08.03.2024
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Geflüchtete Frauen und Mädchen sind häufig nicht angemessen untergebracht. Foto: picture alliance / dpa / Boris Roessler

Zum Internationalen Frauentag fordert PRO ASYL Bund und Länder auf, geflüchtete Frauen besser zu schützen. In den Gemeinschaftsunterkünften sind Frauen nicht ausreichend vor Gewalt sicher. Die Asyl-Anerkennungspraxis des Bundesamts wird der Realität einer geschlechtsspezifischen Verfolgung in den Herkunftsländern oft nicht gerecht.

Knapp 94.000 Frau­en und Mäd­chen haben in Deutsch­land 2023 um Asyl gebe­ten. Sie flüch­ten aus Her­kunfts­län­dern, in denen oft seit lan­ger Zeit Gewalt und Will­kür herr­schen, und aus Staa­ten, die sie nicht vor frau­en­ver­ach­ten­den Über­grif­fen und Atta­cken schüt­zen. Allein aus Syri­en kamen im Jahr 2023 über 22.000 Antrag­stel­le­rin­nen, rund 20.000 aus der Tür­kei, über 9.000 aus Afgha­ni­stan, dann fol­gen Irak (4.200) und Iran (3.800). Ins­be­son­de­re im Krieg und in stark auto­ri­tär und patri­ar­chal gepräg­ten Ver­hält­nis­sen müs­sen Frau­en Zwangs­ver­hei­ra­tung, kör­per­li­che und see­li­sche Miss­hand­lun­gen, sexu­el­le Über­grif­fe, Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Geni­tal­ver­stüm­me­lun­g/-beschnei­dung und ande­re Grau­sam­kei­ten bis hin zu ihrer Ermor­dung fürch­ten. Die Gefahr für Frau­en, wäh­rend der Flucht nach Euro­pa und sogar inner­halb Euro­pas erneut Gewalt zu erlei­den, ist extrem hoch.

Doch noch immer tut Deutsch­land zu wenig, um Frau­en und Mäd­chen umfas­send vor Gewalt zu schüt­zen. Dabei ver­pflich­tet die Istan­bul-Kon­ven­ti­on (IK) – das »Über­ein­kom­men des Euro­pa­ra­tes zur Ver­hü­tung und Bekämp­fung von Gewalt gegen Frau­en und häus­li­che Gewalt«– dazu. Die Kon­ven­ti­on ist in Deutsch­land seit 2018 in Kraft und für die gan­ze Euro­päi­sche Uni­on und alle Unter­zeich­ner­staa­ten völ­ker­recht­lich ver­bind­lich. Sie ver­pflich­tet die Staa­ten unter ande­rem zu geschlechts­sen­si­blen Auf­nah­me- und Asyl­ver­fah­ren und bekräf­tigt für gewalt­be­trof­fe­ne Frau­en die Gewäh­rung inter­na­tio­na­len Flücht­lings­schut­zes nach den Regeln der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK).

Istanbul-Konvention: Deutschland hat Hausaufgaben

Schon 2021 hat der Schat­ten­be­richt von PRO ASYL, Flücht­lings­rä­ten und Uni Göt­tin­gen gezeigt, dass die Istan­bul-Kon­ven­ti­on für geflüch­te­te Frau­en und Mäd­chen man­gel­haft umge­setzt ist. Die dort beschrie­be­nen Pro­ble­me sind nach wie vor aktu­ell: In der Auf­nah­me­pra­xis der Län­der wer­den geflüch­te­te Frau­en, die Gewalt erfah­ren muss­ten, nicht sys­te­ma­tisch iden­ti­fi­ziert. In vie­len Sam­mel­un­ter­künf­ten gibt es nach wie vor kei­ne Gewalt­schutz­kon­zep­te und kei­ne Vor­ga­ben oder Kon­trol­le von bestehen­den Schutz­kon­zep­ten durch die Län­der. Noch immer ist es kei­ne Sel­ten­heit, dass Toi­let­ten, Duschen oder Schlaf­räu­me in Flücht­lings­un­ter­künf­ten nicht abschließ­bar sind. Frau­en, die bereits an Kör­per und See­le schwe­re Ver­let­zun­gen erlit­ten haben, wer­den so zusätz­lich geängs­tigt und struk­tu­rell der Gefahr wei­te­rer Gewalt aus­ge­setzt. Oben­drein haben sie auf­grund der ein­schrän­ken­den Gesund­heits­re­ge­lun­gen des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes nicht ein­mal einen unge­hin­der­ten Zugang zu Bera­tung, medi­zi­ni­scher Behand­lung oder psy­cho­lo­gi­scher Hilfe.

Noch immer tut Deutsch­land zu wenig, um Frau­en und Mäd­chen umfas­send vor Gewalt zu schützen. 

