News
Verhandlungskrimi in Brüssel: Bundesregierung stimmt toxischer Krisenverordnung zu
Beim Treffen der EU-Innenminister*innen gab es eine politische Verständigung über die Krisenverordnung, der formelle Beschluss steht aber noch aus. Italien hat weiteren Verhandlungsbedarf angekündigt. Für Schutzsuchende steht viel auf dem Spiel, geht es doch um ihre Menschenrechte, die zur Verhandlungsmasse gemacht werden.
UPDATE: Am 4. Oktober 2023 hat der Ausschuss der ständigen Vertreter formal eine Position des Rates zur Krisenverordnung beschlossen. Bei dieser hat sich laut Medienberichten Italien durchgesetzt und es wurde eine Klausel im Gesetzestext gestrichen, die verhindern sollte, dass Seenotrettungsmaßnahmen als »Instrumentalisierung von Migrant*innen« gewertet werden kann. Ein entsprechender Hinweis ist nun nur in den Erwägungsgründen enthalten. Die beschlossene Textfassung des Rats vom 4. Oktober 2023 kann hier abgerufen werden.
-
Eigentlich sollte es beim Ratstreffen der EU-Innenminister*innen am Donnerstag, den 28. September 2023 nur einen »progress report« zur Verhandlung über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geben. Im Juni hatten sich die Mitgliedstaaten auf einen Großteil der Vorschläge bereits geeinigt – ein Durchbruch nach langem Verhandlungspatt, der auf Kosten der Menschenrechte fliehender Menschen gemacht wurde. Denn für eine Vielzahl schutzsuchender Menschen bedeutet die Zukunftsvision der Mitgliedstaaten, Asylgrenzverfahren unter Haftbedingungen – dass dies auch Fliehende aus Ländern wie Syrien und Afghanistan treffen kann, erklärt PRO ASYL hier im Faktencheck. Abschiebungen in unsichere Drittstaaten und weiterhin keine Form von Solidarität (siehe hier für einen Überblick). Auch die Bundesregierung stimmte hier zu, die mitregierenden Grünen noch mit »Bauchschmerzen«.
Doch über eine Verordnung wurde sich zunächst nicht geeinigt, bis plötzlich am Donnerstag die sogenannte Krisenverordnung zur Debatte gestellt wurde. Sie sieht eine weitgehende Aushebelung der Asylregeln vor, wenn es zu einer (drohenden) Krise oder »höherer Gewalt« kommen sollte. Zudem fügten die Mitgliedstaaten noch Sonderregeln für den Fall der »Instrumentalisierung von Migration« ein, die in den ursprünglichen Vorschlägen überhaupt nicht vorgesehen waren (siehe hier für mehr Erklärungen). Schon seit Jahren versuchen Mitgliedstaaten sich mit vermeintlichen Ausnahmezuständen an den Außengrenzen aus ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen zu ziehen und genau dafür steht auch die Krisenverordnung.
Bundesregierung wirft Menschenrechte über Bord
Noch im Juli, als die spanische Ratspräsidentschaft zum ersten Mal versuchte, eine solche Verordnung durch Abstimmung durchzusetzen, enthielt sich die Bundesregierung aufgrund menschenrechtlicher Bedenken. Doch von solchen Menschenrechtsargumenten war im Vorfeld der Ratssitzung nichts mehr zu hören. Die aufgeheizte Debatte rund um Migration und Flucht im eigenen Land zeigte deutliche Spuren. Außenministerin Annalena Baerbock begründete ihre Ablehnung mit einer angeblichen Gefahr von mehr Fluchtbewegungen nach Deutschland und der Überlastung der deutschen Kommunen – über Camps mit miserablen Lebensbedingungen und hinter Stacheldraht, in denen Geflüchtete monatelang festgehalten werden könnten, sprach sie allerdings nicht.
