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Der Eingang vom Lager Kara Tepe / Mavrovouni auf Lesbos. Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

Kaum ein anderes Land ist schon so lange im Zentrum der Debatten über Flüchtlingspolitik wie Griechenland. Grund genug für einen Besuch bei unseren Kolleg*innen von Refugee Support Aegean (RSA), die das Leiden und Sterben von Schutzsuchenden noch unmittelbarer erleben als wir und seit Jahren dagegen kämpfen. Eindrücke aus sechs Tagen vor Ort.

Da Geflüch­te­te es durch zuneh­men­de Abschot­tung oft gar nicht mehr in die Euro­päi­sche Uni­on schaf­fen, wird es immer wich­ti­ger, die Zustän­de an den Gren­zen zu doku­men­tie­ren und gegen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen vor­zu­ge­hen. Schon seit 2007 ist PRO ASYL des­halb immer wie­der in Grie­chen­land aktiv. 2017 wur­de aus unse­rer lang­jäh­ri­gen Koope­ra­ti­on mit dor­ti­gen Anwält*innen, Dolmetscher*innen und Sozialarbeiter*innen eine eige­ne Orga­ni­sa­ti­on: Refu­gee Sup­port Aege­an. 18 Kolleg*innen sind dort mitt­ler­wei­le beschäf­tigt, sie arbei­ten auf Les­bos, Chi­os und dem grie­chi­schen Fest­land. Mit­te Juli haben wir sie auf ihrem Jah­res­tref­fen in Athen und anschlie­ßend auf Les­bos besucht.

Tag 1: Athen – Reswanas Geschichte

In den fol­gen­den drei Tagen wer­den auf dem Jah­res­tref­fen von RSA die aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen bespro­chen. Und davon gibt es vie­le: Das Schiffs­un­glück rund vier Wochen zuvor vor der Küs­te von Pylos mit hun­der­ten Toten beschäf­tigt die Anwält*innen qua­si rund um die Uhr. Die geplan­ten Ände­run­gen im EU-Asyl­sys­tem wer­den auch die Arbeit von RSA ver­än­dern. Und ille­ga­le Push­backs gibt es in Grie­chen­land zwar schon lan­ge, aber seit 2019 wer­den sie immer mehr zum bit­te­ren All­tag. Um all das geht es in den Diskussionen.

Am Nach­mit­tag tref­fen wir Res­wa­na, die jun­ge Frau arbei­tet als »cul­tu­ral media­tor« für RSA. Ihre Geschich­te ist nicht nur eng mit der Orga­ni­sa­ti­on ver­knüpft, sie steht auch bei­spiel­haft für so vie­les, was in der euro­päi­schen Flücht­lings­po­li­tik schief­läuft. Und sie ist schwer zu ertra­gen. Im Okto­ber 2015 flieht sie mit 14 Jah­ren aus Afgha­ni­stan über das Mit­tel­meer, das Boot ken­tert, unter den vie­len Toten sind auch Res­wa­nas Eltern und ihre Geschwis­ter. Sie über­lebt als ein­zi­ge ihrer Fami­lie. Die RSA-Kolleg*innen auf Les­bos erin­nern sich noch immer an das unter Schock ste­hen­de Mäd­chen im Camp PIKPA, einem Ort der zivil­ge­sell­schaft­li­chen Soli­da­ri­tät für beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen, der 2020 von der grie­chi­schen Regie­rung geschlos­sen wur­de. Heu­te wür­de Res­wa­na wohl statt­des­sen in eines der anony­men Mas­sen­la­ger kommen.

