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Skandalöses Urteil in Ungarn: Kriminalisierung von Geflüchteten und Unterstützern wird Realität
Seit drei Jahren sitzt Ahmed H. in Ungarn im Gefängnis. In einem politisch motivierten Schauprozess wurde er heute wegen »terroristischer Handlungen« zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ahmed H. steht für die Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migrant*innen und für die Eingriffe in den Rechtsstaat durch die ungarische Regierung.
Am 15.09.2015 riegelte die ungarische Regierung ihre Grenze zu Kroatien und Serbien gewaltvoll ab. Über Nacht wurde der Grenzzaun fertiggestellt und der Grenzübergang Horgos/Röszke gesperrt. Gleichzeitig wurde durch ein neues Gesetz der »illegale Grenzübertritt« mit einem Strafmaß von bis zu 5 Jahren Haft kriminalisiert. Wegen Teilen der Asylgesetze von 2015 verklagt die EU-Kommission Ungarn nun vor dem Gerichtshof der EU.
Die Menschen, denen die Weiterreise versperrt wurde, protestierten dagegen und forderten die Öffnung der Grenze. Bei Zusammenstößen mit der ungarischen Polizei griff diese willkürlich zehn Menschen aus der Menge heraus und nahm sie fest. Sie wurden wegen »illegalem Grenzübertritt« und »Teilnahme an einem Massenprotest« verurteilt und haben ihre Haftstrafen bereits abgesessen.
Ahmed H. wurde einige Tag später am Bahnhof in Budapest festgenommen. Er wird beschuldigt, der Anführer des »Massenprotests« gewesen zu sein und »terroristische Handlungen« begangen zu haben. Nach mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft wurde er im November 2016 in erster Instanz zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Beispiel für juristische Willkür in Ungarn
Am 12.09.2018 stimmte das Europaparlament dem Vorschlag der Berichterstatterin Judith Sargentini zu, ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn einzuleiten. In ihrem Bericht zur »Lage in Ungarn« bezieht Sargentini auch die Verurteilung von Ahmed H. mit ein. Sein Fall werfe »die Frage der korrekten Anwendung der Antiterrorgesetze in Ungarn wie auch des Rechts auf ein faires Verfahren« auf.
PRO ASYL hat den Rechtsbeistand für Ahmed mitfinanziert. Am heutigen Donnerstag, 20. September 2018 stand der nächste Verhandlungstag an. Inzwischen ist Ahmed H. zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Britta Rabe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. hat den Prozess als Beobachterin begleitet. PRO ASYL hat mir ihr gesprochen.
Der Prozess gilt als politisch motivierter Schauprozess. Entlastendes Videomaterial wird nicht zugelassen, rassistische Zeugenaussagen von Polizisten als Beweisgrundlage herangezogen. An welchen Stellen des Prozesses wird die politische Dimension besonders deutlich?
Britta Rabe: Ahmed H. ist ein syrischer Familienvater, der auf Zypern verheiratet ist und zwei Töchter hat. Als der Krieg im syrischen Idlib zu bedrohlich wurde, entschieden sich seine Eltern und weitere Familienmitglieder, nach Europa zu fliehen. Ahmed kam ihnen zu Hilfe. Er machte sich auf den Weg in die Türkei, wo er seine Familie traf. Zusammen wagten sie die Überfahrt in einem Schlauchboot nach Griechenland. Dann begleitete Ahmed sie über die Balkanroute. Dort wurden sie am geschlossenen Grenzübergang Röszke aufgehalten.
Wie viele andere Menschen wurden sie von der Schließung überrascht. Es sammelten sich tausende Menschen: Familien mit Kindern, Alte und Kranke. Sie warteten darauf, dass es weiter geht. Am Grenzübergang Röszke entwickelte sich eine Dynamik aus Warten und Ungeduld.
Die ungarische Regierung sprach später von der »Schlacht von Röszke«, in der sie die »fremden Eindringlinge« abwehren konnte.
Auf die massiv anwesende Polizei auf ungarischer Seite wurde eingeredet, das Tor zu öffnen, es wurde gesungen, geschrien, gegen das Tor getreten. Es wurden Dinge geworfen, die Polizei setzte Tränengas ein. In dieser unübersichtlichen Situation gelang kurzzeitig die Öffnung des Tores, Menschen strömten hindurch. Dann griffen die Sondereinheiten der Polizei mit Knüppeln, Wasserwerfer und Tränengas ein. Die ungarische Regierung sprach später von der »Schlacht von Röszke«, in der sie die »fremden Eindringlinge« abwehren konnte.
