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Sozialleistungen für Geflüchtete auf Null? Strategische Angriffe auf die Verfassung
Die ständigen Forderungen und Pläne, Sozialleistungen zu streichen, sind ein strategischer Angriff auf die Verfassung und auf ein solidarisches Europa. Das ist Gift für unsere Gesellschaft.
Die Bundesregierung hat mit der Vorstellung eines »Sicherheitspakets« im August 2024 unter anderem angekündigt, Geflüchteten in Dublin-Verfahren die Sozialleistungen drastisch kürzen zu wollen. Tags zuvor war bereits Finanzminister Christian Lindner (FDP) mit der Forderung völliger Sozialleistungsstreichung »bis auf eine Reisebeihilfe« in den Medien breit rezipiert worden. Der Vorschlag, geflüchteten Menschen selbst die geringste Unterstützung für ihr Überleben zu kürzen oder ganz zu entziehen, reiht sich ein in eine seit Monaten befeuerte faktenarme Sozialleistungsdebatte, von Bezahlkarte bis Bürgergeld. Die politische Umsetzbarkeit, verfassungsrechtliche Zweifel oder gar moralische Skrupel haben keinen Platz in dieser Diskussion. Täglich werden neue Forderungen laut. Unmittelbar nach der Vorstellung des »Sicherheitspakets« forderte Alexander Throm (CDU) eine Ausweitung der angedeuteten Kürzungspläne auf sämtliche geduldete Menschen. Solche Forderungen entbehren nicht nur einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der realen Situation geflüchteter Menschen, sie sind auch sozialpolitisches Gift, weil sie Grundwerte unserer Verfassung angreifen.
Unsere Verfassung schützt die Menschenwürde
Menschen das zum Leben existenziell Notwendige zu entziehen, ist mit dem ersten Grundsatz unserer Verfassung unvereinbar: der Menschenwürde. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 2012 in einer wegweisenden Entscheidung festgehalten, dass das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ausnahmslos gilt – für alle Menschen, auch für geflüchtete. Dazu gehört sowohl die Sicherung der physischen Existenz – Unterkunft, Ernährung und Körperhygiene, als auch ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe – die Sicherung der soziokulturellen Existenz. Der Mensch ist ein soziales Wesen.
Im Asylbewerberleistungsgesetz sind die Leistungen für Geflüchtete unterhalb des üblichen in Deutschland geltenden Standards im Sozialrecht festgelegt – allein deshalb begegnet das Gesetz seit seinem Bestehen verfassungsrechtlichen Bedenken. Mehrfach hat das höchste deutsche Gericht einzelne, zu niedrige Leistungen des Gesetzes korrigiert. Mindestens ein Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung ist auch derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Über 200 zivilgesellschaftliche Organisationen fordern die Abschaffung des Gesetzes.
Die nun im Raum stehenden Vorschläge zur Streichung der Sozialleistungen »auf Null« für Menschen, die in Dublin-Verfahren oder ohne eigenes Verschulden in der Duldung festhängen, wäre absehbar verfassungswidrig. Auch die Streichung »nur« des soziokulturellen Existenzminimums, wie sie für bestimmte Fallkonstellationen schon jetzt im Gesetz steht, ist sowohl in verfassungsrechtlicher als auch europarechtlicher Hinsicht mehr als fragwürdig. Eine pauschale Kürzung der Leistungen für Menschen im Dublin-Verfahren oder für Geduldete wäre juristisch und politisch nicht zu rechtfertigen.
Menschenrechten in Europa Geltung verschaffen
Menschen, für deren Asylverfahren eigentlich ein anderer europäischer Staat zuständig ist, fliehen nicht nach Deutschland, weil es ihnen hier so gut, sondern weil es ihnen anderswo extrem schlecht geht. Viele Überstellungen in andere EU-Staaten dürfen aus menschenrechtlichen Gründen nicht vollzogen werden oder scheitern am Unwillen der beteiligten Staaten, die Schutzsuchenden wieder aufzunehmen.