»Es sind jetzt fast acht Jah­re, die ich ver­su­che, zu über­le­ben, ver­su­che, mei­nen Weg zu fin­den, mei­ne Träu­me, mei­ne Zie­le. Gebt den Men­schen mehr Freiheit!«

Res­wa­na, mit 14 aus Afgha­ni­stan geflohen

Res­wa­na kommt in eine Gast­fa­mi­lie, nach dem Erhalt von Rei­se­pa­pie­ren zieht sie 2018 wei­ter nach Schwe­den. Hier leben ihre ein­zi­gen Ver­wand­ten in Euro­pa und hier, so berich­tet sie, lernt sie schwe­disch, kann end­lich neu begin­nen, wie­der wie eine nor­ma­le Jugend­li­che leben. Aber dann wird sie von den schwe­di­schen Behör­den vor die Wahl gestellt: Rück­kehr nach Grie­chen­land oder Abschie­bung nach Afgha­ni­stan. Not­ge­drun­gen kehrt sie Anfang 2020 nach Grie­chen­land zurück. Nur, weil sich ihre frü­he­re Gast­fa­mi­lie küm­mert, lan­det sie nach ihrer Rück­kehr nicht mit­ten im Coro­na-Lock­down obdach­los auf der Straße.

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Res­wa­na auf den Dächern Athens. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Mitt­ler­wei­le macht sie in Grie­chen­land eine Aus­bil­dung zur Mas­ken­bild­ne­rin, mit der Hil­fe von RSA konn­te sie in einem lang­wie­ri­gen DNA-Ver­fah­ren ihre toten Ange­hö­ri­gen fin­den. Sie lie­gen auf dem Flücht­lings­fried­hof auf Les­bos. Res­wa­na erzählt uns auch, dass sie nie zur Ruhe kommt und auch nach so vie­len Jah­ren immer noch stän­dig Pro­ble­me mit den Behör­den wegen ihrer Doku­men­te hat. Sie sagt:

»Es geht nur um Gren­zen. Als ich in Afgha­ni­stan war, sag­te mein Vater, dass die Euro­pä­er nicht in unter­schied­li­chen Län­dern den­ken, sie sei­en alle gleich. Aber als ich hier­her kam, konn­te ich kei­ne Gleich­heit erken­nen. Vie­le Kin­der sind in ande­re Län­der umge­sie­delt wor­den, aber für mich war das nicht mög­lich. Ich wün­sche mir, dass Euro­pa sei­ne Geset­ze ein wenig ändert, dass sie bei Dub­lin-Fäl­len nicht so streng sind. Es sind jetzt fast acht Jah­re, die ich ver­su­che, zu über­le­ben, ver­su­che, mei­nen Weg zu fin­den, mei­ne Träu­me, mei­ne Zie­le. Gebt den Men­schen mehr Frei­heit! Wenn ich mein Leben mit 14 in Schwe­den begon­nen hät­te, wäre ich heu­te viel stär­ker, viel wei­ter in mei­nem Leben.«

Tag 2: Athen – Pylos und die Arbeit mit den Überlebenden

Heu­te geht es beim RSA-Tref­fen unter ande­rem um das Schiffs­un­glück vor Pylos. Auch für uns in Deutsch­land sind sol­che Gescheh­nis­se immer wie­der Aus­nah­me­fäl­le, aber hier wird für uns deut­lich: Die direk­te und unmit­tel­ba­re Arbeit vor Ort ist ganz anders herausfordernd.

Unse­re Kolleg*innen haben eine lan­ge und trau­ri­ge His­to­rie mit Schiff­brü­chen, den »ship­w­recks«. Ver­schie­de­ne Daten gro­ßer Unglü­cke mit vie­len Toten haben sich hier ins Gedächt­nis ein­ge­brannt. Und im Gegen­satz zu uns in Deutsch­land sehen sie jedes Mal die Lei­chen am Strand oder im Kran­ken­haus von Les­bos, unter­stüt­zen trau­ma­ti­sier­te Über­le­ben­de nur Tage nach dem Unglück juris­tisch im Kampf um ihre Rech­te, ver­su­chen, ver­zwei­fel­ten Ange­hö­ri­gen bei der Suche und Iden­ti­fi­ka­ti­on ihrer Fami­li­en­mit­glie­der zu hel­fen. »Es ist ja nicht nur ein ein­zel­ner Mensch, der ertrun­ken ist, es ist immer eine gan­ze Fami­lie betrof­fen«, wird uns unser Kol­le­ge Moham­ma­di spä­ter auf Les­bos erzäh­len. Er dol­metscht dort seit vie­len Jah­ren und war auf etli­chen Begräb­nis­sen von ertrun­ke­nen Geflüch­te­ten. Nach dem ers­ten Mal, so sagt er, konn­te er eine Woche lang nichts essen. Der Geruch ver­folg­te ihn, die Bil­der der bläu­lich ver­färb­ten Wasserleiche.

