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Trauerfeier zum Gedenken der Toten vom Schiffsunglück am 26. Februar 2023 Foto: picture alliance / ANSA | Luigi Salsini

Ein Jahr nach dem Schiffsunglück in der Nähe der italienischen Stadt Crotone in Kalabrien mit mehr als 94 Toten kommen Überlebende und Angehörige in Crotone zusammen, um der Toten zu gedenken und Aufklärung und Konsequenzen zu fordern. PRO ASYL unterstützt mehrere Angehörige, die inzwischen in Deutschland leben.

Da ist der jun­ge Syrer Assad Almul­qi, der stun­den­lang ver­sucht, sei­nen sechs­jäh­ri­gen Bru­der Sul­tan über Was­ser zu hal­ten und ihn doch nicht ret­ten kann. Sul­tan erfriert im eis­kal­ten Was­ser. Da ist der afgha­ni­sche Fami­li­en­va­ter Moham­mad Wahid Hamidi, der zuse­hen muss, wie sei­ne Ehe­frau Muni­ka und sei­ne drei jüngs­ten Kin­der Mar­wa, Hadi­ja und Tajib im Alter zwi­schen fünf und zwölf Jah­ren vor sei­nen Augen in den Flu­ten ver­schwin­den. Er schafft es nur, sei­nen ältes­ten Sohn, Mos­ta­fa, zu ret­ten. Da ist die jun­ge Afgha­nin Nige­e­na Momo­zai, die sich mit ihrem Part­ner Seyar Noo­ri an eine Holz­plan­ke klam­mert, bevor er in den Wel­len verschwindet.

Es sind unbe­schreib­li­che und schwer ertrag­ba­re Sze­nen, die sich beim Unter­gang des Motor­se­gel­boots »Sum­mer Love« vor einem Jahr in den frü­hen Mor­gen­stun­den des 26. Febru­ars 2023 vor dem kala­bri­schen Ört­chen Stec­ca­to di Cruto in der Nähe von Cro­to­ne abge­spielt haben. Von den rund 200 Men­schen an Bord des Schif­fes über­le­ben nur 82. Min­des­tens 94 Men­schen ertrin­ken, dar­un­ter rund 35 Kin­der. Alle ande­ren gel­ten bis heu­te offi­zi­ell als vermisst.

Die Men­schen an Bord sind Schutz­su­chen­de, vor allem aus Afgha­ni­stan und Syri­en. Sie hof­fen auf Schutz und Sicher­heit in Euro­pa. Man­gels lega­ler Wege bestei­gen sie vier Tage vor dem Unter­gang in der Nähe der tür­ki­schen Stadt Izmir die »Sum­mer Love«, die sie nach Ita­li­en brin­gen soll. Die Fahrt mün­det in der Katastrophe.

»Auch nach einem Jahr lei­den wir Über­le­ben­den die­ses Schif­fes phy­sisch und psy­chisch. Wir war­ten, ohne ange­mes­se­ne Unter­brin­gung und auf unter­schied­li­che Flücht­lings­un­ter­künf­te aufgeteilt«

Aufnahme in Deutschland

Über­le­ben­de mit einem »per­sön­li­chen Bezug« zu Deutsch­land wer­den nach eini­gen Wochen nach Ham­burg aus­ge­flo­gen und durch­lau­fen dort ihr Asyl­ver­fah­ren. Mög­lich macht das ein euro­päi­scher Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus. Die deut­sche Innen­min­in­s­te­rin Nan­cy Faser bezeich­net das als »selbst­ver­ständ­li­chen Akt der geleb­ten Soli­da­ri­tät«. Dabei gilt die Soli­da­ri­tät Ita­li­en, nicht den Überlebenden.

Trotz­dem ist die Auf­nah­me nach Deutsch­land für die Über­le­ben­den von gro­ßer Bedeu­tung, weil hier Ver­wand­te leben, die sie unter­stüt­zen kön­nen. Im Herbst 2023 setzt die deut­sche Bun­des­re­gie­rung den Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus schließ­lich aus. Ins­ge­samt wur­den bis dahin 887 Asyl­su­chen­de aus Ita­li­en auf­ge­nom­men, dar­un­ter auch eini­ge Über­le­ben­de von Crotone.

