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Sicheres Herkunftsland? Bei den Protesten am Taksim-Platz im Juni 2013 knüppelt die Polizei Demonstranten nieder, die Meinungsfreiheit wird in der Türkei immer wieder beschnitten. Foto: flickr / Eser Karadag

Bundesinnenminister de Maizière unterstützte kürzlich den auf EU-Ebene diskutierten Vorschlag, die Türkei als sicheres Herkunftsland einzustufen. Im September 2015 hatte die Europäische Kommission den Vorschlag zur Einführung einer EU-weiten Liste „sicherer Herkunftsländer“ vorgelegt. Die darin aufgeführten Staaten sind keineswegs als sicher zu beurteilen. Das zeigen nicht zuletzt die EU-weiten Anerkennungsquoten von Schutzsuchenden aus diesen Ländern.

„Ohne unter­schied­li­che Behand­lung auf­grund des Herkunftslandes“?

Der Ent­wurf der Kom­mis­si­on sieht vor, zunächst fol­gen­de Län­der auf die Lis­te zu set­zen: Alba­ni­en, Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na, Maze­do­ni­en, Koso­vo, Mon­te­ne­gro und Tür­kei. Der Euro­päi­sche Flücht­lings­rat ECRE hat den Vor­schlag der Kom­mis­si­on in einem Aus­führ­li­chen Kom­men­tar deut­lich kri­ti­siert. Das Kon­zept „siche­rer Her­kunfts­staa­ten“ lau­fe der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on ent­ge­gen, wonach die dar­in fest­ge­hal­te­nen Bestim­mun­gen ohne unter­schied­li­che Behand­lung auf­grund des Her­kunfts­lan­des anzu­wen­den sind (Arti­kel 3, GFK).  Lis­ten „siche­rer Her­kunfts­län­der“ „tra­gen wei­ter zur Pra­xis der Ste­reo­ty­pi­sie­rung bestimm­ter Anträ­ge auf Grund­la­ge der Natio­na­li­tät bei und erhö­hen das Risi­ko, dass sol­che Anträ­ge kei­ner ein­ge­hen­den Prü­fung der Furcht einer Per­son vor indi­vi­du­el­ler Ver­fol­gung oder ernst­haf­tem Scha­den unter­zo­gen wer­den“, so ECRE.

Von „sicher“ kann nicht die Rede sein

Unter ande­rem ver­weist ECRE auf die teil­wei­se hohen und weit aus­ein­an­der­lie­gen­den Aner­ken­nungs­quo­ten für Asyl­su­chen­de aus den ent­spre­chen­den Län­dern im euro­päi­schen Ver­gleich. 2014 lagen die EU-wei­ten Aner­ken­nungs­quo­ten der vor­ge­schla­ge­nen Län­der im euro­päi­schen Durch­schnitt bei 7,8% im Fall von Alba­ni­en, bei Schutz­su­chen­den aus Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na bei 4,6%, aus Maze­do­ni­en bei 0,9%, aus dem Koso­vo bei 6,3%, aus Mon­te­ne­gro 3%, aus Ser­bi­en 1,8% und aus der Tür­kei bei 23,1%.

Für das ers­te und zwei­te Quar­tal 2015 lie­gen die EU-wei­te Aner­ken­nungs­quo­te (inklu­si­ve der Schen­gen-asso­zi­ier­ten Staa­ten) für die Tür­kei bereits bei 28,1% (Q1) bzw. 29,3% (Q2). In man­chen Län­dern sind die Quo­ten weit­aus höher (in Ita­li­en bei 75% bzw. 72,2%, in der Schweiz bei 72,7% bzw. 68,2%).

Auch die EU-Aner­ken­nungs­quo­te für Alba­ni­en stieg im ers­ten Quar­tal 2015 auf 10,4%. Je nach­dem, wo das Schutz­ge­such ein­ge­reicht wur­de, waren die Chan­cen auf Aner­ken­nung sehr unter­schied­lich: In Groß­bri­tan­ni­en betrug die Aner­ken­nungs­quo­te 17,4%, in Frank­reich 12,9% und in Deutsch­land ledig­lich 1,6%.

Zu einem spä­te­ren Zeit­punkt sol­len gege­be­nen­falls auch noch wei­te­re Län­der auf die EU-Lis­te gesetzt wer­den, so die Kom­mis­si­on. Prio­ri­tär Ban­gla­desch (EU-Aner­ken­nungs­quo­te von 10,3% in 2014), Paki­stan (26,8%) und Sene­gal (34,3%).

EU-wei­te Liste

Die Art. 36–39 der EU-Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie, die gemein­sa­me Stan­dards für die Asyl­ver­fah­ren der Mit­glieds­staa­ten fest­legt, ermög­li­chen den Mit­glied­staa­ten inner­halb eines natio­na­len Ver­fah­rens Ein­stu­fun­gen von Her­kunfts­län­dern als sicher vor­zu­neh­men, jedoch bis­lang nicht ein­heit­lich durch die EU. Eine Ver­ord­nung soll daher die Bestim­mun­gen ent­spre­chend ändern – mit Inkraft­tre­ten wäre sie unmit­tel­bar in den Mit­glied­staa­ten anzu­wen­den. Natio­na­le Gerich­te könn­ten die Ein­stu­fung bestimm­ter Staa­ten als sicher nicht direkt anfechten.

Rea­li­täts­fern und gefährlich

Mit dem Kon­zept der „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ wird Schutz­su­chen­den aus den ent­spre­chen­den Län­dern pau­schal unter­stellt, kei­ne Schutz­grün­de nach­wei­sen zu kön­nen. Dem Grund­prin­zip des Asyl­ver­fah­rens – einer indi­vi­du­el­len, sorg­fäl­ti­gen Prü­fung von Anträ­gen auf inter­na­tio­na­len Schutz – läuft eine sol­che Annah­me dia­me­tral ent­ge­gen. Den Schutz­su­chen­den wird eine kaum zu bewäl­ti­gen­de Beweis­last auf­ge­bür­det – nach dem Prin­zip „im Zwei­fel gegen den Schutzsuchenden“.

Die Zah­len zei­gen deut­lich: Euro­pa­weit lie­gen die Chan­cen auf Aner­ken­nung weit aus­ein­an­der, außer­dem ver­än­dern sie sich ste­tig. Län­der wer­den nach poli­ti­scher Oppor­tu­ni­tät und im Diens­te einer ver­stärk­ten Abschie­be­po­li­tik als sicher dekla­riert. Die Men­schen­rechts­la­ge in den für die Lis­te vor­ge­se­he­nen Bal­kan-Län­dern ist deso­lat, Min­der­hei­ten erlei­den sys­te­ma­ti­sche Aus­gren­zung und Dis­kri­mi­nie­rung.  Und dass über­haupt in Erwä­gung gezo­gen wird, die Tür­kei, in der die poli­ti­sche Ver­fol­gung von Oppo­si­tio­nel­len an der Tages­ord­nung ist, als siche­res Her­kunfts­land ein­zu­stu­fen, zeigt, wie rea­li­täts­fern und gefähr­lich der Vor­stoß ist.

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