29.09.2023
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In Brüssel haben die europäischen Innenminister*innen am 28.09.2023 über offene Fragen zu Asyl- und Migrationspolitik verhandelt. Foto: European Union

Beim Treffen der EU-Innenminister*innen gab es eine politische Verständigung über die Krisenverordnung, der formelle Beschluss steht aber noch aus. Italien hat weiteren Verhandlungsbedarf angekündigt. Für Schutzsuchende steht viel auf dem Spiel, geht es doch um ihre Menschenrechte, die zur Verhandlungsmasse gemacht werden.

UPDATE: Am 4. Okto­ber 2023 hat der Aus­schuss der stän­di­gen Ver­tre­ter for­mal eine Posi­ti­on des Rates zur Kri­sen­ver­ord­nung beschlos­sen. Bei die­ser hat sich laut Medi­en­be­rich­ten Ita­li­en durch­ge­setzt und es wur­de eine Klau­sel im Geset­zes­text gestri­chen, die ver­hin­dern soll­te, dass See­not­ret­tungs­maß­nah­men als »Instru­men­ta­li­sie­rung von Migrant*innen« gewer­tet wer­den kann. Ein ent­spre­chen­der Hin­weis ist nun nur in den Erwä­gungs­grün­den ent­hal­ten. Die beschlos­se­ne Text­fas­sung des Rats vom 4. Okto­ber 2023 kann hier abge­ru­fen wer­den.

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Eigent­lich soll­te es beim Rats­tref­fen der EU-Innenminister*innen am Don­ners­tag, den 28. Sep­tem­ber 2023 nur einen »pro­gress report« zur Ver­hand­lung über die Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems geben. Im Juni hat­ten sich die Mit­glied­staa­ten auf einen Groß­teil der Vor­schlä­ge bereits geei­nigt – ein Durch­bruch nach lan­gem Ver­hand­lungs­patt, der auf Kos­ten der Men­schen­rech­te flie­hen­der Men­schen gemacht wur­de. Denn für eine Viel­zahl schutz­su­chen­der Men­schen bedeu­tet die Zukunfts­vi­si­on der Mit­glied­staa­ten, Asyl­grenz­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gun­gen – dass dies auch Flie­hen­de aus Län­dern wie Syri­en und Afgha­ni­stan tref­fen kann, erklärt PRO ASYL hier im Fak­ten­check. Abschie­bun­gen in unsi­che­re Dritt­staa­ten und wei­ter­hin kei­ne Form von Soli­da­ri­tät (sie­he hier für einen Über­blick). Auch die Bun­des­re­gie­rung stimm­te hier zu, die mit­re­gie­ren­den Grü­nen noch mit »Bauch­schmer­zen«.

Doch über eine Ver­ord­nung wur­de sich zunächst nicht geei­nigt, bis plötz­lich am Don­ners­tag die soge­nann­te Kri­sen­ver­ord­nung zur Debat­te gestellt wur­de. Sie sieht eine weit­ge­hen­de Aus­he­be­lung der Asyl­re­geln vor, wenn es zu einer (dro­hen­den) Kri­se oder »höhe­rer Gewalt« kom­men soll­te. Zudem füg­ten die Mit­glied­staa­ten noch Son­der­re­geln für den Fall der »Instru­men­ta­li­sie­rung von Migra­ti­on« ein, die in den ursprüng­li­chen Vor­schlä­gen über­haupt nicht vor­ge­se­hen waren (sie­he hier für mehr Erklä­run­gen). Schon seit Jah­ren ver­su­chen Mit­glied­staa­ten sich mit ver­meint­li­chen Aus­nah­me­zu­stän­den an den Außen­gren­zen aus ihren men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen zu zie­hen und genau dafür steht auch die Krisenverordnung.