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Die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che im Hafen von Myti­li­ni / Les­bos. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

»Wir dür­fen nicht schwei­gen, wir müs­sen die Über­le­ben­den unter­stüt­zen, um Gerech­tig­keit zu fordern.«

Mari­an­na Tze­fera­kou, RSA-Anwältin

Das Unglück von Pylos aber, das merkt man, erschüt­tert auch hier alle ganz beson­ders – denn es ist nicht ein­fach »nur« ein geken­ter­tes Schiff. Es ist bekannt, dass die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che und Fron­tex über die Situa­ti­on der Men­schen auf dem völ­lig über­füll­ten Frach­ter Bescheid wuss­ten, sogar vor Ort waren. Und über vie­le Stun­den kei­ne Maß­nah­men für eine Ret­tung vor­be­rei­tet hat­ten. Unse­re Anwält*innen haben mit etli­chen Über­le­ben­den gespro­chen, sie sind scho­ckiert von den Erzählungen.

»Es ist ein sehr schwe­rer Fall, es ist ein Ver­bre­chen. Das Wich­tigs­te ist jetzt für uns – und ich den­ke für die gesam­te Gesell­schaft in Euro­pa: Wir dür­fen nicht schwei­gen, wir müs­sen die Über­le­ben­den unter­stüt­zen, um Gerech­tig­keit zu for­dern. Und wir müs­sen von unse­ren Regie­run­gen ver­lan­gen, dass sie die­se Ver­bre­chen an den Gren­zen stop­pen.« (Mari­an­na Tze­fera­kou, Anwäl­tin von RSA)

Tag 3: Ritsona, Malakasa, Kara Tepe – Zäune, Mauern, Stacheldraht

Beglei­tet von einer grie­chi­schen Kol­le­gin machen wir uns auf den Weg nach Nor­den. Wir steu­ern zunächst das Camp Rit­so­na an, dort­hin ist es unge­fähr eine Stun­de Fahrt von Athen aus. Rund 3.000 Geflüch­te­te sind hier unter­ge­bracht, ziem­lich im Nir­gend­wo. Neben den Zäu­nen und Sta­chel­dräh­ten ist vor eini­ger Zeit auch noch eine Mau­er gebaut wor­den. Die Geflüch­te­ten sol­len hier offen­bar nicht sicht­bar sein und auch nie­man­den sehen. »You can’t build a wall around our dreams« hat jemand von außen auf die Mau­er geschrie­ben – und wir fra­gen uns, wie allein die­ser klei­ne Akt des Wider­stands mög­lich war, denn das gesam­te Lager wird von Kame­ras überwacht.

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Über­wa­chungs­an­la­gen im Camp Rit­so­na. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Die Men­schen kön­nen das Lager hier zwar ver­las­sen, aber es gibt in der Umge­bung nichts. Vor den Toren tref­fen wir James*, er möch­te mit einem Freund nach Athen fah­ren. Wir neh­men sie ein Stück mit und er erzählt uns von den schlech­ten Bedin­gun­gen im Camp, man­geln­der medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung und dass sie nur 65 Euro  im Monat zur Ver­fü­gung haben, aber allein die Tickets nach Athen schon 20 Euro hin und zurück kos­ten. Auf­fäl­lig ist vor allem sei­ne Angst, von den Secu­ri­ties dabei beob­ach­tet zu wer­den, dass er in unse­rem Auto sitzt. Daher möch­te er auch kei­nes­falls mit uns vor der Kame­ra spre­chen, aber er berich­tet, dass er schon seit 2020 in Grie­chen­land ist und immer noch auf sei­ne Asyl-Anhö­rung wartet.

