Image
Handschlag zwischen Erdogan und EU-Ratspräsident Tusk – dafür, dass die Türkei die Weiterflucht vieler Schutzsuchender in die EU verhindert, kneift Europa bei Menschenrechtsverletzungen auch mal ein Auge zu. Foto: consilium.europa.eu

Am 5. Oktober 2015 trafen sich die Präsidenten von EU-Kommission, Europäischem Parlament und Europäischem Rat mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Erdogan wird von Europa hofiert, damit er alles dafür tut, dass Flüchtlinge da bleiben, wo sie sind: In der Türkei. Die EU offeriert dafür mehr Geld - aber auch implizit die Bereitschaft, bei Menschenrechtsverletzungen wegzuschauen. Im Vorfeld war ein Aktionsplanentwurf mit klarer Stoßrichtung ausgearbeitet worden: Die Türkei soll Flüchtlinge vor der Weiterflucht nach Europa abhalten.

Von ins­ge­samt rund 530.000 Schutz­su­chen­den, die bis­her in 2015 Euro­pa über den See­weg erreich­ten, nah­men über 400.000 die Ägä­is-Rou­te von der Tür­kei aus auf die grie­chi­schen Inseln. Über 153.000 Schutz­su­chen­de erreich­ten allein im Sep­tem­ber Grie­chen­land. 92 Pro­zent davon kom­men aus drei der wich­tigs­ten Her­kunfts­län­dern von Flücht­lin­gen  – aus Syri­en (70 %), Afgha­ni­stan (18 %) und dem Irak (4 %). Min­des­tens 102 Men­schen ver­lo­ren laut UNHCR bis­lang in 2015 in grie­chi­schen Gewäs­sern ihr Leben auf der Flucht. Nun will Euro­pa die Rou­te blockieren.

Der Akti­ons­plan

Die Gesprä­che mit dem tür­ki­schen Staats­prä­si­den­ten hät­ten sich um finan­zi­el­le Unter­stüt­zung, Grenz­ma­nage­ment, den Kampf gegen „Schleu­ser“, Inte­gra­ti­ons­po­li­ti­ken und Visa­li­be­ra­li­sie­run­gen gedreht, ließ Donald Tusk am Mon­tag­abend ver­lau­ten. Der nun vor­lie­gen­de Ent­wurf des Action Plan zielt zum einen auf das Ver­blei­ben der Flücht­lin­ge in der Tür­kei.  Zum ande­ren soll die Koope­ra­ti­on bei der „Ver­hin­de­rung irre­gu­lä­rer Migra­ti­ons­strö­me“ in die EU for­ciert wer­den. Im Gegen­zug schaut Euro­pa bei Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen weg: Selbst den lang­ge­heg­ten Wunsch Anka­ras, eine „Sicher­heits­zo­ne in Syri­en“ zu schaf­fen, schließt die EU nicht mehr aus. Und auch hin­sicht­lich der neu­en Eska­la­ti­ons­stra­te­gie Erdo­gans bezo­gen auf den Kur­di­stan­kon­flikt, möch­te der tür­ki­sche Prä­si­dent ganz „offen­sicht­lich Euro­pa vor den Kar­ren span­nen“, wie es Grü­nen-Poli­ti­ker Cem Özd­emir formulierte.

„It is indis­pu­ta­ble that Euro­pe has to mana­ge its bor­ders bet­ter. We expect Tur­key to do the same”

Die tür­ki­sche Küs­ten­wa­che soll in die­sem Jahr rund 50.000 Flücht­lin­ge auf­ge­grif­fen haben. Künf­tig sol­len weit mehr Flücht­lin­ge abge­fan­gen und zurück in die Tür­kei gebracht wer­den – dafür soll sowohl die tür­ki­sche Küs­ten­wa­che tech­nisch auf­ge­rüs­tet als auch die Koope­ra­ti­on mit der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che wei­ter ver­stärkt wer­den. Donald Tusk hält es für unum­strit­ten, dass Euro­pa sei­ne Gren­zen bes­ser mana­gen müs­se, man erwar­te jedoch das glei­che von der Tür­kei. Wei­te­re Maß­nah­men zur Flücht­lings­ab­wehr beinhal­ten: Die ver­stärk­te Koope­ra­ti­on zwi­schen EU-Mit­glied­staa­ten und der Tür­kei bei gemein­sa­men „Rück­kehr­ope­ra­tio­nen“ in Her­kunfts­län­der von „irre­gu­lä­ren Migran­ten“, die Ver­bes­se­rung des Infor­ma­ti­ons­aus­tauschs zur Bekämp­fung von Schleu­ser­netz­wer­ken mit­hil­fe von Fron­tex-Ver­bin­dungs­be­am­ten in der Tür­kei und die finan­zi­el­le Unter­stüt­zung der Tür­kei bei der Ent­wick­lung eines inte­grier­ten Grenz­ma­nage­ment­sys­tems. Auch die Koope­ra­ti­on mit den Behör­den von Paki­stan, Afgha­ni­stan, Irak, Iran und Ban­gla­desch im Rah­men der „Silk Rou­tes´ Part­ner­ship for Migra­ti­on“ zur Ver­hin­de­rung „irre­gu­lä­rer Migra­ti­on“ und dem Kampf gegen „Schleu­ser­netz­wer­ke“ will die EU wei­ter stärken.

