03.05.2024
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Noch heute harren 200.000 Jesid*innen in irakischen Flüchtlingslagern aus. Bild: Zemfira Dlovani/ Zentralrat der Êzîden

Die Lage der Jesid*innen im Irak ist düster – und wird es absehbar auch bleiben: In ihrer Herkunftsregion Sinjar kämpfen staatliche und nicht-staatliche Akteure rücksichtslos um Macht und Einfluss, sie stehen dazwischen. Das zeigt ein von PRO ASYL beauftragtes Gutachten. Nötig ist ein sofortiger bundesweiter Abschiebestopp für Jesid*innen.

»Wir haben am Anfang Wie­der­auf­bau­hil­fe gefor­dert, die Bestra­fung der IS-Täter, Ent­schä­di­gun­gen. Aber wir sind beschei­den gewor­den. Wir wol­len nur noch Sicher­heit, auf die kön­nen wir nicht ver­zich­ten.« Die­se Aus­sa­ge einer Jesi­din, die im Gut­ach­ten zitiert wird, illus­triert, wie ver­fah­ren die Situa­ti­on im Nor­den des Iraks ist: Jesi­di­sche Frau­en, Män­ner und Kin­der, die auch zehn Jah­re nach dem Völ­ker­mord immer noch in Lagern leben, fürch­ten um ihre Sicher­heit – ein nor­ma­les Leben an ihren ursprüng­li­chen Wohn­or­ten oder gar eine Straf­ver­fol­gung derer, die den Völ­ker­mord an den Jesid*innen ver­übt haben, sind in uner­reich­ba­rer Ferne.

Spä­tes­tens seit­dem die Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on Isla­mi­scher Staat im Jahr 2014 an den Jesid*innen einen Völ­ker­mord began­gen hat, ist das Sin­jar-Gebiet im Nord­irak, in dem die Jesid*innen seit Jahr­hun­der­ten leben, zu einem lebens­ge­fähr­li­chen Brenn­punkt gewor­den. Das zeigt ein­drück­lich das im April 2024 ver­öf­fent­lich­te Gut­ach­ten »Zehn Jah­re nach dem Völ­ker­mord: Zur Lage der Jesi­din­nen und Jesi­den im Irak«. Geschrie­ben hat es der His­to­ri­ker Oli­ver M. Piecha, Mit­be­grün­der der seit 30 Jah­ren im Nahen Osten akti­ven deutsch-ira­ki­schen Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on Wadi e.V.

Die Jesid*innen (ande­re Schreib­wei­sen unter ande­rem Yezi­den, Ezi­den) mit heu­te ver­mut­lich einer Mil­li­on Mit­glie­dern sind eine mono­the­is­ti­sche Reli­gi­ons­ge­mein­schaft, die ursprüng­lich im Süd­os­ten der Tür­kei, im Nord­irak und Nord­ost­sy­ri­en leb­te. Ihr Ursprung liegt im Dun­keln, es gibt Hin­wei­se auf alt­ira­ni­sche Ele­men­te in ihrem Kul­tus, die Jesid*innen selbst sehen sich als sehr alte Reli­gi­on. Geschicht­lich fass­bar wer­den sie ab dem 11./12. Jahr­hun­dert. Im jesi­di­schen Glau­ben sind diver­se Ein­flüs­se iden­ti­fi­zier­bar. Ihre reli­giö­sen Über­lie­fe­run­gen wur­den bis in die Neu­zeit aus­schließ­lich münd­lich wei­ter­ge­tra­gen – münd­li­che Über­lie­fe­rung sowie sehr kom­ple­xe direk­te sozia­le Bezie­hun­gen spie­len in ihrer reli­giö­sen Pra­xis eine zen­tra­le Rol­le. Dem­nach wird man »rich­tig« jesi­disch durch Geburt, wenn Vater und Mut­ter jesi­disch sind. Zur Über­le­bens­stra­te­gie der Gemein­schaft gehör­ten eine rigo­ro­se Abschot­tung in abge­le­ge­nen Sied­lungs­schwer­punk­ten und eine strik­te Endogamie.

Jesid*innen wer­den seit Jahr­hun­der­ten wegen ihrer Reli­gi­on dis­kri­mi­niert, ange­grif­fen und ver­folgt. Dazu zäh­len auch Bemü­hun­gen, sie zwangs­wei­se zum Islam zu bekeh­ren, zum Bei­spiel in der Tür­kei noch in den 1980er-Jah­ren mit einem Zwang zum mus­li­mi­schen Religionsunterricht.

Jesid*innen wer­den oft als Kurd*innen iden­ti­fi­ziert, auch wegen ihrer meist kur­di­schen Spra­che. Es gab auch Bemü­hun­gen, etwa im Irak, sie als Araber*innen zu bestim­men. Tei­le der jesi­di­schen Gemein­schaft defi­nie­ren sich als eigen­stän­di­ges Volk. Seit dem Beginn der Moder­ne im Nahen Osten – und damit der Idee des Natio­na­lis­mus – wur­den Jesid*innen immer wie­der gezwun­gen, sich natio­nal und eth­nisch zu posi­tio­nie­ren oder ihnen wur­de eine Zuge­hö­rig­keit aufgedrückt.