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»Die Men­schen leben in dem Lager wie in einem Käfig. Kei­ne Medi­ka­men­te, kei­ne Mög­lich­keit, rich­tig zu schla­fen. Ich bit­te die Regie­run­gen der Euro­päi­schen Uni­on, den Ein­wan­de­rern hier in Grie­chen­land zu hel­fen. Wir sind in Not, hier gibt es kei­ne Sicher­heit für uns.« (James*, Geflüch­te­ter aus einem afri­ka­ni­schen Land)

Rund 15 Auto-Minu­ten ent­fernt von Rit­so­na liegt Mala­ka­sa. Hier ste­hen gleich zwei gro­ße Lager und hier wur­den die 104 Über­le­ben­den des Schiffs­un­glücks vor Pylos unter­ge­bracht. Zunächst im »neu­en« Lager, einer Con­tai­ner­an­la­ge inmit­ten einer Stein­wüs­te hin­ter mehr­fa­chen Sta­chel­draht­zäu­nen in der sen­gen­den Son­ne. Eine bedrü­cken­de Sze­ne­rie, modern erscheint hier ein­zig die Überwachungstechnik.

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Zäu­ne, Sta­chel­draht und Kame­ras: Der Ein­gang vom Lager Mala­ka­sa. Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

Nach den ers­ten Anhö­run­gen wur­den die Über­le­ben­den mitt­ler­wei­le ins »alte« Lager eini­ge Kilo­me­ter wei­ter trans­fe­riert. Hier wer­den wir ziem­lich unver­züg­lich von den all­ge­gen­wär­ti­gen Sicher­heits­kräf­ten gebe­ten, zu gehen. Fotos oder Vide­os sind nicht erlaubt. Die Anwält*innen von RSA, die uns wegen des Mee­tings nicht beglei­ten konn­ten, sind hier aller­dings mehr­fach in der Woche vor Ort und erhal­ten auch Zugang. Das Lager liegt neben einem mili­tä­ri­schen Sperr­ge­biet, immer­hin gibt es in Mala­ka­sa aber einen klei­nen Orts­kern – und einen Zug nach Athen.

Wir hin­ge­gen set­zen unse­re Rei­se nun in Rich­tung Süden fort und bege­ben uns auf die Insel Les­bos, wohl spä­tes­tens seit 2015 welt­be­kannt. Sie liegt nur weni­ge Kilo­me­ter von der Tür­kei ent­fernt, trotz­dem ster­ben auf der Flucht übers Meer mit wack­li­gen Schlauch­boo­ten immer wie­der Geflüch­te­te. Nach dem das – eben­falls zu trau­ri­ger Bekannt­heit gekom­me­ne – Elend­sla­ger Moria abge­brannt ist, sind die Schutz­su­chen­den, die die Über­fahrt über­le­ben, im Lager Kara Tepe / Mavro­vouni eini­ge Kilo­me­ter ent­fernt untergebracht.

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Blick auf das Lager Kara Tepe / Mavro­vouni. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Es steht direkt an der Küs­te unter­halb von einem kar­gen Hügel und wur­de in kür­zes­ter Zeit hoch­ge­zo­gen, dem­entspre­chend muten die Ein­rich­tun­gen oft pro­vi­so­risch an. Foto­auf­nah­men sind – natür­lich – auch hier unter­sagt, schließ­lich sol­len die Zustän­de mög­lichst nicht doku­men­tiert wer­den. Wir bege­ben uns des­we­gen auf eine Anhö­he, um einen weit ent­fern­ten Blick aufs Camp wer­fen zu kön­nen. In der direk­ten Umge­bung des Lagers steht immer­hin eine Sta­ti­on, in der Geflüch­te­te medi­zi­ni­sche Hil­fe bei NGOs wie »Ärz­te ohne Gren­zen« erhal­ten kön­nen, denn inner­halb ist die Ver­sor­gung kata­stro­phal. Auch die RSA-Anwält*innen auf Les­bos nut­zen die­se Sta­ti­on, um juris­ti­sche Unter­stüt­zung leis­ten zu können.