Der Kon­troll­aus­schuss der Istan­bul-Kon­ven­ti­on GREVIO hat der Bun­des­re­pu­blik Ende 2022 Umset­zungs­lü­cken auch in Bezug auf geflüch­te­te Frau­en und Mäd­chen beschei­nigt und Ände­run­gen ange­mahnt. Bis Dezem­ber 2025 hat Deutsch­land Zeit, sie umzu­set­zen, dann muss die Bun­des­re­gie­rung GREVIO Bericht erstat­ten. Gesche­hen ist bis­her wenig – im Gegen­teil: Mit dem jüngs­ten Beschluss zum Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz haben Bund und Län­der die Situa­ti­on von gewalt­be­trof­fe­nen geflüch­te­ten Frau­en noch erheb­lich ver­schärft: Ihr Zugang zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung und zum regu­lä­ren Gesund­heits­sys­tem wur­de von 18 auf 36 Mona­te aus­ge­dehnt. Dis­kri­mi­nie­ren­de Bezahl­kar­ten wer­den das Leben der betrof­fe­nen Frau­en, etwa bei einem not­wen­di­gen Umzug in ein Schutz­haus, alles ande­re als leich­ter machen.

Mangelnder Blick des Bundesamtes auf geschlechtsspezifische Verfolgung

Auch in punc­to Asyl wird die Bun­des­re­pu­blik den Vor­ga­ben der Istan­bul-Kon­ven­ti­on bis­lang kaum gerecht: Nur in knapp 4.800 Fäl­len von Frau­en und Mäd­chen hat das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) eine geschlechts­spe­zi­fi­sche Ver­fol­gung fest­ge­stellt – das ent­spricht ledig­lich 7,8 Pro­zent der inhalt­lich geprüf­ten bezie­hungs­wei­se 6,0 Pro­zent aller Asy­l­ent­schei­dun­gen von Frauen.

Von den 4.800 ent­fal­len allein 3.200 auf das Her­kunfts­land Afgha­ni­stan. Die Bedro­hungs­la­ge durch die Tali­ban ist allent­hal­ben bekannt – Frau­en erle­ben sys­te­ma­ti­sche Unter­drü­ckung, Ent­rech­tung und bru­ta­le Bestra­fun­gen. Doch selbst den Afgha­nin­nen ver­wei­ger­te das Bun­des­amt noch vor eini­ger Zeit eine GFK-Asyl­an­er­ken­nung und stell­te statt­des­sen zumeist nur ein schwä­che­res »Abschie­bungs­ver­bot« fest. Nach­dem eini­ge EU-Staa­ten Afgha­nin­nen als ver­folg­te sozia­le Grup­pe betrach­te­ten und schließ­lich auch die Euro­päi­sche Asyl­agen­tur ihre Aner­ken­nung emp­fahl, sah sich das Amt ab März 2023 auf­ge­for­dert, sei­ne Pra­xis zu ändern: Die um unzu­läs­si­ge Ent­schei­dun­gen berei­nig­te GFK-Aner­ken­nungs­quo­te afgha­ni­scher Frau­en und Mäd­chen stieg von weni­ger als 40 Pro­zent zu Jah­res­be­ginn 2023 auf etwa 90 Pro­zent an. Ein klei­ner Teil der Afgha­nin­nen erhält vom BAMF aber immer noch ledig­lich ein Abschie­bungs­ver­bot, eini­ge sub­si­diä­ren Schutz.

Allein die­se Zah­len legen nahe, dass das The­ma geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt beim Bun­des­amt nicht ange­mes­sen beleuch­tet wird. Die Bun­des­re­pu­blik kommt ihrer Ver­pflich­tung zu geschlech­ter­sen­si­blen Asyl­prü­fun­gen offen­kun­dig nicht nach.

Bezo­gen auf ande­re Her­kunfts­län­der lässt die behörd­li­che Ein­sicht in die struk­tu­rel­le Gewalt gegen Frau­en auf sich war­ten: Auch im Iran wer­den Frau­en durch das Rechts­sys­tem der Scha­ria in vie­len Lebens­be­rei­chen unter­drückt. Seit 2022 strei­ten dort vor allem muti­ge Frau­en für ihre Rech­te und wer­den selbst bei klei­nen Ver­stö­ßen etwa gegen die Kopf­tuch­pflicht Opfer bru­ta­ler staat­li­cher Repres­si­on. Doch nur 7,6 Pro­zent der inhalt­lich geprüf­ten Asyl­an­trä­ge von Ira­ne­rin­nen enden mit der Aner­ken­nung auf­grund geschlechts­spe­zi­fi­scher Ver­fol­gung. Die Tür­kei wur­de 2018 vom Euro­pa­rat auf­grund der sich immer stär­ker aus­brei­ten­den Gewalt gegen Frau­en, Zwangs­ver­hei­ra­tun­gen von Mäd­chen und will­kür­li­cher rich­ter­li­che Mil­de gegen­über Gewalt­tä­tern gerügt. 2021 trat das Land medi­en­wirk­sam aus der Istan­bul-Kon­ven­ti­on aus. Hier­zu­lan­de fand das Bun­des­amt aber nur in 2 % der inhalt­lich geprüf­ten Fäl­le schutz­su­chen­der Frau­en Grün­de für eine geschlechts­spe­zi­fi­sche Verfolgung.