Ein Tag vor der Sitzung in Brüssel kam dann die Meldung und die Ministerinnen Faeser und Baerbock wurden zur Einigung gezwungen. Damit war klar: Der Weg für eine deutsche Zustimmung zur Krisenverordnung war, jetzt frei. Und tatsächlich verkündet das Bundesinnenministerium eine »grundsätzliche politische Einigung« über die Krisenverordnung beim Ratstreffen – der tatsächliche Beschluss ist allerdings noch nicht gefasst. Dies soll nun im Ausschuss der ständigen Vertreter passieren, einem Gremium der Botschafter*innen in Brüssel. Angesichts von Meldungen, dass Italien nachverhandeln will, um gegen Seenotrettung vorzugehen, ist noch unklar, was aktuell zur Verhandlung steht.
Worum es geht: Mehr und längere Haft sowie erhöhte Gefahr von Pushbacks
Die Krisenverordnung soll es den Mitgliedstaaten – als letztes Puzzleteil der Abschottungsreform – in drei Situationen erlauben, von den Verschärfungen der Reform abzuweichen, die es für Schutzsuchende noch schwerer machen werden, zu ihrem Recht zu kommen.
Nach den Vorschlägen soll eine »Krisensituation« wie folgt definiert werden: »die außergewöhnliche Situation eines Massenzustroms von irregulär in einem Mitgliedstaat eintreffenden oder in seinem Hoheitsgebiet nach Such- und Rettungseinsätzen ausgeschifften Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, der im Verhältnis zur Bevölkerung und zum BIP des betreffenden Mitgliedstaats ein solches Ausmaß hat und von solcher Art ist, dass das Asyl‑, Aufnahme- oder Rückkehrsystem des Mitgliedstaats nicht mehr funktioniert, und der schwerwiegende Folgen für das Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems oder des gemeinsamen Rahmens im Sinne der Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement haben kann, oder die unmittelbare Gefahr des Eintretens einer solchen Situation« (Art. 1 Abs. 2 Verordnungsstand vom 23. Juni). Zur Anwendung der meisten Ausnahmen braucht es einen Ratsbeschluss.
Laut den Vorschlägen soll dies wie folgt definiert werden: »eine Situation, in der Migranten instrumentalisiert werden, ist als eine Situation zu verstehen, in der ein Drittland oder ein nichtstaatlicher Akteur die Bewegung von Drittstaatsangehörigen an die Außengrenzen oder in einen Mitgliedstaat mit dem Ziel fördert oder erleichtert, die Union oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren, wenn solche Handlungen wesentliche Funktionen eines Mitgliedstaats, einschließlich der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung oder des Schutzes seiner nationalen Sicherheit, gefährden können« (Art. 1 Abs. 3 Verordnungsstand vom 23. Juni). Zur Anwendung der meisten Ausnahmen braucht es einen Ratsbeschluss.
An dieser Definition will die italienische Regierung nun wohl noch weiter drehen, um Seenotrettungsmaßnahmen auch als Instrumentalisierung werten und so die geretteten Schutzsuchenden entsprechend schlechter behandeln zu können.
In den Vorschlägen ist keine Definition des Begriffs der »höheren Gewalt« vorgesehen. Als Beispiel wird in den ursprünglichen Vorschlägen der Kommission die Covid-19-Pandemie genannt. Zur Anwendung der meisten Ausnahmen braucht es einen Ratsbeschluss.
Folgende Abweichungen von den üblichen Regeln sind vorgesehen (hier wurde die Ratsfassung vom 28. September von statewatch geleaked), die ein Rezept für Pushbacks sowie massenhafte Internierung unter katastrophalen Bedingungen an den Grenzen sind:
- Verzögerung der Registrierung/Gefahr von Pushbacks: Im Fall einer Krise oder höherer Gewalt können die Mitgliedstaaten bis zu vier Wochen Zeit für die Registrierung von Asylanträgen haben, im Fall einer Instrumentalisierung drei Wochen. Dies kann die Gefahr von Pushbacks erhöhen, da die Menschen keinen Nachweis darüber bekommen, dass sie einen Asylantrag gestellt haben.
Die Gefahr einer Zunahme von Pushbacks beziehungsweise der Unmöglichkeit für Schutzsuchende, einen Asylantrag zu stellen, ergibt sich insbesondere auch aus den im Rat beschlossenen Änderungen im Schengener Grenzkodex. Diese sehen im Falle einer Instrumentalisierung die Schließung von Grenzübergängen vor sowie die Intensivierung der Grenzüberwachung, die »irreguläre Grenzübertritte« (die letztlich die meisten Geflüchteten betreffen) verhindern soll.