Tag 4: Lesbos – Moria und andere Mahnmale 

Wir besu­chen unse­ren Kol­le­gen Moham­ma­di in sei­nem »Büro«, dem Vor­raum im Kran­ken­haus von Les­bos. Er dol­metscht dort – und über­all wo es sonst noch not­wen­dig ist – für Geflüch­te­te. Moham­ma­di kam selbst im Jahr 2002 aus Afgha­ni­stan und ist bis heu­te auf der Insel geblie­ben. War­um? »Na, ich lie­be es hier«, ant­wor­tet er knapp aber ein­deu­tig. Zu sei­ner Arbeit hat er dafür eine gan­ze Men­ge zu berich­ten, wir müs­sen das aus­führ­li­che Gespräch jedoch ver­ta­gen und fah­ren in den Nor­den der Insel. Dort wird ein neu­es Lager gebaut, mit­ten im Wald. In der Nähe befin­det sich ein­zig eine Müll­kip­pe, allein das ist sinn­bild­lich für die neue Linie der grie­chi­schen Behör­den. Unse­re Kolleg*innen machen sich gro­ße Sor­gen, dass bei einem Brand auf­grund der Abge­le­gen­heit und der schlech­ten Stra­ßen kaum eine Eva­ku­ie­rung aus die­sem Lager mög­lich sein wird.

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Auf Les­bos wird ein neu­es Flücht­lings­la­ger irgend­wo im nir­gend­wo gebaut. Foto: Efi Latsou­di / RSA

Den letz­ten gro­ßen Brand haben hier alle noch in Erin­ne­rung, und auf dem Weg kom­men wir an eben jenem ehe­ma­li­gen Lager Moria vor­bei, das vor über drei Jah­ren abge­brannt ist. Die Über­res­te des Kern­camps sind trotz­dem noch gut erhal­ten, man kann sich die beeng­ten Ver­hält­nis­se in den Blech­hüt­ten nur all­zu gut vor­stel­len, auch wenn wir den Bereich nicht betre­ten kön­nen. Wie über­all ist auch dort Poli­zei zugegen.

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Der Ein­gang zum abge­brann­ten Lager Moria. Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

»Wir sind sehr erschöpft von der Situa­ti­on. Es ist eine sich immer wie­der­ho­len­de Situa­ti­on von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, von Todes­fäl­len. Aber ich glau­be an das, was wir tun, ich glau­be, dass es hun­dert­pro­zen­tig not­wen­dig ist.«

Efi Latsou­di, Nan­sen-Preis­trä­ge­rin der UN

Im Nor­den von Les­bos ange­kom­men, sehen wir die tür­ki­sche Küs­te, sie erscheint so nahe, dass man meint, fast dort­hin schwim­men zu kön­nen. Aber die See kann hier sehr tückisch sein – und die Küs­ten­wa­che ist all­zeit prä­sent. Auch auf den Ber­gen an der Küs­te sit­zen Poli­zis­ten neben unschein­ba­ren Vans und beob­ach­ten mit High­tech-Equip­ment das Meer, auf der Suche nach Flüchtlingsbooten.

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Blick auf die tür­ki­sche Küs­te. Die Küs­ten­wa­che kreuzt. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Eben­falls in die­ser Gegend befin­det sich ein Ort, an dem unzäh­li­ge Über­bleib­sel der Men­schen lie­gen, die über das Meer gekom­men sind, um in der EU Schutz zu suchen. Schwimm­wes­ten lie­gen neben Res­ten von Holz­boo­ten und Ret­tungs­rin­gen. Dazwi­schen immer wie­der auch Klei­dungs­stü­cke und ein­zel­ne Schu­he. Nie­mand kann sagen, was aus den Besitzer*innen wur­de. Man­che Ret­tungs­wes­te wur­de wohl nach der geglück­ten Ankunft am Strand zurück­ge­las­sen, man­ches wur­de erst von den Wel­len angespült.