Schutz­su­chen­de, die über die Tür­kei wei­ter nach Grie­chen­land, Bul­ga­ri­en oder Rumä­ni­en gereist sind, sol­len von der Tür­kei „rück­über­nom­men“ wer­den – ins­ge­samt will man Koope­ra­ti­on mit den bul­ga­ri­schen und grie­chi­schen Behör­den stär­ken. Die Tür­kei beab­sich­ti­ge zudem, so der Ent­wurf des Akti­ons­plans, die bis jetzt rela­tiv libe­ra­len Visa­be­stim­mun­gen restrik­ti­ver zu fassen.

Lager­le­ben statt dau­er­haf­ten Schutz 

Ins­ge­samt eine Mil­li­ar­de Euro will die EU der Tür­kei in 2015 und 2016 für die Auf­nah­me und Inte­gra­ti­on von syri­schen und ira­ki­schen Flücht­lin­gen zur Ver­fü­gung stel­len. Mit­hil­fe euro­päi­scher Mit­tel sol­len sechs neue Flücht­lings­la­ger in der Tür­kei errich­tet wer­den, um zwei Mil­lio­nen Flücht­lin­ge unter­zu­brin­gen. „Wir haben mit Staats­prä­si­dent Erdo­gan dar­über gespro­chen, dass die Tür­kei die Flücht­lin­ge im Land betreu­en soll, dass wir dafür Flücht­lings­zen­tren ein­rich­ten und der Tür­kei finan­zi­el­le Unter­stüt­zung geben wol­len“, sag­te EU-Par­la­ments­prä­si­dent Mar­tin Schulz. Im fünf­ten Jahr des syri­schen Bür­ger­krie­ges glaubt Euro­pa also allen Erns­tes, man kön­ne Mil­lio­nen Flücht­lin­ge ein­fach in ein Lager ste­cken oder dort belassen.

Nichts zu lesen ist in die­sem Akti­ons­plan­ent­wurf hin­ge­gen von den im Vor­feld in ver­schie­de­nen Pres­se­be­rich­ten kol­por­tier­ten 500.000 EU- Resett­le­ment­plät­zen für Flücht­lin­ge, die in der Tür­kei leben. Rela­tiv unver­bind­lich heißt es nun­mehr, man beab­sich­ti­ge die EU- und mit­glied­staat­li­chen Resett­le­ment­pro­gram­me zu unter­stüt­zen, damit Flücht­lin­ge aus der Tür­kei legal nach Euro­pa rei­sen könnten.

Zusam­men­fas­send: Euro­pa rollt Erdo­gan den roten Tep­pich aus und hofft, dass die Regie­rung in Anka­ra mit genü­gend Geld und Visa­er­leich­te­run­gen für die tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen den rigi­den Tür­ste­her für die EU macht. Um die­ses Ziel zu errei­chen, spie­len Men­schen- und Flücht­lings­rech­te kei­ne Rol­le. Schlim­mer noch: Es droht ein mil­des Weg­schau­en bei den täg­li­chen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in der Tür­kei und ein jah­re­lan­ges Fest­hän­gen hun­dert­tau­sen­der Schutz­su­chen­der unter pre­kä­ren und unwür­di­gen Bedingungen.

EU-Tür­kei-Flücht­lings­gip­fel: Kein Aus­ver­kauf der Men­schen­rech­te  (29.11.15)

Vor dem EU-Tür­kei-Gip­fel: Ille­ga­le Rück­füh­run­gen an der syri­schen Gren­ze sind bereits All­tag (27.11.15)

End­sta­ti­on Ido­me­ni  (25.11.15)

„Siche­re“ Her­kunfts­län­der: Im Zwei­fel gegen den Schutz­su­chen­den?  (15.10.15)

Koope­ra­ti­on mit der Tür­kei: Wie die EU die Ägä­is-Gren­ze schlie­ßen will (05.10.15)

Erdo­gan-Besuch in Brüs­sel: Mora­li­sche Bank­rott­erklä­rung Euro­pas (05.10.15)

Men­schen­rech­te als Eck­pfei­ler der Flücht­lings­po­li­tik (01.10.15)