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Schutzsuchende harren im Urwald von Białowieża aus. Foto: PRO ASYL / Elisa Rheinheimer

Schutzsuchende aus aller Welt versuchen weiterhin, über Belarus nach Polen in die EU zu gelangen. Trotz der knapp sechs Meter hohen Mauer, die Polen Anfang Juli fertiggestellt hat, gelingt das einigen. Sie harren tage- oder wochenlang im Urwald von Białowieża aus. Elisa Rheinheimer von PRO ASYL berichtet über die Lage vor Ort.

Alte Holz­häu­ser mit Gie­bel­dä­chern, die den Ein­druck erwe­cken, als sei die Zeit hier vor fünf­zig Jah­ren ste­hen geblie­ben, säu­men die Feld- und Wie­sen­we­ge von Pod­lachien. In die­ser Regi­on im Osten von Polen bin ich gemein­sam mit einer Kol­le­gin sowie pol­ni­schen Anwäl­tin­nen unter­wegs. Rund zwan­zig Kilo­me­ter sind es bis zur bela­rus­si­schen Gren­ze. Ruhig und fried­lich wirkt es hier, doch die Idyl­le trügt: In den rie­si­gen Wäl­dern ver­ste­cken sich nach wie vor Flücht­lin­ge, die ver­su­chen, die EU zu errei­chen, in der sie sich in Sicher­heit wäh­nen. Das Dra­ma an der Ost­gren­ze der EU ist zwar aus den Schlag­zei­len ver­schwun­den, aber noch lan­ge nicht vor­bei. Täg­lich ver­su­chen Men­schen über die­sen Weg die EU zu errei­chen, täg­lich wer­den sie von pol­ni­schen Ein­hei­ten auf­ge­grif­fen, inhaf­tiert oder unmit­tel­bar nach Bela­rus abge­scho­ben. Vie­le von ihnen erlei­den durch die pol­ni­schen Push­backs Gewalt oder wer­den danach miss­han­delt: Häma­to­me und Kno­chen­brü­che zeu­gen von der Gewalt bela­rus­si­scher Soldat*innen.  Von einem »Alb­traum« sprach die Anwäl­tin Mar­ta Górc­zyńs­ka im ver­gan­ge­nen Jahr im Inter­view mit  PRO ASYL.

Der Biało­wieża ‑Natio­nal­park ist der letz­te Urwald Euro­pas; hier leben unter ande­rem Bisons und Wöl­fe. Das Para­dies für Naturliebhaber*innen ist für Geflüch­te­te eine gefähr­li­che, teils töd­li­che Zone. In der Gegend, in der wir unter­wegs sind, hat im Dezem­ber eine schwan­ge­re Frau ihr unge­bo­re­nes Baby ver­lo­ren, es ist im Mut­ter­leib gestor­ben. Kurz danach ist auch die Mut­ter ver­stor­ben, weil sie nicht recht­zei­tig medi­zi­ni­sche Hil­fe erhielt.  Min­des­tens 21 Men­schen sind allei­ne im pol­nisch-bela­rus­si­schen Grenz­ge­biet schon ums Leben gekom­men – die Dun­kel­zif­fer dürf­te weit­aus höher liegen.

Anfang Juli hat die pol­ni­sche Regie­rung die Mau­er fer­tig­ge­stellt, die sie gegen die Flücht­lin­ge errich­tet hat. Fünf­ein­halb Meter ist die­se hoch, sta­chel­draht­be­wehrt, über 180 Kilo­me­ter lang. Die Mau­er macht die Flucht nach Polen nicht unmög­lich, aber wesent­lich gefähr­li­cher. Eini­ge Schutz­su­chen­de schaf­fen es, sie zu über­win­den, ande­re wei­chen auf die ver­blei­ben­den rund 200 Kilo­me­ter der Gren­ze zwi­schen Bela­rus und Polen aus, die (noch) nicht mit einer Mau­er abge­schirmt sind – ent­we­der, weil es so sump­fig ist, dass dies unmög­lich ist, oder weil es sich um beson­ders geschütz­te Abschnit­te des Natio­nal­parks han­delt. In einem sol­chen Gebiet befin­den wir uns.