Dabei wurden willkürlich zehn Personen herausgegriffen, festgenommen und nach dem neuen Gesetz verurteilt, darunter Ahmeds Eltern. Ahmed wurde später anhand von Videoaufnahmen in Budapest identifiziert und festgenommen.
Ahmed wird des Terrorismus beschuldigt. Auf welcher Grundlage beruht die Anklage?
Als »Terrorist« gilt in Ungarn, wer den Staat oder seine Stellvertreter bedroht. Ein sehr dehnbare Definition, wie es Terrorparagrafen überall eigen ist. Dies sah das ungarische Gericht als gegeben an, da Ahmed angeblich den Polizeibeamten am Zaun gedroht habe, die Menge würde nach einem Ultimatum den Zaun durchbrechen, sollte nicht das Tor geöffnet werden.
Anhand von Videos konnte nachgewiesen werden, dass Ahmed die Polizisten nicht bedroht hatte, sondern vielmehr beruhigend auf sie einredete. Trotzdem wurde weiterhin auf den Terrorismusvorwurf bestanden.
Weiterhin sieht das Gericht die Würfe von drei Objekten in Richtung der Polizei als Bedrohung. Im zweiten Prozess konnte zwar anhand von Videos nachgewiesen werden, dass Ahmed die Polizisten nicht bedroht hatte, sondern vielmehr beruhigend auf sie einredete und einen englischen Übersetzer forderte. Doch weiterhin bestehen Staatsanwalt und Richter auf den Terrorismusvorwurf. Nun wird er mit dem Werfen von Objekten begründet und mit Ahmeds angeblich gezielter Provokation der Polizei.
Du warst bei drei Verhandlungen von Ahmeds Fall im Gericht anwesend. Kannst du uns den bisherigen Prozessverlauf schildern und erklären, an welchem Punkt wir uns am 20.09.2018 befinden?
Heute wird das Berufungsgericht in Szeged über das reduzierte Strafmaß von sieben Jahren Haft wegen »Terrorismus« entscheiden. Dieses Urteil stammt vom 14. März diesen Jahres. Das erste Urteil zu zehn Jahren Haft vom November 2016 war vom Berufungsgericht einkassiert worden. Der neue Verteidiger Ahmeds, Péter Bárándy – er war Justizminister unter der Vorgängerregierung –, konnte vor Gericht deutlich machen, dass im ersten Prozess das Beweismaterial der Anklage nur einseitig begutachtet wurde. Ahmed wurde im März 2018 daraufhin zu sieben statt 10 Haft verurteilt. Der Staatsanwalt forderte aber 17 Jahre und ging in Berufung, die Verteidigung ebenso, sie verlangt einen Freispruch.
PRO ASYL: In der deutschen Öffentlichkeit findet der Fall von Ahmed H. wenig Beachtung. Kannst du uns einen kurzen Überblick darüber geben, wer Ahmed H. ist und was am 16.09.2015 am Grenzübertritt Horgos/Röszke geschah?
Im ersten Prozess war die politische Motivation schon offensichtlich. Entlastende Videos wurden ohne Ton abgespielt, angeblich belastende Fotos wurden nicht auf ihre Beweiskraft überprüft. Sie zeigen verschiedene junge Männer in Situationen am Grenzzaun. Allein die Aussagen der Polizeibeamten wurden gehört, die meinten, Ahmed in all diesen Männern zu erkennen. »Sie sehen alle gleich aus, schwarze Haare und Bart« hieß es in mehreren Aussagen.
Das letzte Urteil im März 2018 wurde dann bereits eine Stunde nach den Plädoyers verkündet, dies sollte der Öffentlichkeit vermitteln: Das Urteil stand schon vorher fest. Gewöhnlich wird Gerichten ja Zeit eingeräumt, um die Plädoyers im Urteil zu berücksichtigen, wenigstens formal.
