.2024). Selbst wenn in der Zwi­schen­zeit wei­te­re Fäl­le hin­zu­ge­kom­men sind – wovon aus­zu­ge­hen ist – wäre es ohne gro­ßen Auf­wand mög­lich, sie zu priorisieren.

Dass den­noch die Ver­wal­tungs­pra­xis zu Unguns­ten der Min­der­jäh­ri­gen ver­än­dert wur­de, legt nahe, dass die Fami­li­en­ein­heit bewusst ver­hin­dert wer­den soll.

Veränderte Weisungslage und ihre Folgen

Soll­te das Aus­wär­ti­ge Amt an der ver­än­der­ten Pra­xis fest­hal­ten, wür­de dies – ange­sichts der War­te­zei­ten von rund zwei Jah­ren auf einen Bot­schafts­ter­min – den Fami­li­en­nach­zug für unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge mit sub­si­diä­rem Schutz in den meis­ten Fäl­len unmög­lich machen. Beson­ders betrof­fen sind Jugend­li­che über 15 Jah­re, da nur bei Jün­ge­ren unter den der­zei­ti­gen Bedin­gun­gen eine recht­zei­ti­ge Vor­spra­che und Bear­bei­tung vor dem 18. Geburts­tag zumin­dest mög­lich wäre.

Auf Nach­fra­ge teil­te das Aus­wär­ti­ge Amt mit, dass Ter­mi­ne zur Antrag­stel­lung auf Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten »grund­sätz­lich nur noch in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­fol­ge des Regis­trie­rungs­da­tums ver­ge­ben wer­den. Die bevor­ste­hen­de Voll­jäh­rig­keit der sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten in Deutsch­land allein begrün­de kei­ne Ver­pflich­tung zur Ver­ga­be eines Son­der­ter­mins.« Dies bedeu­tet offen­bar, dass die prio­ri­sier­te Ver­ga­be von Son­der­ter­mi­nen für Fami­li­en­nach­zug bei bal­di­ger Voll­jäh­rig­keit der Refe­renz­per­son ein­ge­stellt wurde.

Was zu tun ist

PRO ASYL for­dert, dass der Nach­zug der Eltern auch bei ein­tre­ten­der Voll­jäh­rig­keit von sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten ermög­licht wird. Der Sach­ver­halt der unver­schul­de­ten Ver­zö­ge­rung ist der­sel­be wie bei aner­kann­ten Flüchtlingen.

Hilfs­wei­se for­dert PRO ASYL, dass die Ver­ga­be von Son­der­ter­mi­nen für Eltern von in Kür­ze voll­jäh­rig wer­den­den sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten wie­der ein­ge­führt wird – und zwar in allen ver­füg­ba­ren Bot­schafts- und Konsulatsgebäuden.

Als Vor­bild könn­te die – anläss­lich der Coro­na-Pan­de­mie ver­sen­de­te – kurz­fris­ti­ge Ände­rung der Ver­fah­rens­hin­wei­se für die Aus­län­der­be­hör­den bei abge­lau­fe­nen D‑Visa die­nen. Ein aktu­el­ler Anlass für eine Son­der­re­ge­lung stellt die aku­te Not­si­tua­ti­on im Liba­non dar, wo vie­le der Anträ­ge auf Nach­zug von syri­schen Eltern gestellt werden.

PRO ASYL unter­stützt bereits meh­re­re Jugend­li­che und erlebt, was die ver­än­der­te Pra­xis im Ein­zel­fall bedeutet.

Amro reis­te als 16-jäh­ri­ger in Deutsch­land und erhielt kurz nach sei­nem 17. Geburts­tag sub­si­diä­ren Schutz. Er und sei­ne Fami­lie kom­men aus Syri­en. Seit Anfang März 2024 ste­hen sei­ne Eltern und zwei klei­ne Brü­der auf der War­te­lis­te für einen Ter­min bei der Deut­schen Bot­schaft im Liba­non. Doch seit Okto­ber 2024 ist die Visa­stel­le für syri­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge geschlos­sen. Amros Vor­mund ver­such­te mehr­fach ver­geb­lich, einen Son­der­ter­min bei der Bot­schaft in Amman zu bekom­men, doch die Bot­schaft reagier­te nicht auf die Anfrage.

Beson­ders dra­ma­tisch ist die Situa­ti­on für Amros Fami­lie, da sie so lan­ge von­ein­an­der getrennt sind. Amros Mut­ter küm­mert sich um die Fami­lie, wäh­rend sein gehör­lo­ser Vater auf ihre Unter­stüt­zung ange­wie­sen ist. Wenn Amro im Dezem­ber 2024 voll­jäh­rig wird, ver­liert er das Recht auf den Nach­zug sei­ner Eltern und Geschwis­ter. Für Amro bricht eine Welt zusam­men. Er fühlt sich hilf­los und betro­gen. Sein Vor­mund sorgt sich ernst­haft um sei­ne psy­chi­sche Gesundheit.

Ali kam Anfang 2023 nach Deutsch­land. Sei­ne Fami­lie floh aus Syri­en in den Liba­non. Nach zwei Jah­ren des Clea­ring- und Asyl­ver­fah­rens erhielt er im Sep­tem­ber 2024 sub­si­diä­ren Schutz. Ende Janu­ar 2025 wird Ali voll­jäh­rig und bemüht sich daher um einen Son­der­ter­min für den Visa­an­trag sei­ner Eltern bei der deut­schen Bot­schaft in Amman (Jor­da­ni­en). Doch die Bot­schaft in Bei­rut ver­gibt kei­ne neu­en Ter­mi­ne mehr, und bereits ver­ge­be­ne Son­der­ter­mi­ne wur­den mit dem Hin­weis abge­sagt, man sol­le in Amman einen Ter­min anfra­gen. Dort ant­wor­tet jedoch nie­mand auf sol­che Anfragen.

Das Ping-Pong-Spiel zwi­schen den Bot­schaf­ten führt dazu, dass Ali vor­aus­sicht­lich den Rest sei­nes Lebens ohne sei­ne Fami­lie ver­brin­gen muss. Allein die Vor­stel­lung davon ver­setzt ihn in Panik und beein­träch­tigt sei­ne Kon­zen­tra­ti­on. Er wird psy­chisch immer instabiler.

Auch Ahmed droht eine dau­er­haf­te Tren­nung von sei­ner Fami­lie, wenn er im Alter von 18 Jah­ren das Recht auf den Fami­li­en­nach­zug ver­liert. Er kam eben­falls als 16-Jäh­ri­ger nach Deutsch­land und erhielt kurz nach sei­nem 17. Geburts­tag sub­si­diä­ren Schutz. Hin­zu kam das Pro­blem, dass auch die zustän­di­ge Aus­län­der­be­hör­de, in die­sem Fall die Münch­ner Behör­de, dem Fami­li­en­nach­zug zustim­men muss. Obwohl dies nor­ma­ler­wei­se geschieht, war es bei Ahmed nicht der Fall. Die Fami­lie war­te­te über zwei Jah­re auf einen Ter­min bei der Bot­schaft, um den Visum­an­trag zu stel­len – zu dem Zeit­punkt war Ahmed bereits fast 18 Jah­re alt. Dies ver­an­lass­te die Aus­län­der­be­hör­de in Mün­chen, den Antrag auf Fami­li­en­nach­zug abzu­leh­nen, da es sich »nicht mehr lohne«.

Ahmed ist ver­zwei­felt, sei­ne Zukunft und Hoff­nung sind wie ein Kar­ten­haus zusammengefallen.

(ahe, nb, jb)