Samir Amirk­heil ist einer der Über­le­ben­den, der mitt­ler­wei­le in Ham­burg lebt. In einem  Video­state­ment zum ers­ten Jah­res­tag der Kata­stro­phe macht er zusam­men mit ande­ren Über­le­ben­den auf ihre Situa­ti­on auf­merk­sam: »Auch nach einem Jahr lei­den wir Über­le­ben­den die­ses Schif­fes phy­sisch und psy­chisch. Wir war­ten, ohne ange­mes­se­ne Unter­brin­gung und auf unter­schied­li­che Flücht­lings­un­ter­künf­te auf­ge­teilt«. Cro­to­ne ist für sie das Syn­onym eines »his­to­ri­schen Mas­sa­kers«, dem sie nur knapp ent­ron­nen sind.

Ein Jahr nach dem Unglück: Trauer, Schmerz und die Forderung nach Gerechtigkeit

Zum ers­ten Jah­res­tag tritt ein Teil der Über­le­ben­den unter­stützt durch PRO ASYL die schwe­re Rei­se von Ham­burg zurück zum Unglücks­ort an, um ihrer Liebs­ten zu geden­ken, die bei dem Schiffs­un­glück gestor­ben sind.

Gela­den hat das »Netz­werk 26. Febru­ar«, ein Zusam­men­schluss von zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen aus Cro­to­ne, die Hin­ter­blie­be­ne und Über­le­ben­de unter­stüt­zen. Gemein­sam bege­hen sie den trau­ri­gen Jah­res­tag mit einem umfang­rei­chen Pro­gramm aus Mahn­wa­che, Demons­tra­ti­on, Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung und einem Kon­zert. So tra­gen sie die For­de­run­gen nach Gerech­tig­keit, lücken­lo­ser Auf­klä­rung und siche­ren Flucht­kor­ri­do­ren in die Öffent­lich­keit. In Geden­ken an die Opfer von Cro­to­ne kämp­fen sie gemein­sam gegen das Ster­ben auf dem Mittelmeer.

Die ita­lie­ni­schen Beam­ten signa­li­sier­ten, dass das Boot nicht »von beson­de­rem Inter­es­se« sei.

Die Schutzsuchenden auf der »Summer Love« hätten gerettet werden können

Wei­ter­hin war­ten die Ange­hö­ri­gen und Hin­ter­blie­be­nen auf die voll­stän­di­ge Auf­klä­rung der Umstän­de, die zur Kata­stro­phe von Cro­to­ne geführt haben. Die Ermitt­lun­gen im Rah­men der Straf­an­zei­ge, die  40 Orga­ni­sa­tio­nen im März 2023 bei der Staats­an­walt­schaft von Cro­to­ne ein­reich­ten, dau­ern nach Durch­su­chun­gen bei der ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che und der Finanz­po­li­zei »Guar­dia di Finan­za« wei­ter­hin an.

Die Vor­wür­fe gegen ita­lie­ni­sche und euro­päi­sche Behör­den haben es in sich: Ein Flug­zeug der euro­päi­schen Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex hat­te die »Sum­mer Love« meh­re­re Stun­den vor dem Unter­gang gesich­tet und Hin­wei­se, denen zufol­ge es sich um ein Flücht­lings­schiff han­deln könn­te, an die ita­lie­ni­sche See­not­ret­tungs­leit­stel­le über­mit­telt. Die Beam­ten der ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che und der »Guar­dia di Finan­za«, die zu die­sem Zeit­punkt im Fron­tex-Über­wa­chungs­raum in War­schau anwe­send waren, hat­ten jedoch signa­li­siert, dass das Boot nicht »von beson­de­rem Inter­es­se« sei.

Eine fata­le Fehl­ein­schät­zung, wie auch ein kürz­lich ver­öf­fent­lich­ter Bericht des Grund­rechts­be­auf­trag­ten von Fron­tex unter­streicht. Er weist dar­auf hin, dass Boo­te wie die »Sum­mer Love« unter den gege­be­nen Umstän­den inner­halb kür­zes­ter Zeit in See­not gera­ten kön­nen und staat­li­che Stel­len in sol­chen Fäl­len daher unbe­dingt sofort han­deln müssen.

Im Jahr 2023 kamen Sta­tis­ti­ken des Miss­ing Migrants Pro­jekts der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM) über 3.000 Men­schen auf der Flucht über das Mit­tel­meer ums Leben oder wer­den wei­ter­hin ver­misst. Anläss­lich des Jah­res­tags des Unglücks vor Cro­to­ne sind unse­re Gedan­ken bei allen Ange­hö­ri­gen und Fami­li­en der Opfer. Wir unter­stüt­zen sie auch wei­ter­hin in ihrem Kampf um Gerechtigkeit.