Ahmed wird zum Sündenbock für alle, die sich damals ihr Recht auf Bewegungsfreiheit nahmen
Auch die Vorwürfe gegen Ahmed sind wenig subtil: Allein die Verurteilung für Terrorismus – letztendlich die Bestrafung des illegalisierten Grenzübertritts – ist bezeichnend. Ahmed wird zum Sündenbock für alle, die sich damals ihr Recht auf Bewegungsfreiheit nahmen. Das Urteil ist zudem in eine andauernde politische Kampagne gebettet. Viktor Orbán nutzt Ahmed als Paradebeispiel, um Geflüchtete und Muslime als Gefahr für die Sicherheit Europas darzustellen, In Ungarn wird die Angst vor einem angeblich drohenden Massenansturm von Migrant*innen in einer Endlosschleife in Politik und Medien geschürt.
Verschiedene Initiativen fordern die Freilassung für Ahmed. Was ist noch von dem Verfahren zu erwarten?
Öffentlichkeit ist für diesen »Terrorprozess« ein wichtiger Faktor, in Ungarn, aber auch international. Amnesty Ungarn spielt dabei eine herausragende Rolle. Wir arbeiten auch mit dem »Forum Civique Européen« und den »Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS)« zusammen. Ich gehe davon aus, dass das Gericht am 20.9. noch kein Urteil fällt. Generell ist zu hoffen, dass jetzt – nach den ungarischen Parlamentswahlen im April, aus denen Orbán mit seiner Partei Fidesz als klarer Sieger hervorging – sich die Situation entspannt und die rassistische Hetze sich beruhigt. Weniger im Fokus von Öffentlichkeit und Politik könnte das Gericht den Terrorismusvorwurf fallen lassen und eine weniger harte Strafe beschließen. Aber ehrlich gesagt fürchte ich, dass Ungarn seinen Terroristen behält. Ahmeds Fall passt ja ganz gut in Europas derzeitigen Trend, Geflüchtete für alles Schlechte verantwortlich zu machen. Ein nächster Schritt für uns könnte der EuGH sein, doch wird dies auf Ahmeds Haftzeit keinen Einfluss mehr haben, dazu dauern diese Verfahren zu lange.
Nach der Festnahme der elf Personen wurde eine Solidaritätskampagne zur Unterstützung der Betroffenen gestartet. Wie sieht die Zusammenarbeit vor Ort aus?
Als einige Aktivist*innen auf der Balkanroute von den Verhaftungen erfuhren, gründeten sie die Soli-Kampagne »Freiheit für die Röszke 11« für die zehn Verhafteten von Röszke plus Ahmed. Es ging um die Prozessunterstützung bis hin zu den Asylverfahren in Deutschland und Österreich und den Kampf gegen eine mögliche Dublin-Abschiebung zurück nach Ungarn. Jetzt ist nur noch Ahmed in Ungarn in Haft, ihm gilt unsere besondere Aufmerksamkeit. Inzwischen haben aber viele Aktivist*innen Ungarn verlassen, die politische Situation dort war für sie nicht mehr auszuhalten.
Abschließend noch ein Wort zu den Bedingungen, unter denen Ahmed inhaftiert ist. Wie sieht sein Alltag im Gefängnis aus? Wie geht es Ahmed?
Ahmed sitzt seit drei Jahren im Gefängnis, den größten Teil davon in Isolationshaft. Hofgang und Mahlzeiten sind ihm nur allein gestattet. Seit einigen Monaten hat er wenigstens einen Mithäftling in der Zelle, ebenso wie er Arabisch sprechend. Der Kontakt nach außen ist stark eingeschränkt, er darf nur täglich 10 Minuten mit seinen Angehörigen telefonieren. Briefe erhält er nicht, die Essenspakete seiner Familie sind seit kurzem auch untersagt. Alle Insassen dürfen Essen jetzt nur noch im Internet bestellen, es gibt allerdings nur billige Süßwaren. Einmal im Monat darf er Besuch erhalten, es kommen einige Aktivist*innen. Sie berichten, dass es Ahmed trotzdem gelingt, Hoffnung und Lebenswillen zu bewahren. Er weiß genau, dass es bei ihm nicht um Schuld oder Unschuld geht, sondern um ein politisches Urteil. Internationale Unterstützung und Öffentlichkeit bedeuten ihm daher viel.
Vielen Dank für das Gespräch.
(dm)