Die Aktivist*innen sind erschöpft – und viele psychisch am Ende

Eines der Häu­ser am Ran­de des Wal­des ist ein Rück­zugs­ort für Aktivist*innen, die Geflüch­te­ten hel­fen. Wo genau es steht, soll aus Sicher­heits­grün­den geheim blei­ben. Wer mit­hilft, tut dies ehren­amt­lich. In einem ande­ren Leben, in einer ande­ren Welt, in der man im Café einen Lat­te Mac­chia­to trinkt und über die letz­te Par­ty redet, arbei­ten die Men­schen, die hier zusam­men­kom­men, in unter­schied­li­chen Beru­fen, etwa als Gra­fik­de­si­gne­rin oder Leh­rer. Wann immer sie Zeit haben, kom­men sie hier­her, um zu hel­fen – eini­ge alle paar Mona­te für ein paar Tage, ande­re eine Woche pro Monat. So ist es kei­ne fes­te Grup­pe, die in dem geräu­mi­gen Haus mit den Vier­bett­zim­mern unter­kommt, son­dern wech­seln­de Gesich­ter. Sie kom­men hier als Grupa Gra­ni­ca zusam­men, einem Bünd­nis pol­ni­scher Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen und Aktivist*innen. Die Grup­pe wird auch von Orga­ni­sa­tio­nen wie der Hel­sin­ki Foun­da­ti­on for Human Rights oder der Stif­tung Oca­le­nie unterstützt.

Im Ein­gangs­be­reich des Hau­ses hängt die Haus­ord­nung, in einem Raum dane­ben ste­hen dut­zen­de Paar Gum­mi­stie­fel und Wan­der­schu­he in ver­schie­de­nen Grö­ßen für die Ein­sät­ze der Aktivist*innen im Wald. In einem wei­te­ren Raum lagern Power­banks, war­me Pull­over, Shirts und Unter­wä­sche, die an die Flücht­lin­ge ver­teilt wer­den. Finan­ziert wird das durch Spenden.

Jeden Tag um 10 Uhr ver­sam­meln sich alle Anwe­sen­den um einen gro­ßen Holz­tisch im Wohn­zim­mer und pla­nen den Tag. Auf dem Tisch steht eine gro­ße Scha­le mit Hafer­brei, außer­dem Brot und Tee, dazwi­schen eine Kar­te des Natio­nal­parks und auf­ge­klapp­te Lap­tops. Ewa, die uner­müd­lich in der Küche steht und erschöpf­ten Mitstreiter*innen auch mal eine Mas­sa­ge anbie­tet, ist schon dabei, das Mit­tag­essen vor­zu­be­rei­ten. Zur mor­gend­li­chen Run­de setzt sie sich mit an den Tisch. Aga­tha mode­riert: Wer geht raus in die Wäl­der zu den Flücht­lin­gen? Wer packt die Ruck­sä­cke mit den Essens­ra­tio­nen, war­mer Klei­dung und Schu­hen? Wer bleibt im Haus und hilft beim Auf­räu­men? Wer berei­tet das Essen vor? Wer kann neu ankom­men­de Aktivist*innen mit dem Auto vom Bahn­hof abho­len? Wer putzt Küche und Bad?

Die Men­schen aller Alters­grup­pen, die um den Ess­tisch sit­zen, befin­den sich seit Mona­ten per­ma­nent im Aus­nah­me­zu­stand. Seit die pol­ni­sche Regie­rung den Krieg gegen Geflüch­te­te erklärt hat, die Gren­ze mili­ta­ri­sier­te und Schutz­stan­dards ein­dampf­te, wer­den sie mehr denn je gebraucht. »Vie­le von uns sind zutiefst erschöpft«, berich­tet Aga­tha. »Wir haben nicht genug Leu­te. Die meis­ten, die jetzt hel­fen, waren schon im letz­ten Herbst mit dabei. Das ist psy­chisch sehr anstren­gend auf die Dau­er.« Der Sprint ist zum Lang­stre­cken­lauf gewor­den, Aga­tha ist selbst seit Okto­ber 2021 dabei. »Manch­mal füh­le ich mich wie ein Robo­ter. Ich höre von den schreck­li­chen Din­gen, die im Wald gesche­hen, oder erle­be sie mit, aber ich füh­le es nicht mehr. Es kommt nicht mehr an mich ran«, sagt sie und klingt müde. »Schlim­me Situa­tio­nen, die ich im Win­ter erlebt habe, rea­li­sie­re und ver­ar­bei­te ich erst jetzt.«

»Manch­mal füh­le ich mich wie ein Robo­ter. Ich höre von den schreck­li­chen Din­gen, die im Wald gesche­hen, oder erle­be sie mit, aber ich füh­le es nicht mehr. Es kommt nicht mehr an mich ran«

Aga­tha, Aktivistin

Dann kom­men zwei Hil­fe­ru­fe rein, eine Grup­pe von vier Geflüch­te­ten aus dem Kon­go, und eine wei­te­re Grup­pe über­wie­gend mit Men­schen aus Indi­en. Schnell wer­den die Ruck­sä­cke mit über­le­bens­wich­ti­gen Din­gen für die Schutz­su­chen­den gepackt, dann geht es los.