Bundesregierung wirft Menschenrechte über Bord

Noch im Juli, als die spa­ni­sche Rats­prä­si­dent­schaft zum ers­ten Mal ver­such­te, eine sol­che Ver­ord­nung durch Abstim­mung durch­zu­set­zen, ent­hielt sich die Bun­des­re­gie­rung auf­grund men­schen­recht­li­cher Beden­ken. Doch von sol­chen Men­schen­rechts­ar­gu­men­ten war im Vor­feld der Rats­sit­zung nichts mehr zu hören. Die auf­ge­heiz­te Debat­te rund um Migra­ti­on und Flucht im eige­nen Land zeig­te deut­li­che Spu­ren. Außen­mi­nis­te­rin Anna­le­na Baer­bock begrün­de­te ihre Ableh­nung mit einer angeb­li­chen Gefahr von mehr Flucht­be­we­gun­gen nach Deutsch­land und der Über­las­tung der deut­schen Kom­mu­nen – über Camps mit mise­ra­blen Lebens­be­din­gun­gen und hin­ter Sta­chel­draht, in denen Geflüch­te­te mona­te­lang fest­ge­hal­ten wer­den könn­ten, sprach sie aller­dings nicht.

Ein Tag vor der Sit­zung in Brüs­sel kam dann die Mel­dung und die Minis­te­rin­nen Fae­ser und Baer­bock wur­den zur Eini­gung gezwun­gen. Damit war klar: Der Weg für eine deut­sche Zustim­mung zur Kri­sen­ver­ord­nung war, jetzt frei. Und tat­säch­lich ver­kün­det das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um eine »grund­sätz­li­che poli­ti­sche Eini­gung« über die Kri­sen­ver­ord­nung beim Rats­tref­fen – der tat­säch­li­che Beschluss ist aller­dings noch nicht gefasst. Dies soll nun im Aus­schuss der stän­di­gen Ver­tre­ter pas­sie­ren, einem Gre­mi­um der Botschafter*innen in Brüs­sel. Ange­sichts von Mel­dun­gen, dass Ita­li­en nach­ver­han­deln will, um gegen See­not­ret­tung vor­zu­ge­hen, ist noch unklar, was aktu­ell zur Ver­hand­lung steht.

Worum es geht: Mehr und längere Haft sowie erhöhte Gefahr von Pushbacks

Die Kri­sen­ver­ord­nung soll es den Mit­glied­staa­ten – als letz­tes Puz­zle­teil der Abschot­tungs­re­form – in drei Situa­tio­nen erlau­ben, von den Ver­schär­fun­gen der Reform abzu­wei­chen, die es für Schutz­su­chen­de noch schwe­rer machen wer­den, zu ihrem Recht zu kommen.

Nach den Vor­schlä­gen soll eine »Kri­sen­si­tua­ti­on« wie folgt defi­niert wer­den: »die außer­ge­wöhn­li­che Situa­ti­on eines Mas­sen­zu­stroms von irre­gu­lär in einem Mit­glied­staat ein­tref­fen­den oder in sei­nem Hoheits­ge­biet nach Such- und Ret­tungs­ein­sät­zen aus­ge­schiff­ten Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen und Staa­ten­lo­sen, der im Ver­hält­nis zur Bevöl­ke­rung und zum BIP des betref­fen­den Mit­glied­staats ein sol­ches Aus­maß hat und von sol­cher Art ist, dass das Asyl‑, Auf­nah­me- oder Rück­kehr­sys­tem des Mit­glied­staats nicht mehr funk­tio­niert, und der schwer­wie­gen­de Fol­gen für das Funk­tio­nie­ren des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems oder des gemein­sa­men Rah­mens im Sin­ne der Ver­ord­nung zum Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment haben kann, oder die unmit­tel­ba­re Gefahr des Ein­tre­tens einer sol­chen Situa­ti­on« (Art. 1 Abs. 2 Ver­ord­nungs­stand vom 23. Juni). Zur Anwen­dung der meis­ten Aus­nah­men braucht es einen Ratsbeschluss.