Einmal in der Bürokratie der Zuständigkeiten der EU-Staaten gefangen, ist den Dublin-Geflüchteten eine eigenständige freiwillige Ausreise regelmäßig gar nicht möglich. Sie können also nicht selbstständig in den für sie zuständigen EU-Staat gehen und somit ihre Situation selbst ändern. Deshalb kann man ihnen eine Grundversorgung auch nicht mit dem Argument verweigern, der andere Staat sei dafür zuständig. Auch ausreisepflichtige Menschen mit Duldung haben gute und oft zwingende Gründe für einen Verbleib in Deutschland. Dass sie aufgrund eines Fehlverhaltens hier leben, kann den allermeisten von ihnen nicht vorgeworfen werden.
Große Teile der deutschen Politik scheinen erreichen zu wollen, Deutschland in einem beschämenden Wettbewerb der Unmenschlichkeit konkurrenzfähig zu machen. Mit anderen Worten: Wenn andere Staaten Menschen- und EU-Recht ignorieren, will Deutschland das auch tun. Spätestens an diesem Punkt ist die Verweigerung von Sozialleistungen hierzulande keine rein deutsche Angelegenheit mehr, sondern untergräbt auch die europäische Zusammenarbeit und Solidarität in der Europäischen Union, die nach den Verheerungen eines Weltkriegs mit Millionen von Flüchtlingen als Friedenssicherungsprojekt installiert wurde. Was sich dringend ändern muss, ist die völkerrechtswidrige Unterversorgung und Leistungsverweigerung in anderen europäischen Staaten. Dafür braucht es die Solidarität wirtschaftlich starker Staaten wie Deutschland und eine konsequente Durchsetzung europäischen Rechts, auch durch Vertragsverletzungsverfahren.
Angriff auf die Verfassung – eine mutwillige Grenzverschiebung
Dass Lindner und Throm trotz der bekannten Vorgaben des Verfassungsgerichts Vorschläge in den Raum stellen, die eine komplette Leistungsverweigerung für Schutzsuchende zum Ziel haben, drückt die Verachtung für die Demokratie und den Verfassungsstaat aus, mit der die Debatte um Leistungen für Geflüchtete derzeit vorangetrieben wird.
Mit der Formulierung »Null Euro vom deutschen Steuerzahler« versucht sich Lindner nebenbei auch noch bei denjenigen anzubiedern, die anfällig für völkische Vorstellungen von Gesellschaft sind. Das Steueraufkommen Deutschlands wird zu einem erheblichen Teil von Migrant*innen ohne deutschen Pass, unter ihnen etliche Geflüchtete, miterwirtschaftet. Dem Finanzminister der Bundesrepublik sollte das bestens bekannt sein.
Solche Anspielungen sind aber keine gedanklichen Ausrutscher – ebensowenig wie die eines Friedrich Merz, wenn er heute so brutal wie rechtswidrig die Zurückweisung von Geflüchteten an der deutschen Grenze fordert. Oder eines Markus Söder, wenn er ohne jeden ernsthaften Anhaltspunkt behauptet, Heimatüberweisungen von Asylsuchenden seien ein existentes Problem. Das Dauerfeuer gegen eine humane Flüchtlingspolitik in den letzten Monaten hat Methode. Und zwar eine, die man bestens kennen sollte. Es ist die bekannte Strategie eines gewissen Donald Trump aus den USA und der so genannten Rechtspopulisten: Die ungerührte Wiederholung der immer gleichen Behauptungen, das Ignorieren aller Gegenargumente von juristischen oder wissenschaftlichen Analysen. Die Einträufelung des eigentlich Unsagbaren in die Gehörgänge, steter Tropfen höhlt den Stein, die mutwillige Grenzverschiebung.