Allein die­se Zah­len legen nahe, dass das The­ma geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt beim Bun­des­amt nicht ange­mes­sen beleuch­tet wird. Die Bun­des­re­pu­blik kommt ihrer Ver­pflich­tung zu geschlech­ter­sen­si­blen Asyl­prü­fun­gen offen­kun­dig nicht nach.

EuGH: Flüchtlingsanerkennung für gewaltbetroffene Frauen 

Durch ein Urteil des Gerichts­hofs der Euro­päi­schen Uni­on (EuGH) vom 16. Janu­ar 2024 soll­te sich das künf­tig ändern: Das Gericht stell­te klar, dass Frau­en eines Her­kunfts­lan­des je nach den dort herr­schen­den Ver­hält­nis­sen auch ins­ge­samt als »bestimm­te sozia­len Grup­pe« im Sin­ne der EU-Aner­ken­nungs­richt­li­nie ange­se­hen wer­den kön­nen. Frau­en, die im Her­kunfts­land kör­per­li­che oder psy­chi­sche Gewalt erlei­den – was aus­drück­lich sexua­li­sier­te und häus­li­che Gewalt ein­schließt – kön­nen dem­nach als Flücht­lin­ge aner­kannt wer­den. Mord- oder Gewalt-Dro­hun­gen durch Ange­hö­ri­ge der Fami­lie oder der Gemein­schaft, weil der Frau ein Ver­stoß gegen kul­tu­rel­le, reli­giö­se oder tra­di­tio­nel­le Nor­men vor­ge­wor­fen wird, stuft der EuGH als »ernst­haf­ten Scha­den« gemäß EU-Aner­ken­nungs­richt­li­nie ein.

Erfreu­lich deut­lich weist der EuGH auf die Wich­tig­keit und Ver­bind­lich­keit der Istan­bul-Kon­ven­ti­on hin: Nicht nur die Euro­päi­sche Uni­on, die die Kon­ven­ti­on 2023 unter­zeich­net hat, son­dern auch alle EU-Staa­ten sind gehal­ten, die asyl­recht­li­chen Vor­ga­ben »im Lich­te der Istan­bul-Kon­ven­ti­on aus­zu­le­gen« Das gilt aus­drück­lich sogar für sol­che Staa­ten, die die Kon­ven­ti­on bis­lang noch nicht rati­fi­ziert haben, wie etwa Bul­ga­ri­en, Tsche­chi­en oder Ungarn. Glei­ches gilt im Übri­gen auch für ande­re völ­ker­recht­li­che Ver­trä­ge, nament­lich etwa die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on oder die Frau­en­rechts­kon­ven­ti­on CEDAW.

Tat­säch­lich wäre die EuGH-Ent­schei­dung für Deutsch­land eigent­lich gar nicht nötig gewe­sen: Im deut­schen Asyl­ge­setz ist bereits seit mehr als fünf­zehn Jah­ren ver­an­kert, dass eine Ver­fol­gung allein auf­grund des Geschlechts zur Flücht­lings­an­er­ken­nung füh­ren kann.

In der Pra­xis wird die­se an sich ein­deu­ti­ge Bestim­mung aber durch vie­le Wenn und Abers kaum ange­wen­det. So wird etwa behaup­tet, die sozia­le Grup­pe der Frau­en sei zu groß, oder es feh­le ihr an einer »abgrenz­ba­ren Iden­ti­tät« oder »Anders­ar­tig­keit«. Manch­mal wer­den des­halb klei­ne­re Unter­grup­pen kon­stru­iert, etwa die der »unver­hei­ra­te­ten Frau­en aus dem Iran«. Man­che Ver­fol­gung wird noch immer als unpo­li­tisch und damit asyl­u­n­er­heb­lich ein­ge­stuft, etwa im Fall häus­li­cher Gewalt, auch wenn die Frau dadurch erheb­lich gefähr­det ist und sie vom Staat kei­nen Schutz erhält.

Bei den Gerich­ten sieht es nur teil­wei­se bes­ser aus: Eini­ge Ver­wal­tungs­ge­rich­te ver­tra­ten bereits die Linie des Gerichts­ho­fes und gewähr­ten geschlechts­spe­zi­fisch ver­folg­ten Frau­en die GFK-Aner­ken­nung, bei vie­len ande­ren aber gibt es noch kei­nen zeit­ge­mä­ßen Umgang mit dem The­ma frau­en­spe­zi­fi­sche Verfolgung.

Das erfreu­li­che Urteil des EuGH schafft nun end­lich Klar­heit. Die Aner­ken­nungs­pra­xis von BAMF und Gerich­ten wird sich im Hin­blick auf die geschlechts­spe­zi­fi­schen Flucht­grün­de deut­lich ver­än­dern müs­sen, so dass wegen ihres Geschlechts ver­folg­te Frau­en end­lich zu ihrem Recht kommen.

(ak)