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»Sie haben uns sterben lassen«
Dr. Mazen Dahhan (46) ist ein Überlebender des Schiffbruchs vom 11. Oktober 2013. An dem Tag kamen vor Lampedusa 268 Menschen ums Leben, darunter seine Ehefrau und seine drei Kinder. Er hat eine Botschaft an die Offiziere der italienischen Küstenwache und Marine, die ihre Notrufe ignorierten und damit für den Tod der Menschen verantwortlich sind.
Mazen, du bist im Jahr 2013 gemeinsam mit deiner Familie aus Syrien geflohen. Wie kam es zu der Entscheidung, die Fahrt über das Mittelmeer zu wagen?
Meine Ehefrau Reem Shehade und ich mussten Syrien wie mittlerweile Millionen von Syrer*innen seit Beginn des Krieges im Jahr 2011 verlassen. Mein ältestes Kind Mohamed war damals acht, Tarek vier und Besher ein Jahr alt. Da wir nirgendwo anders hin konnten, sind wir zunächst nach Libyen gegangen.
Wir hatten nie vor, nach Europa zu reisen – schon gar nicht auf illegale Weise, auf einem dieser »Schiffe des Todes«, wie sie genannt werden. Wir dachten damals, der Krieg in Syrien sei nur vorübergehend, und dass es bald einen politischen Wandel geben würde, wir zurückkehren könnten. Aber wir haben uns geirrt. Mit jedem Tag wurde deutlicher, dass es für uns keinen Weg zurück gibt.
Wie war es in Libyen?
In Libyen gab es ständig bewaffnete Konflikte und Kämpfe. Libyen ist kein sicherer Ort, um seine Kinder aufzuziehen. Ich bin Neurochirurg und habe versucht, eine Arbeitserlaubnis für Dubai zu bekommen. Ich habe dort sogar eine passende Stelle für mich gefunden, aber weil ich aus Syrien bin, wurde mir das Visum verweigert.
Ich wusste, dass wir in Europa Asyl bekommen könnten. Aber die europäischen Asylgesetze sind sehr unfair und ich würde sogar sagen, böswillig. Denn einen Asylantrag kannst du nur vor Ort stellen, obwohl bekannt ist, dass es keine Möglichkeit einer legalen Einreise durch ein Visum gibt. Dadurch war ich gezwungen, den falschen Weg zu nehmen – den Seeweg.
Vor 10 Jahren: Schiffskatastrophen vor Lampedusa
Wie habt ihr euch auf die Überfahrt vorbereitet?
Ich wollte erst alleine reisen, aber meine Ehefrau hat das nicht akzeptiert. Manche Leute fragen: Wie konntet ihr nur solche Risiken eingehen? Aber die Leute an Bord waren nicht naiv. Unter uns waren etwa 15 Ärzte, Neurochirurgen wie ich, Orthopäden, Röntgenärzte, Anästhesisten und Allgemeinchirurgen. Wir kennen uns mit Notsituationen aus. Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht, was passieren könnte. Aber wir hatten schlicht keine andere Möglichkeit.
Wir haben versucht, uns gut vorzubereiten: Wir wussten, dass wir Lampedusa innerhalb von 20 Stunden erreichen könnten. Es gab Rettungswesten, wenn auch nicht genug, und wir hatten ein Satellitentelefon dabei. Wir dachten, wenn etwas passiert – und Gott bewahre uns davor – können wir die Küstenwache anrufen und sie werden uns helfen.
So wie man bei Verletzungen ins Krankenhaus geht und weiß, dass man in sicheren Händen ist, weil einen jemand versorgen wird. Aber genau das wurde zu unserem Problem: Dass wir Leuten vertraut haben, denen man nicht vertrauen sollte.
Wie kam es am 11. Oktober 2013 dazu, dass das Schiff gesunken ist?
Es war ein wirklich großes Schiff, ca. 33 Meter lang, mit drei Etagen und Zimmern. Wir waren etwa 500 Menschen an Bord, ungefähr 30 Prozent der Menschen an Bord waren Frauen. Und es waren mindestens 100 Kinder an Bord.
Eine Kombination verschiedener Umstände hat dazu geführt, dass das Boot gesunken ist: Das Boot war überfüllt, da die Schmuggler zu viele Menschen an Bord gelassen hatten. Kurz nach unserer Abfahrt haben uns libysche Milizen verfolgt und mit Maschinengewehren auf uns geschossen, sodass Löcher im Schiff entstanden sind und Wasser eindringen konnte. Und dann hat die italienische Küstenwache uns nicht gerettet, als wir sie angerufen haben, obwohl sie nach internationalem Recht verpflichtet sind, Menschen in Seenot zu helfen.
»Wenn die Küstenwache und die Marine ihre Arbeit gemacht hätten, wenn sie menschlich gewesen wären, wenn sie uns wie Menschen behandelt hätten oder auch nur wie Tiere, dann wäre mein Leben heute ein völlig anderes.«
Was habt ihr getan, als ihr gemerkt habt, dass das Schiff ein Leck hat?