»Wir können uns nicht einfach zurücklehnen«

Ich bin unter­wegs mit drei Män­nern, was unge­wöhn­lich ist: Die meis­ten im Haus der Aktivist*innen sind Frau­en. Chris, 29, ist ein Jour­na­list aus Kra­kau, Mich­al, 41, ist Fahr­rad­päd­ago­ge aus Lub­lin, und Woj­tek, 42, kommt aus der Regi­on. Mich­al und Woj­tek sind seit einem drei­vier­tel Jahr enga­giert bei der Stif­tung Oca­le­nie. Bei­de hat­ten zuvor nichts mit der Flücht­lings­sze­ne zu tun. Aber dann kam der Som­mer 2021 und mit ihm die Kri­se Euro­pas, die Bela­rus‘ Dik­ta­tor Lukaschen­ko aus­nutz­te und Schutz­su­chen­de an die EU-Außen­gren­ze brach­te. Woj­tek woll­te sich nach einem Burn-Out eigent­lich im Natio­nal­park ent­span­nen, wan­dern gehen, Fahr­rad­fah­ren. »Aber wie kann man den Wald genie­ßen und sich erho­len, wenn so schreck­li­che Din­ge gesche­hen? Also habe ich mich ent­schie­den, zu hel­fen«, erzählt er.

»Ich befürch­te, wir haben das Schlimms­te noch vor uns«, sagt Mich­al. »Jetzt mit der Mau­er wird es noch mehr Tote geben, und ver­mut­lich wei­tet die Regie­rung auch die Not­stands­zo­ne wie­der aus, sodass Hel­fern der Zutritt ver­bo­ten wird. Dar­um müs­sen wir wei­ter­ma­chen. Wir kön­nen uns nicht ein­fach zurück­leh­nen.« Mit sei­nen Eltern kann Mich­al nicht über die Not­hil­fe spre­chen, die er hier in den Wäl­dern leis­tet. »Sie sind sehr kon­ser­va­tiv und glau­ben der Regie­rungs­pro­pa­gan­da. Ich möch­te eine gute Bezie­hung zu mei­nen Eltern haben, also reden wir nicht über die Flücht­lin­ge«, sagt er. Auch Woj­tek kennt das Gefühl der Zer­ris­sen­heit. »In mei­nem Dorf sind die Men­schen sehr eng­stir­nig und rechts­ge­rich­tet. Aber das Leben in War­schau, wo ich lan­ge war, hat mich ver­än­dert. Ich habe lin­ke Ideen auf­ge­schnappt. Dar­über kann ich mit denen daheim nicht spre­chen. Hier in der Grup­pe bin ich auf offe­ne Men­schen gesto­ßen, die so ticken wie ich. Das ist eine Bereicherung.«

Auch Chris ist häu­fig vor Ort, unter­stützt die Aktivist*innen und berich­tet für eine links­ge­rich­te­te, christ­li­che pol­ni­sche Zei­tung über die Lage. »Die­je­ni­gen Ein­hei­mi­schen, die sich 2017 in der Umwelt­be­we­gung für den Erhalt des Natio­nal­parks ein­ge­setzt haben, enga­gie­ren sich heu­te für Flücht­lin­ge«, erklärt er.

Heiße Suppe, Tee und Rettungsdecken für die Geflüchteten

Nach einer Wei­le hält Woj­tek das Auto an einem klei­nen Wald­weg und ich sprin­ge mit Mich­al und Chris her­aus, bevor er schnell wei­ter­fährt. Wir ren­nen in den Wald; nie­mand soll uns sehen, weder Grenzbeamt*innen, die mög­li­cher­wei­se hier patrouil­lie­ren, noch Ein­hei­mi­sche, denn längst nicht alle sind den Flücht­lin­gen gegen­über wohl­ge­son­nen. Eini­ge rufen die Poli­zei, was für die schutz­su­chen­den Men­schen in den aller­meis­ten Fäl­len bedeu­tet, dass sie inhaf­tiert und zurück­ge­schickt wer­den. Ande­re Ein­hei­mi­sche wie­der­um unter­stütz­ten die Men­schen auf der Flucht. »Vie­le Leu­te hier ver­ste­cken Flücht­lin­ge in ihren Kel­lern oder Scheu­nen. Es fühlt sich an wie in Kriegs­zei­ten. Frü­her haben sie hier in der Gegend Juden ver­steckt – heu­te Flücht­lin­ge. Für mich sind das Hel­den«, sagt Chris.