Laut den Vor­schlä­gen soll dies wie folgt defi­niert wer­den: »eine Situa­ti­on, in der Migran­ten instru­men­ta­li­siert wer­den, ist als eine Situa­ti­on zu ver­ste­hen, in der ein Dritt­land oder ein nicht­staat­li­cher Akteur die Bewe­gung von Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen an die Außen­gren­zen oder in einen Mit­glied­staat mit dem Ziel för­dert oder erleich­tert, die Uni­on oder einen Mit­glied­staat zu desta­bi­li­sie­ren, wenn sol­che Hand­lun­gen wesent­li­che Funk­tio­nen eines Mit­glied­staats, ein­schließ­lich der Auf­recht­erhal­tung von Recht und Ord­nung oder des Schut­zes sei­ner natio­na­len Sicher­heit, gefähr­den kön­nen« (Art. 1 Abs. 3 Ver­ord­nungs­stand vom 23. Juni). Zur Anwen­dung der meis­ten Aus­nah­men braucht es einen Ratsbeschluss.

An die­ser Defi­ni­ti­on will die ita­lie­ni­sche Regie­rung nun wohl noch wei­ter dre­hen, um See­not­ret­tungs­maß­nah­men auch als Instru­men­ta­li­sie­rung wer­ten und so die geret­te­ten Schutz­su­chen­den ent­spre­chend schlech­ter behan­deln zu können.

In den Vor­schlä­gen ist kei­ne Defi­ni­ti­on des Begriffs der »höhe­ren Gewalt« vor­ge­se­hen. Als Bei­spiel wird in den ursprüng­li­chen Vor­schlä­gen der Kom­mis­si­on die Covid-19-Pan­de­mie genannt. Zur Anwen­dung der meis­ten Aus­nah­men braucht es einen Ratsbeschluss.

Fol­gen­de Abwei­chun­gen von den übli­chen Regeln sind vor­ge­se­hen (hier wur­de die Rats­fas­sung vom 28. Sep­tem­ber von sta­te­watch gelea­k­ed), die ein Rezept für Push­backs sowie mas­sen­haf­te Inter­nie­rung unter kata­stro­pha­len Bedin­gun­gen an den Gren­zen sind:

  • Ver­zö­ge­rung der Registrierung/Gefahr von Push­backs: Im Fall einer Kri­se oder höhe­rer Gewalt kön­nen die Mit­glied­staa­ten bis zu vier Wochen Zeit für die Regis­trie­rung von Asyl­an­trä­gen haben, im Fall einer Instru­men­ta­li­sie­rung drei Wochen. Dies kann die Gefahr von Push­backs erhö­hen, da die Men­schen kei­nen Nach­weis dar­über bekom­men, dass sie einen Asyl­an­trag gestellt haben.

Die Gefahr einer Zunah­me von Push­backs bezie­hungs­wei­se der Unmög­lich­keit für Schutz­su­chen­de, einen Asyl­an­trag zu stel­len, ergibt sich ins­be­son­de­re auch aus den im Rat beschlos­se­nen Ände­run­gen im Schen­ge­ner Grenz­ko­dex. Die­se sehen im Fal­le einer Instru­men­ta­li­sie­rung die Schlie­ßung von Grenz­über­gän­gen vor sowie die Inten­si­vie­rung der Grenz­über­wa­chung, die »irre­gu­lä­re Grenz­über­trit­te« (die letzt­lich die meis­ten Geflüch­te­ten betref­fen) ver­hin­dern soll.

  • Noch mehr Men­schen in den Grenz­ver­fah­ren: Im Fal­le einer Kri­se oder höhe­ren Gewalt wird den Mit­glied­staa­ten zum einen erlaubt, weni­ger Grenz­ver­fah­ren durch­zu­füh­ren, und zwar, indem Schutz­su­chen­de aus Her­kunfts­staa­ten mit einer Schutz­quo­te von weni­ger als 20 Pro­zent nicht ver­pflich­tend in die Grenz­ver­fah­ren müs­sen. Des Wei­te­ren kön­nen die­se mas­siv aus­ge­wei­tet wer­den, indem Men­schen aus Her­kunfts­län­dern mit Schutz­quo­ten von bis zu 75 Pro­zent in die Grenz­ver­fah­ren neh­men wer­den. Im Fal­le einer Instru­men­ta­li­sie­rung kön­nen die Mit­glied­staa­ten alle (!) Asyl­su­chen­den in die Grenz­ver­fah­ren nehmen.
  • Ver­län­ge­rung der Grenz­ver­fah­ren (und damit der De-fac­to-Haft): In allen drei Fäl­len sol­len die Grenz­ver­fah­ren bis zu 20 Wochen dau­ern kön­nen (anstatt 12 Wochen) – sowohl die Asyl­grenz­ver­fah­ren als auch die anschlie­ßen­den Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren. Auf­grund der soge­nann­ten Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se ist zu erwar­ten, dass die Grenz­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gun­gen durch­ge­führt wer­den. Je län­ger eine Frei­heits­be­schrän­kung andau­ert, des­to schlim­mer wer­den die Aus­wir­kun­gen auch auf die men­ta­le Gesund­heit der betrof­fe­nen Men­schen. Eine unab­hän­gi­ge recht­li­che Unter­stüt­zung wird eben­so kaum mög­lich sein.