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Ret­tungs­wes­ten und ande­re Hin­ter­las­sen­schaf­ten im Nor­den von Les­bos. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Tag 5: Lesbos – wo Menschenrechtsverletzungen trauriger Alltag sind

Unse­re Kol­le­gin Efi Latsou­di erzählt uns mehr dazu, wie die Situa­ti­on auf Les­bos sich über die Jah­re ver­än­dert hat. Efi arbei­tet dort seit über 15 Jah­ren mit Geflüch­te­ten, unter ande­rem im schon erwähn­ten Pro­jekt PIKPA. Für ihren Ein­satz dort wur­de sie 2016 auch mit dem Nan­sen-Preis der Ver­ein­ten Natio­nen gewür­digt, aber selbst sol­che Aus­zeich­nun­gen konn­ten die grie­chi­sche Regie­rung nicht dar­an hin­dern, die­sen Ort der Mensch­lich­keit zu schlie­ßen. Efi macht trotz­dem uner­müd­lich wei­ter mit ihrer Arbeit.

»Wir sind sehr erschöpft von der Situa­ti­on. Es ist eine sich immer wie­der­ho­len­de Situa­ti­on von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, von Todes­fäl­len. Aber ich glau­be an das, was wir tun, ich glau­be, dass es hun­dert­pro­zen­tig not­wen­dig ist. Und wir brau­chen mehr Men­schen, die sich anschlie­ßen, die han­deln und gegen die­se Art der Poli­tik kämp­fen.« (Efi Latsou­di, Nan­sen-Preis­trä­ge­rin der UN)

Das glei­che gilt für Moham­ma­di, der uns anschlie­ßend von sei­nen Erleb­nis­sen berich­tet. Vom Okto­ber 2015, als das Kran­ken­haus alle ver­füg­ba­ren Leu­te selbst aus dem Urlaub zusam­men­rief, um irgend­wie die Kin­der zu ret­ten, die dort nach meh­re­ren Schiffs­un­glü­cken hin­ge­bracht wur­den – eines davon war Res­wa­na. Von einem Schiffs­un­glück 2009, nach dem er selbst eine Depres­si­on bekam. Aber auch von einer Frau, die gemein­sam mit ihrem Mann und ihrem Kind mit dem Boot noch in tür­ki­schen Gewäs­sern ken­ter­te. Sie konn­te nicht schwim­men, alle muss­ten davon aus­ge­hen, dass sie ertrun­ken war, wäh­rend die ande­ren bei­den sich an Wrack­tei­le klam­mern konn­ten. 17 Stun­den spä­ter rief das Kran­ken­haus bei Moham­ma­di an. Eine Frau wur­de dort ein­ge­lie­fert: Die Wel­len hat­ten sie tat­säch­lich leben­dig bis nach Grie­chen­land gespült.

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Flücht­lings­fried­hof Kato Tri­tos auf Les­bos. Im Vor­der­grund liegt ein zehn Mona­te altes Baby begra­ben, die Stö­cke im Hin­ter­grund mar­kie­ren wei­te­re Grä­ber. Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

Wie vie­len Men­schen Moham­ma­di über die Jah­re hin­weg gehol­fen hat, kann er uns nicht sagen, es müs­sen Tau­sen­de gewe­sen sein. Aber er erzählt uns, dass direkt nach sei­ner eige­nen Ankunft auf Les­bos ein Taxi­fah­rer ihm und ande­ren Schutz­su­chen­den Essen und Geträn­ke brach­te. Dem Taxi­fah­rer selbst war einst in Aus­tra­li­en gehol­fen wor­den, das woll­te er zurück­ge­ben und bat die Geflüch­te­ten, dies eines Tages ihrer­seits zu tun. Die­ses Ver­spre­chen hat Moham­ma­di defi­ni­tiv erfüllt.