- Noch mehr Menschen in den Grenzverfahren: Im Falle einer Krise oder höheren Gewalt wird den Mitgliedstaaten zum einen erlaubt, weniger Grenzverfahren durchzuführen, und zwar, indem Schutzsuchende aus Herkunftsstaaten mit einer Schutzquote von weniger als 20 Prozent nicht verpflichtend in die Grenzverfahren müssen. Des Weiteren können diese massiv ausgeweitet werden, indem Menschen aus Herkunftsländern mit Schutzquoten von bis zu 75 Prozent in die Grenzverfahren nehmen werden. Im Falle einer Instrumentalisierung können die Mitgliedstaaten alle (!) Asylsuchenden in die Grenzverfahren nehmen.
- Verlängerung der Grenzverfahren (und damit der De-facto-Haft): In allen drei Fällen sollen die Grenzverfahren bis zu 20 Wochen dauern können (anstatt 12 Wochen) – sowohl die Asylgrenzverfahren als auch die anschließenden Abschiebungsgrenzverfahren. Aufgrund der sogenannten Fiktion der Nicht-Einreise ist zu erwarten, dass die Grenzverfahren unter Haftbedingungen durchgeführt werden. Je länger eine Freiheitsbeschränkung andauert, desto schlimmer werden die Auswirkungen auch auf die mentale Gesundheit der betroffenen Menschen. Eine unabhängige rechtliche Unterstützung wird ebenso kaum möglich sein.
Ursprünglich war vorgesehen, dass während dieser Zeit auch Ausnahmen von den Standards der Aufnahmerichtlinie erlaubt sein werden. Dies wurde nun gestrichen. Jedoch muss in der Praxis damit gerechnet werden, dass die Vorgaben nicht eingehalten und die Unterbringungsstandards schlechter werden je mehr Menschen an den Grenzen festgehalten werden. Das Bundesinnenministerium verkündet auf der Homepage, dass sie eine Priorisierung der Anträge von Kindern und Familien durchgesetzt hätten. Das ist jedoch mindestens seit Juni in den Vorschlägen vorgesehen und weit davon entfernt, eine Ausnahme vom Grenzverfahren zu sein – wie eigentlich von der Bundesregierung angestrebt.
Im Falle von Krise und Instrumentalisierung sollen zudem geänderte Fristen für die Zuständigkeitsfragen gelten sowie weitere Solidaritätsbeiträge möglich sein. Eine Verpflichtung für Mitgliedstaaten, Flüchtlinge aufzunehmen, anstatt nur Geld zu zahlen, scheint aber auch in diesen Fällen nicht in Sicht zu sein.
Europaparlament hat deutlich andere Position zur Krisenverordnung
Wie auch bei den anderen Verordnungsvorschlägen ist mit einer Einigung im Rat aber noch kein Gesetz beschlossen, sondern jetzt müssen die Mitgliedstaaten mit dem Europaparlament hierzu im sogenannten Trilog verhandeln. Und das dürfte bei der Krisenverordnung besonders schwierig sein, denn die Vorstellungen der beiden Co-Gesetzgeber liegen hier besonders weit auseinander. So findet man in der Verhandlungsposition des Europaparlaments vom April 2023 weder die einigen Mitgliedstaaten so wichtige »Instrumentalisierung« noch die »höhere Gewalt«. Außerdem will das Europaparlament einen neuen prima facie Schutz (also direkte Schutzanerkennung ohne aufwendiges Verfahren) und eine verpflichtende Verteilung von Schutzsuchenden im Fall einer Krise.
Die Zeichen stehen nicht gut für Menschenrechte und Flüchtlingsschutz in Europa. Doch das Europaparlament kann eine solche negative Reform noch verhindern. Deswegen fordert PRO ASYL in einer Petition an die Parlamentarier*innen: Verhindern Sie ein Europa der Haftlager!
(wj)