Mein Freund Dr. Mohamed Jammo, er ist Anästhesist, hat die italienische Küstenwache mit einem Satellitentelefon angerufen. Die Aufzeichnung des Gesprächs ist öffentlich. Er hat ihnen gesagt: »Wir sterben. Wir haben Frauen und Kinder an Bord«. Doch ihre Antwort war: »Rufen Sie Malta an«. Wir haben ihnen unseren GPS-Standort geschickt, sie wussten genau, wo wir sind. Aber sie haben unsere Notrufe ignoriert und uns gesagt, unser Boot befinde sich außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs. Fünf Stunden haben wir vergeblich auf Rettung gewartet.
Ich wusste damals nicht, dass sie zum Zeitpunkt unseres Anrufes nur 17 Seemeilen, also etwa 30 Kilometer, von uns entfernt waren. Das haben später die investigativen Recherchen des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti gezeigt. Sie hätten also innerhalb von 40 bis 50 Minuten bei uns sein können. Wenn die Küstenwache und die Marine ihre Arbeit gemacht hätten, wenn sie menschlich gewesen wären, wenn sie uns wie Menschen behandelt hätten oder auch nur wie Tiere, dann wäre mein Leben heute ein völlig anderes.
Aber niemand ist gekommen, und euer Schiff ist gekentert.
Als sich das Boot um 180 Grad gedreht hat, dachte ich: Das ist ein Alptraum. Ich stand unter Schock. Meine Frau und meine Kinder sind sofort untergegangen und verschwunden. Ich wünschte, ich wäre an diesem Tag auch gestorben, denn mein Leben ist seitdem nicht mehr dasselbe.
Ich habe eine Rettungsweste im Wasser gesehen und bin zur ihr geschwommen. Aber es war keine Rettungsweste, es war eine tote Frau. Überall um mich herum waren Leichen, ein echter Alptraum. Als die Küstenwache nach ungefähr einer Stunde eintraf, war es bereits zu spät.
»Überall um mich herum waren Leichen, ein echter Alptraum.«
Im Dezember 2022 gab es ein wegweisendes Urteil des Gerichtshofes in Rom. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass sich die italienische Küstenwache und Marine der vorsätzlichen Unterlassung der Rettung schuldig gemacht haben und so für den Tod von 268 Menschen verantwortlich sind.
Ja, die Ermittlungen haben bestätigt, dass wir zum Zeitpunkt unseres Notrufs doppelt so weit von Malta entfernt waren wie von Lampedusa. Die Italiener hätten uns retten müssen. Das Gericht hat ihr (Nicht-)Handeln als Verbrechen verurteilt – nicht als Fahrlässigkeit, menschliches Versagen oder dergleichen – sondern als ein Verbrechen, das ich Mord nenne.
Die Angeklagten haben gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt. Ich werde den Prozess zusammen mit den Anwält*innen Alessandra Ballerini und Emiliano Benzi bis zum Ende gehen, um zu sehen, wie viel Gerechtigkeit man in dieser Welt erreichen kann.
Das Urteil erfolgte erst über neun Jahre nach dem Schiffsbruch, obwohl du gemeinsam mit anderen bereits wenige Monate nach dem 11. Oktober vor Gericht gezogen bist. Aufgrund der Verjährung der Straftaten wurden die beiden Angeklagten, Kapitän Leopoldo Manna und Fregattenkapitän Luca Licciardi, nicht verurteilt.
Ich habe nichts davon, wenn diese Leute Sanktionen bekommen oder ins Gefängnis gehen müssen. Und was bringt es mir, eine materielle Entschädigung zu bekommen. Das wird mir meine Familie nicht wieder zurückbringen. Nichts kann mich entschädigen. Ich habe das Gefühl, seit zehn Jahren in einem Alptraum zu leben. Nur wacht man normalerweise aus Alpträumen auf.
Ich glaube nicht, dass es in dieser Welt Gerechtigkeit gibt. Gerechtigkeit wäre, wenn die Verantwortlichen mir meine Kinder zurückgeben würden. Aber ich glaube daran, dass es im Jenseits Gerechtigkeit geben wird.
Es wurden zwei Hauptverantwortliche vor Gericht gebracht, aber der Fehler steckt im System: Die Marine hat uns sterben lassen und daran waren deutlich mehr als zwei Personen beteiligt.
Was würdest du gerne noch mitteilen?
Ich habe eine Botschaft an die italienische Marine und Küstenwache sowie an die Offiziere, die unsere Notrufe und damit ihre Verantwortung ignoriert haben: Stellen Sie sich vor, Ihr Sohn hat eine lebensgefährliche Verletzung an der Hand oder am Bein und Sie kommen damit in die Notaufnahme, wo ich als Neurochirurg arbeite.
Ich habe das medizinische Wissen, um die Blutung zu stoppen, aber ich sage Ihnen: Es tut mir Leid, aber das ist nicht meine Aufgabe, sondern die eines anderen Arztes, er ist gerade in einem anderen Krankenhaus, rufen Sie ihn am besten selbst an. In der Zwischenzeit könnte Ihr Sohn sterben. Was würden Sie tun, wenn ich Ihren Notruf ignorieren und die Blutung nicht stoppen würde? Es ist die gleiche Situation, es besteht kein großer Unterschied.
Zehn Jahre nach dem Schiffbruch, nach diesem Verbrechen, zerreißen die Erinnerungen daran mir das Herz. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass mir so etwas passieren könnte.
(hk)