Anschlie­ßend folgt der für uns här­tes­te Teil der Rei­se. 2015 war der ört­li­che Fried­hof voll, es brauch­te einen Platz für die Lei­chen der ertrun­ke­nen Flücht­lin­ge. An einem abge­le­ge­nen Ort wur­de der Flücht­lings­fried­hof »Kato Tri­tos« errich­tet. Mitt­ler­wei­le ist er lei­der etwas ver­wil­dert, die Behör­den haben die Auf­sicht einer Per­son über­tra­gen, die nicht mit unse­ren Kolleg*innen zusam­men­ar­bei­ten möch­te. Die begin­nen­de Ver­wahr­lo­sung macht die Umge­bung dort noch trau­ri­ger. Die meis­ten Grä­ber sind mit ein­fa­chen Holz­stö­cken mar­kiert, vie­le davon unbe­schrif­tet –namen­lo­se Grä­ber für die Men­schen, deren Geschich­ten uner­zählt blei­ben. Es gibt aber auch Stei­ne oder Mar­mor­plat­ten mit Namen der Ver­stor­be­nen. Hin und wie­der ste­hen Bil­der dort, wie das von einem Baby, das im Dezem­ber 2022 bei­gesetzt wur­de, nur zehn Mona­te alt. Ein­drü­cke, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen.

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Poli­zei­van mit High­tech-Equip­ment an der Küs­te. Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

Auch Res­wa­nas Fami­lie liegt auf die­sem Fried­hof begra­ben. Wie vie­len ande­ren hilft es ihr, dass sie jetzt wenigs­tens einen Ort hat, um Abschied zu neh­men, um zu trau­ern. Wir selbst hal­ten es nicht lan­ge auf dem Fried­hof aus.

Auf dem Rück­weg in die Stadt kom­men uns zwei Vans der Poli­zei ent­ge­gen. Mit die­sen Fahr­zeu­gen wer­den immer wie­der die ille­ga­len Push­backs durch­ge­führt. Denn mitt­ler­wei­le wer­den Flücht­lin­ge nicht mehr »nur« an der Land­gren­ze zurück­ge­scho­ben oder mit ihren Boo­ten abge­drängt. Auch wenn die Men­schen bereits auf den Inseln ange­kom­men sind, brin­gen die Behör­den sie häu­fig wie­der zurück aufs Meer und set­zen sie dort aus. Kein Wun­der, dass die offi­zi­el­len Ankunfts­zah­len zurückgehen.

Tag 6: Frankfurt – Die Ungleichheit vor Augen geführt

So schön der Aus­tausch mit den Kolleg*innen war, so froh sind wir, nicht noch wei­te­re Tage vol­ler Zäu­ne, Lagern und Bil­dern von Lei­chen vor uns zu haben. Es ist für uns kaum vor­stell­bar, wie man die­se Arbeit über so vie­le Jah­re hin­weg machen kann, ohne den Glau­ben an die Mensch­heit zu ver­lie­ren. In Grie­chen­land und spe­zi­ell auf den Inseln wer­den die bedrü­cken­den und unmit­tel­ba­ren Fol­gen der euro­päi­schen Flücht­lings­po­li­tik deut­lich. In Deutsch­land ver­schlie­ßen wir davor nur all­zu­gern unse­re Augen, hier ist das schlicht nicht möglich.

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Kon­trol­len beim Flug aus Athen am Frank­fur­ter Flug­ha­fen. Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

Und bei der Rück­kehr in Frank­furt wird uns die erleb­te Ungleich­heit und Unge­rech­tig­keit noch ein­mal vor Augen geführt: Obwohl Grie­chen­land Mit­glied des Schen­gen-Raums ist, erfolgt beim Aus­stei­gen aus dem Flug­zeug eine Kon­trol­le durch die Bun­des­po­li­zei. Man sucht hier nach Flücht­lin­gen. Das Mus­ter ist klar: Wir kön­nen pro­blem­los pas­sie­ren, aber alle Men­schen, die unter Racial Pro­fil­ing-Kri­te­ri­en ins Ras­ter pas­sen, wer­den genau­es­tens über­prüft, eine Fami­lie wird von der Bun­des­po­li­zei mitgenommen.

(mk/jo)