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Studie zur Situation abgeschobener Afghanen: Bedrohungen, Gewalt, Chancenlosigkeit
Eine aktuelle Studie der Sozialwissenschaftlerin Friederike Stahlmann zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen beschäftigt sich mit der Situation von aus Deutschland zwischen Dezember 2016 und April 2019 abgeschobenen Afghanen. Was ist aus ihnen geworden?
Welche Unterstützung fanden sie? Hatten sie Zugang zu Obdach, Arbeit und medizinischer Versorgung? Welche Gewalterfahrungen machten sie nach der Ankunft?
Die Dokumentation gelang der Wissenschaftlerin in 55 Fällen, immerhin also bei etwa 10 Prozent der in diesem Zeitraum Abgeschobenen – trotz aller Sicherheitsbedenken vieler Abgeschobener und der Schwierigkeiten, überhaupt einen Kontakt herzustellen.
Die Ergebnisse sind verstörend und sollten denen zu denken geben, die Afghanistan-Abschiebungen immer noch für vertretbar halten, obwohl sich die Lage in Afghanistan ständig verschärft. Die Studie ergab, dass Gewalt gegen Abgeschobene und ihre Familien aufgrund ihrer Rückkehr nicht nur mit hoher Wahrscheinlichkeit eintritt, sondern auch bereits innerhalb kürzester Zeit nach Ankunft. Von den 31, die Afghanistan nicht bereits wieder binnen zwei Monaten verlassen haben und erneut auf die Flucht gingen – gaben 90 Prozent an, Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Über 50 Prozent berichteten von Gewalterfahrungen, die auch sonst den afghanischen Alltag prägen: Drei Mal wurden Abgeschobene durch Anschläge so schwer verletzt, dass sie notversorgt werden mussten. Andere berichteten über Festnahmen und Misshandlungen bei Straßenkontrollen der Taliban beim Versuch, von Kabul aus ihre Heimatprovinzen zu erreichen, über Bedrohungen und Zwangsrekrutierungsversuche durch die Taliban. Acht wurden Opfer von bewaffneten Raubüberfällen.
Misstrauen, Bedrohungen, Gewalt
Ebenfalls über 50 Prozent berichteten von Gewalterfahrungen aufgrund ihres Aufenthalts in Europa. Von Seiten der Taliban wird die Flucht nach Europa mit Misstrauen beäugt oder gar als ein »Überlaufen zum Feind« betrachtet. Bei den Bedrohungen durch die Taliban fällt auf, dass diese nicht selten über den Auslandsaufenthalt und das Land der Zufluchtssuche Bescheid wissen. Betroffene berichteten aber auch, dass sie von Nachbar*innen, Familienangehörigen und sogar Fremden auf der Straße als »Verräter« oder »Ungläubige« angesehen, bedroht, gejagt oder angegriffen wurden. Auch wer Kontakt hält zu Europäer*innen, gar Journalist*innen, begibt sich in Gefahr. Die Berichterstattung der afghanischen Medien ist ein weiteres Gefährdungsmoment.
Mehr als 85 Prozent der Abgeschobenen gaben an, sich hauptsächlich durch private Unterstützung aus dem Ausland über Wasser zu halten, soweit das überhaupt gelingt. Freund*innen, Verwandte, Helferkreise, Kirchengemeinden, ehemalige Mitschüler*innen versuchen zu helfen – auf Dauer angelegt und möglich ist diese Unterstützung fast nie. Zumindest stellen Unterstützer*innen jedoch einen wichtigen psychischen Halt in der in der Regel als aussichtlos empfundenen Situation dar. Keinem einzigen der Befragten ist eine Existenzgründung durch Arbeit oder auf andere nachhaltige Weise gelungen. Ihre spezifischen Sicherheitsrisiken als Abgeschobene wirken sich hier erschwerend aus. Mit familiärer Solidarität in Afghanistan können Abgeschobene schon deshalb selten rechnen, weil sich die Familien dadurch selbst in Gefahr von Verfolgung und krimineller Übergriffe bringen würden.
