04.10.2024
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Foto: Canva

Obwohl die Abschiebezahlen steigen, überbieten sich die Rufe nach mehr Abschiebungen und weiteren Aufenthaltsverschärfungen. Das Beratungsteam von PRO ASYL erreichen zunehmend Fälle, die eine unerbittliche Abschiebepraxis offenlegen und Freundeskreise, Erzieher*innen und Ausbilder*innen bestürzt zurücklassen.

Im ers­ten Halb­jahr 2024 wur­den 9.465 Men­schen aus Deutsch­land abge­scho­ben und damit erneut mehr als im Vor­jah­res­zeit­raum. Bereits 2023 war mit 16.430 Abschie­bun­gen im Ver­gleich zum Vor­jahr ein Anstieg von 27 Pro­zent zu ver­zeich­nen. Bei immer weni­ger Aus­rei­se­pflich­ti­gen bedeu­ten die­se Zah­len in der Pra­xis, dass der Abschie­be­druck steigt: Immer öfter wer­den huma­ni­tä­re Kri­te­ri­en und auch gesell­schaft­li­che Inter­es­sen missachtet.

Die Abho­lung zur Nacht­zeit ist ein schwer­wie­gen­der Ein­griff in die Grund­rech­te und kann ins­be­son­de­re für Kin­der trau­ma­tisch sein. Die Natio­na­le Stel­le zur Ver­hü­tung von Fol­ter rät in ihrem Jah­res­be­richt 2023, die­se Pra­xis zu ver­mei­den und for­dert im Fall von Abschie­bun­gen von Kin­dern eine Abho­lung bei Nacht »aus­nahms­los ein­zu­stel­len«. Dass die­se wich­ti­ge Ein­schät­zung miss­ach­tet wird, zeigt der unten dar­ge­stell­te Fall von Tami­ka* und Lila*.

Auch die Fäl­le von Aysu und Wis­dom (sie­he unten) machen fas­sungs­los:  Aysu und Wis­dom, die Deutsch spre­chen, stan­den kurz vor ihrer Pfle­ge­aus­bil­dung, als sie abge­scho­ben wur­den. Gleich­zei­tig ver­sucht die Bun­des­re­gie­rung mit gro­ßem Auf­wand, Pfle­ge­kräf­te im Aus­land anzuwerben.

Fall 1: Abschiebung aus der Wohngruppe

Die 18-jäh­ri­ge Aysu aus Aser­bai­dschan sitzt im War­te­be­reich der Aus­län­der­be­hör­de. Sie hat einen Ter­min zur Dul­dungs­ver­län­ge­rung. Zusam­men mit den Pädagog*innen der Wohn­grup­pe, in der sie lebt, hat sie sich auf den Ter­min vor­be­rei­tet und alle Unter­la­gen dabei. Schon seit Mona­ten hat sie die Aus­bil­dungs­zu­sa­ge der Dia­ko­nie. Sobald die Geneh­mi­gung der Aus­län­der­be­hör­de vor­liegt, kann sie im Senio­ren­zen­trum anfan­gen. Der Lei­ter der Wohn­grup­pe erzählt: »Wir waren guter Din­ge, dass sie bei dem Ter­min eine Geneh­mi­gung für die Aus­bil­dungs­auf­nah­me in der Pfle­ge erhal­ten wird.«

Doch es kommt anders. Drei Polizist*innen kom­men auf sie zu und tei­len ihr mit, dass sie abge­scho­ben wer­den soll, und neh­men sie fest. Aysu erlei­det einen Ner­ven­zu­sam­men­bruch. Doch noch am sel­ben Abend wird sie nach Aser­bai­dschan abge­scho­ben. Der Wohn­grup­pen­lei­ter ist ent­setzt: »Die­ser Vor­gang war das men­schen­un­wür­digs­te Sze­na­rio, das wir jemals im Rah­men der Jugend­hil­fe mit­er­le­ben muss­ten.« Aysu ist erst seit weni­gen Mona­ten voll­jäh­rig. Nun in Baku ist sie voll­kom­men auf sich allein gestellt. Bei Bekann­ten hat sie eine not­dürf­ti­ge Über­nach­tungs­mög­lich­keit bekom­men, weiß aber nicht, wo sie die nächs­ten Tage blei­ben soll.

Nicht nur in der Wohn­grup­pe, auch in der Zivil­ge­sell­schaft ist die Empö­rung groß. Vor dem Regie­rungs­prä­si­di­um Gie­ßen hal­ten rund 80 Men­schen eine Mahn­wa­che ab und for­dern, Asyu zurück­zu­ho­len. PRO ASYL setzt sich mit dem Hes­si­schen Flücht­lings­rat dafür ein, den Abschie­be­vor­gang recht­lich zu prü­fen und die drei­jäh­ri­ge Ein­rei­se­sper­re zu redu­zie­ren – mit dem Ziel, dass Asyu wie­der ein­rei­sen und den wei­ter­hin zuge­si­cher­ten Aus­bil­dungs­platz antre­ten kann.

Am Mor­gen in der Kita wun­dern sich die Erzie­he­rin­nen: Tami­ka und Lila sind nicht gekom­men, dabei mel­det der Vater sie sonst zuver­läs­sig ab.

