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Trauer, Schmerz und die Forderung nach Aufklärung: Ein Jahr nach dem Schiffsunglück von Crotone
Ein Jahr nach dem Schiffsunglück in der Nähe der italienischen Stadt Crotone in Kalabrien mit mehr als 94 Toten kommen Überlebende und Angehörige in Crotone zusammen, um der Toten zu gedenken und Aufklärung und Konsequenzen zu fordern. PRO ASYL unterstützt mehrere Angehörige, die inzwischen in Deutschland leben.
Da ist der junge Syrer Assad Almulqi, der stundenlang versucht, seinen sechsjährigen Bruder Sultan über Wasser zu halten und ihn doch nicht retten kann. Sultan erfriert im eiskalten Wasser. Da ist der afghanische Familienvater Mohammad Wahid Hamidi, der zusehen muss, wie seine Ehefrau Munika und seine drei jüngsten Kinder Marwa, Hadija und Tajib im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren vor seinen Augen in den Fluten verschwinden. Er schafft es nur, seinen ältesten Sohn, Mostafa, zu retten. Da ist die junge Afghanin Nigeena Momozai, die sich mit ihrem Partner Seyar Noori an eine Holzplanke klammert, bevor er in den Wellen verschwindet.
Es sind unbeschreibliche und schwer ertragbare Szenen, die sich beim Untergang des Motorsegelboots »Summer Love« vor einem Jahr in den frühen Morgenstunden des 26. Februars 2023 vor dem kalabrischen Örtchen Steccato di Cruto in der Nähe von Crotone abgespielt haben. Von den rund 200 Menschen an Bord des Schiffes überleben nur 82. Mindestens 94 Menschen ertrinken, darunter rund 35 Kinder. Alle anderen gelten bis heute offiziell als vermisst.
Die Menschen an Bord sind Schutzsuchende, vor allem aus Afghanistan und Syrien. Sie hoffen auf Schutz und Sicherheit in Europa. Mangels legaler Wege besteigen sie vier Tage vor dem Untergang in der Nähe der türkischen Stadt Izmir die »Summer Love«, die sie nach Italien bringen soll. Die Fahrt mündet in der Katastrophe.
»Auch nach einem Jahr leiden wir Überlebenden dieses Schiffes physisch und psychisch. Wir warten, ohne angemessene Unterbringung und auf unterschiedliche Flüchtlingsunterkünfte aufgeteilt«
Aufnahme in Deutschland
Überlebende mit einem »persönlichen Bezug« zu Deutschland werden nach einigen Wochen nach Hamburg ausgeflogen und durchlaufen dort ihr Asylverfahren. Möglich macht das ein europäischer Solidaritätsmechanismus. Die deutsche Innenmininsterin Nancy Faser bezeichnet das als »selbstverständlichen Akt der gelebten Solidarität«. Dabei gilt die Solidarität Italien, nicht den Überlebenden.
Trotzdem ist die Aufnahme nach Deutschland für die Überlebenden von großer Bedeutung, weil hier Verwandte leben, die sie unterstützen können. Im Herbst 2023 setzt die deutsche Bundesregierung den Solidaritätsmechanismus schließlich aus. Insgesamt wurden bis dahin 887 Asylsuchende aus Italien aufgenommen, darunter auch einige Überlebende von Crotone.
Samir Amirkheil ist einer der Überlebenden, der mittlerweile in Hamburg lebt. In einem Videostatement zum ersten Jahrestag der Katastrophe macht er zusammen mit anderen Überlebenden auf ihre Situation aufmerksam: »Auch nach einem Jahr leiden wir Überlebenden dieses Schiffes physisch und psychisch. Wir warten, ohne angemessene Unterbringung und auf unterschiedliche Flüchtlingsunterkünfte aufgeteilt«. Crotone ist für sie das Synonym eines »historischen Massakers«, dem sie nur knapp entronnen sind.
Ein Jahr nach dem Unglück: Trauer, Schmerz und die Forderung nach Gerechtigkeit
Zum ersten Jahrestag tritt ein Teil der Überlebenden unterstützt durch PRO ASYL die schwere Reise von Hamburg zurück zum Unglücksort an, um ihrer Liebsten zu gedenken, die bei dem Schiffsunglück gestorben sind.
Geladen hat das »Netzwerk 26. Februar«, ein Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Crotone, die Hinterbliebene und Überlebende unterstützen. Gemeinsam begehen sie den traurigen Jahrestag mit einem umfangreichen Programm aus Mahnwache, Demonstration, Diskussionsveranstaltung und einem Konzert. So tragen sie die Forderungen nach Gerechtigkeit, lückenloser Aufklärung und sicheren Fluchtkorridoren in die Öffentlichkeit. In Gedenken an die Opfer von Crotone kämpfen sie gemeinsam gegen das Sterben auf dem Mittelmeer.
Die italienischen Beamten signalisierten, dass das Boot nicht »von besonderem Interesse« sei.
Die Schutzsuchenden auf der »Summer Love« hätten gerettet werden können
Weiterhin warten die Angehörigen und Hinterbliebenen auf die vollständige Aufklärung der Umstände, die zur Katastrophe von Crotone geführt haben. Die Ermittlungen im Rahmen der Strafanzeige, die 40 Organisationen im März 2023 bei der Staatsanwaltschaft von Crotone einreichten, dauern nach Durchsuchungen bei der italienischen Küstenwache und der Finanzpolizei »Guardia di Finanza« weiterhin an.
Die Vorwürfe gegen italienische und europäische Behörden haben es in sich: Ein Flugzeug der europäischen Grenzschutzagentur Frontex hatte die »Summer Love« mehrere Stunden vor dem Untergang gesichtet und Hinweise, denen zufolge es sich um ein Flüchtlingsschiff handeln könnte, an die italienische Seenotrettungsleitstelle übermittelt. Die Beamten der italienischen Küstenwache und der »Guardia di Finanza«, die zu diesem Zeitpunkt im Frontex-Überwachungsraum in Warschau anwesend waren, hatten jedoch signalisiert, dass das Boot nicht »von besonderem Interesse« sei.
Eine fatale Fehleinschätzung, wie auch ein kürzlich veröffentlichter Bericht des Grundrechtsbeauftragten von Frontex unterstreicht. Er weist darauf hin, dass Boote wie die »Summer Love« unter den gegebenen Umständen innerhalb kürzester Zeit in Seenot geraten können und staatliche Stellen in solchen Fällen daher unbedingt sofort handeln müssen.
Im Jahr 2023 kamen Statistiken des Missing Migrants Projekts der Internationalen Organisation für Migration (IOM) über 3.000 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ums Leben oder werden weiterhin vermisst. Anlässlich des Jahrestags des Unglücks vor Crotone sind unsere Gedanken bei allen Angehörigen und Familien der Opfer. Wir unterstützen sie auch weiterhin in ihrem Kampf um Gerechtigkeit.