90 Prozent der befragten Betroffenen leben in Verstecken
Rückkehrhilfen erweisen sich als wenig wirksam. Nur sieben von 47 zu diesem Thema Befragten erhielten finanzielle Unterstützung des sog. ERRIN-Programmes (European Return and Reintegration Network). Selbst wenn alle notwendigen Dokumente beigebracht werden konnten, waren die Voraussetzungen für die erfolgreiche Antragstellung innerhalb der Fristen meist nicht zu erfüllen. Und auch diese Unterstützung leistet keine humanitäre Absicherung oder eine realistische Chance auf Existenzgründung.
Die meisten müssen sich verstecken
Die Wohnsituation der meisten Betroffenen ist schon aufgrund der Sicherheitslage desaströs. So waren fast 90 Prozent der Unterkünfte Verstecke. 21 der Abgeschobenen versteckten sich nach Eintreffen in Kabul zunächst bei Freund*innen oder Verwandten, keine Dauerlösung. Ansonsten sind Verstecke von privater finanzieller Unterstützung aus dem Ausland abhängig. Neun waren zeitweilig oder dauerhaft obdachlos.
Die Frage, ob Abgeschobene planen, in Afghanistan zu bleiben, erbrachte vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Betroffenen ein eindeutiges Ergebnis: Nur einer der 51 Kontaktierten erklärte, in Afghanistan bleiben zu wollen, nachdem er aus dem Iran erneut abgeschoben worden war. Von den 26 Personen, die sich zum Abschluss der Untersuchung noch in Afghanistan aufhielten, hofften 16 auf eine legale Rückkehr nach Deutschland im Rahmen des Visumverfahrens, was bisher drei gelungen war. Doch die Hürden sind hoch.
Wer abschiebt, weiß, dass er Menschen in Verzweiflung stürzt, dass er akute Gefährdung provoziert, Obdachlosigkeit und Verelendung schafft.
Angesichts der Ausweglosigkeit in Afghanistan sehen viele Betroffene in den großen Risiken einer Flucht – von der Inhaftierung über die erneute Abschiebung bis zum möglichen Tod auf dem Mittelmeer – die geringere Bedrohung. Selbst drei der Befragten, die gute Chancen auf ein Visum für Deutschland gehabt hätten, sahen sich aufgrund der langen Wartezeit zu erneuter Flucht gezwungen. 19 weitere Personen hatten sich bereits auf eine erneute Flucht begeben, wobei 10 wieder in Europa angekommen waren – wo die einzige Chance auf tatsächlichen Schutz besteht.
Abschiebungen sind nicht hinnehmbar
Die Studie von Friederike Stahlmann zeigt deutlich: Die Erfahrungen der Abgeschobenen widerlegen das Gerede von den angeblich sicheren Regionen Afghanistans und der geringen »Gefahrendichte« im Lande, die den Betroffenen zumutbar sei. Wer abschiebt, weiß, dass er Menschen in Verzweiflung stürzt, dass er akute Gefährdung provoziert, Obdachlosigkeit und Verelendung schafft. PRO ASYL fordert schon seit Beginn der Sammelabschiebungen im Dezember 2016, diese wieder zu stoppen.
Denn: Angesichts der Entwicklungen in Afghanistan sind Abschiebungen dorthin nicht hinnehmbar. In der Einleitung ihrer Studie weist die Verfasserin auf die Fakten hin: Das Armutsniveau lag schon 2016 wieder auf dem Niveau des Endes der ersten Taliban-Herrschaft. Die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, hat sich 2018 nahezu verdoppelt. Mehr Hungernde gibt es aktuell nur noch im Jemen. Nach dem Global Peace Index ist Afghanistan das unsicherste Land der Welt. Im Jahr 2018 gab es in Afghanistan mit großem Abstand die meisten Kriegstoten weltweit und die Macht der Taliban ist wieder so groß, dass sie selbst in Teilen Kabuls regulär Steuern eintreiben können.
(bm)