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Tami­ka (5) und Lila (3), abge­scho­ben nach Ugan­da. Foto: Privat

Fall 2: Familie wird nachts abgeholt

Längst schla­fen Tami­ka* (5 Jah­re), Lila* (3 Jah­re) und ihre Eltern, als mit­ten in der Nacht um ein Uhr Polizist*innen in die Woh­nung drän­gen. Die Mut­ter Eve­lyn* ist blind und ver­steht nicht, was um sie her­um pas­siert. Sie wehrt sich, wird aber bru­tal fest­ge­hal­ten. Die vier­köp­fi­ge Fami­lie wird zum Flug­ha­fen gebracht und nach Ugan­da abgeschoben.

Eve­lyn wur­de dort vor der Flucht mas­siv von ihren Brü­dern bedroht. Sie hat mehr­fach gewalt­tä­ti­ge Über­grif­fe unbe­kann­ter Täter erlebt, von denen sie noch heu­te am Kör­per Nar­ben trägt. Doch ihr Asyl­an­trag wur­de abge­lehnt. Seit sechs Jah­ren leb­ten Abdel und Eve­lyn in Deutsch­land, die Kin­der sind hier gebo­ren. Ein drit­tes Kind ist am plötz­li­chen Kinds­tod gestor­ben und in Deutsch­land beer­digt. Der Vater bit­tet: »Hel­fen Sie uns her­aus­zu­fin­den, ob es mög­lich ist, dass Zahirs* Grab nicht weg­ge­nom­men wird. Und wie ich das monat­li­che Geld bezah­len kann, um sein Grab auf dem Fried­hof zu behalten.«

Am Mor­gen in der Kita wun­dern sich die Erzie­he­rin­nen: Tami­ka und Lila sind nicht gekom­men, dabei mel­det der Vater sie sonst zuver­läs­sig ab. Von den Nachbar*innen der Fami­lie erfah­ren sie, dass die Fami­lie abge­scho­ben wur­de. Die Erzie­he­rin­nen sind fas­sungs­los: »Das ist eine Will­kür, die ist nicht zu begrei­fen«. Sie erzäh­len, dass sie die Sachen der Kin­der nicht weg­ge­räumt haben: »Das ist für die ande­ren Kin­der und Eltern ganz schwer zu akzep­tie­ren, dass die Fami­lie plötz­lich nicht mehr da ist. Sie gehö­ren doch dazu.«

Fall 3: Abschiebung statt Ausbildung

Divi­ne und Wis­dom aus Nige­ria sind seit 2018 in Deutsch­land und haben sich schnell viel auf­ge­baut: in der Schu­le, in der Kir­che und mit einem gro­ßen Freun­des­kreis. Divi­ne hat seit kur­zem Fach­ab­itur und möch­te Flie­sen­le­ger wer­den. Wis­dom hat sei­nen Real­schul­ab­schluss gemacht und schon eine Zusa­ge vom Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum für eine Aus­bil­dung zum Krankenpfleger.

Doch seit zwei Jah­ren ist der Auf­ent­halt der bei­den nicht mehr sicher und es folg­te ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­cha­os zwi­schen der zustän­di­gen Aus­län­der­be­hör­de und ihren Rechtsanwält*innen. Noch vor der Zeug­nis­aus­ga­be wer­den die bei­den wäh­rend eines Ter­mins bei der Aus­län­der­be­hör­de fest­ge­nom­men und ins Abschie­be­ge­fäng­nis Ingel­heim gebracht.

Unterstützer*innen bemü­hen sich ver­zwei­felt, das zustän­di­ge Minis­te­ri­um dazu zu bewe­gen, die Abschie­bung abzu­bre­chen und die bei­den Brü­der ihre Aus­bil­dun­gen absol­vie­ren zu las­sen. Trotz­dem wer­den sie drei Wochen spä­ter nach Nige­ria abge­scho­ben. Der Leh­rer von Wis­dom ist erschüt­tert: »Ich habe Wis­dom zwei Jah­re lang beglei­tet und täg­lich erlebt, wie vor­bild­lich er sich ver­hal­ten hat, wie enga­giert und ange­nehm er als Mensch war.« Weder dies, noch die Zukunft der bei­den oder der Fach­kräf­te­man­gel spiel­ten bei der Ent­schei­dung eine Rolle.

Abschiebungen verändern die Gesellschaft

Dass Kita-Kin­der nachts abge­holt wer­den und jun­ge Men­schen, die kurz vor der Aus­bil­dung ste­hen, beim Behör­den­be­such inhaf­tiert wer­den, ist trau­ma­ti­sie­rend für die betrof­fe­nen Men­schen und es zer­stört ihre Zukunfts­hoff­nun­gen. Es wirkt sich aber auch auf das gesell­schaft­li­che Umfeld aus: im Freun­des­kreis, in der Wohn­grup­pe und im Kin­der­gar­ten ent­ste­hen Lücken, das Ver­trau­en in Behör­den wird erschüt­tert. Beson­ders Kin­der und Jugend­li­che, die sich nicht als sicher zuge­hö­rig füh­len, wer­den tief verunsichert.

*Namen geän­dert

(jb, sch, ja)