Ein Resul­tat der Ver­fol­gung und Dis­kri­mi­nie­rung der Jesid*innen ist, dass sie kaum noch dort leben, wo sie noch vor 50 Jah­ren haupt­säch­lich gelebt haben. Die gro­ße Aus­nah­me war bis 2014 der Irak, wo immer noch die Haupt­sied­lungs­ge­bie­te der Jesid*innen lie­gen. In der Tür­kei und Syri­en sind sie als erkenn­ba­re Min­der­heit weit­ge­hend ver­schwun­den. In Syri­en sind sie von der Flucht­be­we­gung seit 2012/13 mit­be­trof­fen. Die Tür­kei ver­lie­ßen vie­le schon als Gastarbeiter*innen, ab den 1980ern dann auch als Flüchtlinge.

Im stra­te­gisch wich­ti­gen Grenz­ge­biet zwi­schen Irak, Syri­en, Tür­kei und Iran pral­len die Inter­es­sen auf­ein­an­der. Staat­li­che und nicht-staat­li­che Akteu­re kämp­fen, teils mit Waf­fen, rück­sichts­los um Macht und Ein­fluss – die Jesid*innen, die zu kei­ner die­ser Grup­pen gehö­ren, ste­hen zwi­schen allen Fron­ten. 200.000 har­ren noch immer in ira­ki­schen Flücht­lings­la­gern aus, ohne Aus­sicht, sie in abseh­ba­rer Zeit ver­las­sen zu kön­nen. Auch eine soge­nann­te inner­i­ra­ki­sche Flucht­al­ter­na­ti­ve gibt es nicht, weil eine jesi­di­sche Fami­lie nicht in einen ande­ren Lan­des­teil gehen kann, denn dort wäre sie ohne die lebens­wich­ti­ge Gemein­schaft und ohne Schutz.

Die pre­kä­re Sicher­heits­la­ge wird sich nicht grund­le­gend ändern, solan­ge der Kon­flikt in Syri­en andau­ert. Für die über­wäl­ti­gen­de Mehr­zahl der von der Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on Isla­mi­scher Staat (IS) ver­trie­be­nen Jesid*innen heißt das: Sie müs­sen auch fast zehn Jah­re nach dem Völ­ker­mord auf unab­seh­ba­re Zeit in ira­ki­schen Flücht­lings­la­gern leben – die 2014/15 ein­mal zur Not­hil­fe ein­ge­rich­tet wur­den. »Auch wenn sich die Lage ins­ge­samt in einem Land wie dem Irak sta­bi­li­sie­ren mag, muss man regio­nal dif­fe­ren­zie­ren. Für die Jesid*innen bleibt die Zukunfts­per­spek­ti­ve im Irak bis auf Wei­te­res düs­ter«, heißt es in dem Gutachten.

All das hat auch Aus­wir­kun­gen auf Deutsch­land, wo mit rund 250.000 Men­schen nicht nur die größ­te jesi­di­sche Dia­spo­ra in Euro­pa, son­dern nach dem Irak die zweit­größ­te welt­weit exis­tiert. Sie leben vor allem in Nie­der­sach­sen und Nord­rhein-West­fa­len (Cel­le, Olden­burg und Bie­le­feld). Geschätzt sind der­zeit 5.000 bis 10.000 ira­ki­sche Jesid*innen aus­rei­se­pflich­tig und von Abschie­bun­gen in den Irak bedroht. Denn Mit­te 2023 began­nen die ers­ten Bun­des­län­der vor dem Hin­ter­grund einer enger wer­den­den Koope­ra­ti­on mit dem Irak und auf­grund von Gerichts­ur­tei­len, wonach es im Irak kei­ne grup­pen­spe­zi­fi­sche Ver­fol­gung mehr gebe, Jesid*innen in den Irak abzu­schie­ben. Tau­sen­de Jesid*innen fürch­ten nun, dass es ihnen bald eben­so ergeht.

Unver­ständ­lich ist das auch, weil der Deut­sche Bun­des­tag Anfang 2023 die Ver­fol­gung der Jesid*innen als Völ­ker­mord aner­kannt und so auch ein beson­de­res Schutz­ver­spre­chen geleis­tet hat­te: »Die Dia­spo­ra ist Teil unse­rer Gesell­schaft mit all ihren Erfah­run­gen und Erin­ne­run­gen. Der Deut­sche Bun­des­tag wird sich mit Nach­druck zum Schutz êzî­di­schen Lebens in Deutsch­land und ihrer Men­schen­rech­te welt­weit ein­set­zen«, heißt es in dem Beschluss des Bun­des­tags.