Der Politikberater und Juraprofessor Daniel Thym ist einer der inhaltlichen Vordenker. In seinem Gutachten im Auftrag der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag kann man Vorschläge zu den Sozialkürzungen Geflüchteter nachlesen und muss dabei feststellen, dass die Ampelregierung seine Vorschläge in den letzten Monaten bereits zum Teil abgearbeitet hat. Und mehr noch – der Tiefpunkt der Debatte um die soziale Ausgrenzung Geflüchteter scheint noch nicht erreicht zu sein. Lässt die Gesellschaft sich weiter in eine Auseinandersetzung auf diesem Niveau hineinziehen, ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Verfassung und das Sozialstaatsprinzip als solches das Ziel der Angriffe werden. Prof. Thym bedauert: »Eine flächendeckende Leistungsabsenkung lässt das enge Korsett der Verfassungsrechtsprechung nicht zu.« (S.1). Er hat deshalb bereits einen Vorschlag zur Verfassungsänderung vorformuliert, mit dem das Sozialstaatsprinzip für Nichtdeutsche beschädigt werden soll. Auch seine Strategie ist die der steten Grenzverschiebung: »Allein die Diskussion um eine Verfassungsergänzung diente als Signal, damit das BverfG [Bundesverfassungsgericht] das Grundgesetz nicht überstrapaziert.« (S.2)
So entfernen sich nicht nur die lautstarken Antreiber, Söder, Merz, Lindner, Dürr und andere, sondern immer mehr politisch Verantwortliche und ein größer werdender Teil der Gesellschaft weiter weg von einer besonnenen Diskussion und Politik, die die Menschenwürde und die Verfassung achtet.
Was wäre wenn?
In der Praxis würde sich eine Reduzierung der Sozialleistungen auf Null als zutiefst unmenschlich erweisen. Wie weit will die Regierung gehen, um Menschen zu vertreiben? Sollen wir künftig zusehen, wie geflüchtete Menschen zu Hunderten unter Autobahnbrücken campieren, an Bahnhöfen sitzen und in unseren Städten um jedes Stück Brot betteln müssen? Wir haben solche Szenarien bereits in einigen EU-Ländern. Wenn einmal die Menschenwürde relativiert ist – wer wäre als Nächstes dran? Wenn wir akzeptieren, dass anderen die Würde genommen wird, was macht das mit uns selbst? Wir sollten froh darüber und dankbar sein, dass wir in einem Land leben, das bis jetzt solche Zustände nicht kennt.
Allein die Vorstellung, geflüchteten Menschen das Nötigste zum Leben zu verweigern, diskreditiert die betroffenen Menschen und befeuert Neid, Missgunst und Wutdebatten. Geringerverdiener*innen oder Menschen mit viel zu kleiner Rente hilft das keinen Schritt weiter. Die Debatte trägt lediglich dazu bei, den sozialen Frieden in diesem Staat weiter zu unterminieren.
Rückkehr zu Respekt und Verantwortung
Schutzsuchende, solange sie ohne gesichertes Aufenthaltsrecht sind, sind eine der schwächsten gesellschaftlichen Gruppen, die kaum Gehör findet. Es ist billig, sich verbal jeglichen Mitgefühls und der Verantwortung für diese Menschen zu entledigen. Das parteipolitische Wettrennen gegen die Rechtsradikalen kann man allerdings so nicht gewinnen, das haben die Wahlen in Thüringen und Sachsen gezeigt. Eine vergiftete Diskussion ist eben nicht dadurch zu retten, dass man immer mehr Gift hinzufügt. Um diese Demokratie zu bewahren, braucht es eine ernsthafte, rechtsstaatliche, standhafte, konstruktive Politik. PRO ASYL fordert alle demokratischen Politiker*innen auf, sich nicht weiter auf europa- und verfassungsfeindliche Debatten einzulassen und stattdessen zu einer sachbezogenen politischen Arbeit zurückzukehren, die das Grundgesetz achtet und gegen seine Feinde verteidigt. Das ist in diesen Zeiten bitter nötig.
(ak)