»Vie­le Leu­te hier ver­ste­cken Flücht­lin­ge in ihren Kel­lern oder Scheu­nen. Es fühlt sich an wie in Kriegs­zei­ten. Frü­her haben sie hier in der Gegend Juden ver­steckt – heu­te Flücht­lin­ge. Für mich sind das Helden«

Chris, Akti­vist

Schnell hat uns der Wald ver­schluckt. Wir klet­tern über umge­stürz­te Bäu­me, unter her­ab­hän­gen­den Zwei­gen hin­durch und durch hüft­ho­he Brenn­nes­seln. Schon nach weni­gen hun­dert Metern im Dickicht habe ich die Ori­en­tie­rung ver­lo­ren. In der Fer­ne bel­len Hun­de – sind die Grenzbeamt*innen in der Nähe? Nach rund einem Kilo­me­ter sehen wir sie: Drei Män­ner und eine Frau, die auf dem Wald­bo­den sit­zen, gegen Bäu­me gelehnt. Sie wer­den umschwirrt von unzäh­li­gen gro­ßen Stech­mü­cken. Mich­al packt die Ther­mos­kan­nen mit hei­ßem, gesüß­tem Tee aus und drückt jedem einen Becher in die Hand. Da die Aktivist*innen bereits am Tag zuvor mit den vier Kongoles*innen in Kon­takt stan­den und deren Schuh­grö­ßen erfragt hat­ten, erhal­ten sie nun auch fes­te Schu­he, außer­dem Power­banks zum Auf­la­den ihrer Han­dys, Beu­tel vol­ler Ener­gie-Rie­gel, Was­ser und gol­de­ne Ret­tungs­de­cken gegen die nächt­li­che Käl­te. Auch Sup­pe holt  Mich­al aus sei­nem gro­ßen Trek­king-Ruck­sack. »Esst! Das ist wich­tig, es gibt euch Ener­gie«, sagt er zu den Geflüchteten.

Unter ihnen sind auch zwei Min­der­jäh­ri­ge: Ruth aus der DR Kon­go und Glo­dy aus dem Kon­go sind erst sieb­zehn Jah­re alt. Beson­ders in der Nacht haben sie Angst, erzäh­len die Bei­den. Vor wil­den Tie­ren. Und davor, von Grenzbeamt*innen ent­deckt zu wer­den. Kalt sei es nachts, selbst jetzt im Juli. Seit zehn Tagen sind die Vier schon im Urwald unter­wegs. Wäh­rend die Män­ner psy­chisch rela­tiv sta­bil wir­ken, ist Ruth apa­thisch. Sie redet kaum, isst nur wenig und klagt über Schmer­zen in den Füßen. »Ich füh­le mich nicht gut«, wie­der­holt sie immer wie­der. Ihre Augen sind leer, sie lächelt sel­ten. Was sie unter­wegs erlebt hat, will sie nicht erzäh­len, nur so viel sagt sie: Ursprüng­lich sei sie mit einer ande­ren Grup­pe unter­wegs gewe­sen, doch die habe sie im Dschun­gel verloren.

Ihre Plä­ne sind unge­wiss. Die Vier hof­fen dar­auf, einen Asyl­an­trag in Deutsch­land stel­len zu kön­nen. Doch wie sie dort­hin kom­men sol­len, ist unklar. Kei­ner von ihnen damit gerech­net hat, in die­sem Dschun­gel zu lan­den. Und seit die pol­ni­sche Regie­rung Push­backs lega­li­siert hat, grenzt es fast an ein Wun­der, es über die Gren­ze gen Wes­ten zu schaf­fen. »Wie kom­men wir von hier nach War­schau?«, fra­gen sie. »War­um gibt uns Polen kei­nen Schutz?« Und: »Könnt ihr uns hel­fen, nach Deutsch­land zu kom­men?« Es ist schwie­rig, die­se Fra­gen aus­zu­hal­ten, ohne eine Ant­wort geben zu können.

Dann ver­ab­schie­den wir uns – und müs­sen sie zurück­las­sen. Das beklem­men­de Gefühl, das damit ein­her­geht, lässt sich nicht zurück­las­sen. Uns bleibt nichts ande­res übrig, als ihnen viel Glück zu wünschen.

PRO ASYL wird den Schutz­su­chen­den gemein­sam mit unse­ren pol­ni­schen Part­nern wei­ter­hin huma­ni­tär und recht­lich bei­ste­hen, wo immer dies mög­lich ist.

(er)