Ursprüng­lich war vor­ge­se­hen, dass wäh­rend die­ser Zeit auch Aus­nah­men von den Stan­dards der Auf­nah­me­richt­li­nie erlaubt sein wer­den. Dies wur­de nun gestri­chen. Jedoch muss in der Pra­xis damit gerech­net wer­den, dass die Vor­ga­ben nicht ein­ge­hal­ten und die Unter­brin­gungs­stan­dards schlech­ter wer­den je mehr Men­schen an den Gren­zen fest­ge­hal­ten wer­den. Das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um ver­kün­det auf der Home­page, dass sie eine Prio­ri­sie­rung der Anträ­ge von Kin­dern und Fami­li­en durch­ge­setzt hät­ten. Das ist jedoch min­des­tens seit Juni in den Vor­schlä­gen vor­ge­se­hen und weit davon ent­fernt, eine Aus­nah­me vom Grenz­ver­fah­ren zu sein – wie eigent­lich von der Bun­des­re­gie­rung angestrebt.

Im Fal­le von Kri­se und Instru­men­ta­li­sie­rung sol­len zudem geän­der­te Fris­ten für die Zustän­dig­keits­fra­gen gel­ten sowie wei­te­re Soli­da­ri­täts­bei­trä­ge mög­lich sein. Eine Ver­pflich­tung für Mit­glied­staa­ten, Flücht­lin­ge auf­zu­neh­men, anstatt nur Geld zu zah­len, scheint aber auch in die­sen Fäl­len nicht in Sicht zu sein.

Europaparlament hat deutlich andere Position zur Krisenverordnung

Wie auch bei den ande­ren Ver­ord­nungs­vor­schlä­gen ist mit einer Eini­gung im Rat aber noch kein Gesetz beschlos­sen, son­dern jetzt müs­sen die Mit­glied­staa­ten mit dem Euro­pa­par­la­ment hier­zu im soge­nann­ten Tri­log ver­han­deln. Und das dürf­te bei der Kri­sen­ver­ord­nung beson­ders schwie­rig sein, denn die Vor­stel­lun­gen der bei­den Co-Gesetz­ge­ber lie­gen hier beson­ders weit aus­ein­an­der. So fin­det man in der Ver­hand­lungs­po­si­ti­on des Euro­pa­par­la­ments vom April 2023 weder die eini­gen Mit­glied­staa­ten so wich­ti­ge »Instru­men­ta­li­sie­rung« noch die »höhe­re Gewalt«. Außer­dem will das Euro­pa­par­la­ment einen neu­en pri­ma facie Schutz (also direk­te Schutz­aner­ken­nung ohne auf­wen­di­ges Ver­fah­ren) und eine ver­pflich­ten­de Ver­tei­lung von Schutz­su­chen­den im Fall einer Krise.

Die Zei­chen ste­hen nicht gut für Men­schen­rech­te und Flücht­lings­schutz in Euro­pa. Doch das Euro­pa­par­la­ment kann eine sol­che nega­ti­ve Reform noch ver­hin­dern. Des­we­gen for­dert PRO ASYL in einer Peti­ti­on an die Parlamentarier*innen: Ver­hin­dern Sie ein Euro­pa der Haftlager!

(wj)