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Urteil gegen Griechenland: später Erfolg für Gerechtigkeit und Bedeutung menschlichen Lebens

Die griechische Küstenwache erschoss 2015 einen Minderjährigen auf einem Flüchtlingsboot. Die PRO ASYL-Schwesterorganisation Refugee Support Aegean (RSA) reichte mit den Hinterbliebenen Klage ein. Am 25. März verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland für die Tat. Ein Interview mit RSA-Anwältin Marianna Tzeferakou.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Griechenland vor wenigen Tagen verurteilt. Es geht um einen Vorfall aus 2015. Können Sie uns erzählen, was damals passiert ist?
Im August 2015 eröffnete die griechische Küstenwache nahe der Insel Symi das Feuer auf ein überfülltes Boot mit Schutzsuchenden. Ein Jugendlicher aus dem Irak – er war gerade einmal 17 Jahre alt – wurde getroffen und starb. Wir von RSA haben mit seinen Eltern Almukhlas und Al-Maliki gemeinsam geklagt.
… und nun nach fast zehn Jahren gewonnen.
Ja. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat einen klaren Verstoß gegen das Recht auf Leben, also gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, festgestellt. Die Richter*innen kritisierten, dass die Küstenwache bei ihrer Operation nicht den Schutz der Menschen im Fokus hatte. Weder sei die Aktion ausreichend vorbereitet, noch das Risiko durch Schusswaffeneinsatz richtig eingeschätzt worden. Besonders schwer wog bei der Verurteilung, dass die Küstenwache das Feuer eröffnete und auf ein überfülltes Boot voller panischer Menschen schoss, was die Richter*innen als extrem gefährlich einstuften. Die Küstenwache habe weder geprüft, ob sich weitere Personen an Bord unter Deck befanden, noch ob die gebotene Sorgfalt angewendet wurde, um Menschenleben zu schützen.
Was zudem sehr wichtig ist: Das Urteil stellt auch fest, dass die staatliche Untersuchung des Vorfalls mangelhaft war. Beweise gingen verloren, die Umstände des Todes wurden nicht ausreichend aufgeklärt, Verantwortliche nicht zur Rechenschaft gezogen.
Das klingt nach einem besonders drastischen Fall.
Drastisch ja, aber leider kein Einzelfall. Der Vorfall steht exemplarisch für ein System, in dem Griechenland, und auch Europa, seine Pflicht verletzt, Leben unabhängig von Herkunft oder Status zu schützen. Wir haben ähnliche Urteile, wie etwa bei dem Fall Safi und dem Fall Alkhatib, bei denen auch Menschen zu Tode kamen, weil die griechische Küstenwache gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstieß.
Aktuell haben wir weitere laufende Verfahren – beispielsweise zu Pushbacks und zu dem Schiffsunglück vor Pylos, die zeigen, dass es ein strukturelles Problem bei Einsätzen der griechischen Küstenwache gibt. Außerdem erleben wir immer wieder den fehlenden Willen und die mangelnde Sorgfältigkeit und somit eine große Ineffektivität bei den Ermittlungen, Fälle dieser Art aufzuklären. Häufig werden Zeug*innen viel zu spät oder gar nicht befragt und Beweismittel nicht ordnungsgemäß sichergestellt. Das macht es für uns Anwält*innen unheimlich schwer, denn wir sind ja auf die Ergebnisse der Ermittlungen und auf die sachgerechte Sicherstellung von Beweisen angewiesen und können nicht selbst ermitteln. Das ist nicht unsere Rolle.
Was für sie und für uns alle in der Regel unbegreiflich ist: Die unterschiedliche Wertigkeit von Leben.
Gibt es weitere Herausforderungen, denen Sie als Anwältin in Fällen wie diesem begegnen?
Zunächst einmal dauern die Verfahren unheimlich lang, im aktuellen Fall fast zehn Jahre. Da braucht es für uns Anwält*innen, aber vor allem auch für die Betroffenen einen sehr langen Atem, Stärke und Geduld. In den vielen Jahren zwischen der Tat und dem Gerichtsurteil herrscht ein Zustand der Ungerechtigkeit, der für die Betroffenen, aber auch für uns sehr schwer auszuhalten ist. Zumal wir gleichzeitig Teil des Rechtssystems sind und dieses auch verteidigen, welches zugleich diese Ungerechtigkeit über viele Jahre möglich macht. Weiterhin darf man nicht vergessen, dass hinter jedem dieser Fälle die Geschichten von Menschen stecken, die um ihre Angehörigen trauern und die Gerechtigkeit wollen.
Was für sie und für uns alle in der Regel unbegreiflich ist: Die unterschiedliche Wertigkeit von Leben.
Denn wenn es um Geflüchtete geht, hat die griechische Küstenwache, aber auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex als oberste Priorität die Festnahme von sogenannten Menschenschmugglern und die Abwehr von Geflüchteten – nicht die des Schutzes von Menschenleben. Das sagen wir seit Jahren und der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte hat dies im aktuellen Fall auch so gesehen.
Welche Konsequenzen wird das Urteil haben?
Zunächst einmal ist das Urteil ein enorm wichtiger Sieg für die Gerechtigkeit und hat eine immense Bedeutung für die Eltern des Getöteten. Das Urteil ist aber auch ein Sieg für unseren Rechtsstaat und für den Wert des Lebens an sich. Es zeigt: Es ist nicht egal, wenn ein 17-jähriger Geflüchteter auf dem Meer von europäischen Beamten*innen erschossen wird. Es wäre schön, wenn wir erwarten könnten, dass mit Urteilen wie diesem die Situation an den Grenzen rechtmäßiger und humaner werden würde. Aber das ist ehrlich gesagt unrealistisch. Aber so lange Gerichte als Korrektiv für staatliche Gewalt fungieren, haben wir Hoffnung für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat in Griechenland und in Europa.
(nb)