Statt den Über­le­ben­den die­ses aner­kann­ten Geno­zids eine Blei­be­per­spek­ti­ve zu bie­ten, wer­den sie an den Ort des Völ­ker­mords zurück­ge­schickt, an dem sie kei­ne Zukunft haben. Das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um sieht der­zeit kei­ne Bele­ge für eine sys­te­ma­ti­sche Ver­fol­gung von Jesid*innen und damit auch kei­ne Grün­de für eine Son­der­re­ge­lung im Asylrecht.

Doch es ist unver­ant­wort­lich, jesi­di­sche Män­ner, Frau­en und Kin­der in ein Land abzu­schie­ben, in dem sie kei­ne Lebens­grund­la­ge haben und kein siche­res Leben füh­ren kön­nen. Abzu­schie­ben in das Land des Völ­ker­mords, in dem sie ehe­ma­li­gen Tätern begeg­nen und sich stän­dig bedroht füh­len müs­sen. Des­halb muss es sofort einen bun­des­wei­ten Abschie­be­stopp für Jesid*innen geben.

Die kom­pli­zier­te Lage der Jesid*innen und in der Regi­on gene­rell fasst das Gut­ach­ten auf den ers­ten Sei­ten zusammen:

Religiös verfolgt

Die ideo­lo­gisch-reli­giö­se Begrün­dung für Dis­kri­mi­nie­rung und Ver­fol­gung der Jesid*innen basiert dar­auf, dass sie aus mus­li­misch-ortho­do­xer Sicht nicht als Buch­re­li­gi­on gel­ten und ihnen daher immer wie­der die Exis­tenz­be­rech­ti­gung als reli­giö­se Grup­pe abge­spro­chen wur­de. Die­se grund­sätz­li­che Nicht­ak­zep­tanz der jesi­di­schen Reli­gi­on führ­te schon im Osma­ni­schen Reich zu Ver­su­chen reli­giö­ser Zwangs­as­si­mi­lie­rung und war die Grund­la­ge einer lan­gen, kon­ti­nu­ier­li­chen Ver­fol­gungs­ge­schich­te bis hin zum Angriff des IS.

Sinjar: Im Brennpunkt machtpolitischer Auseinandersetzungen

Das Haupt­sied­lungs­ge­biet der Jesid*innen im ira­ki­schen Distrikt um die Stadt und das Berg­mas­siv Sin­jar (Shin­gal) steht wei­ter­hin im Brenn­punkt macht­po­li­ti­scher und mili­tä­ri­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen solan­ge sich die Situa­ti­on in der Groß­re­gi­on inklu­si­ve Syri­en nicht grund­le­gend ändert. Das Gebiet hat eine zen­tra­le stra­te­gi­sche Bedeu­tung im Kon­flikt­feld zwi­schen diver­sen staat­li­chen und nicht­staat­li­chen Akteur*innen in Syri­en, im Irak, aber auch in der Tür­kei und im Iran.

Schwache Autorität des irakischen Staates

Die immer wie­der ange­kün­dig­ten Wie­der­auf­bau­in­ves­ti­tio­nen der ira­ki­schen Regie­rung für den Sin­jar schei­tern an den unge­klär­ten Macht- und Ver­wal­tungs­fra­gen sowie letzt­lich an der man­geln­den Sou­ve­rä­ni­tät des ira­ki­schen Staa­tes. Solan­ge die Regi­on im stra­te­gi­schen Fokus so vie­ler Akteur*innen steht, wird eine dau­er­haf­te Wie­der­her­stel­lung staat­lich-ira­ki­scher Sou­ve­rä­ni­tät nicht gelin­gen. Dies gilt auch für das bis heu­te nicht umge­setz­te Sin­jar-Abkom­men zwi­schen der Regie­rung der kur­di­schen Auto­no­mie­zo­ne und der ira­ki­schen Regie­rung von 2020, wonach unter ande­rem die ira­ki­schen Streit­kräf­te die Kon­trol­le in der Regi­on über­neh­men und die Arbei­ter­par­tei Kur­di­stans (PKK) und ihre Grup­pie­run­gen abzie­hen sol­len. Auch bei der Ankün­di­gung der ira­ki­schen Regie­rung vom Febru­ar 2024, die Unter­stüt­zung für die noch bestehen­den Lager für intern Ver­trie­be­ne (Intern­al­ly Dis­pla­ced Per­sons, IDP) im Nord­irak ein­zu­stel­len und dafür Mög­lich­kei­ten für eine Rück­kehr auch der Jesid*innen in ihre Orte bereit­stel­len zu wol­len, scheint es sich um nicht mehr als eine Absichts­er­klä­rung zu handeln.

Schutzversprechen für Jesid*innen nur hypothetisch

Ein zen­tra­ler Denk­feh­ler in der Beur­tei­lung der jesi­di­schen Pro­ble­ma­tik besteht in dem Fokus auf Aktua­li­tät. Auch wenn es der­zeit kei­ne orga­ni­sier­te Ver­fol­gung der Jesid*innen gibt: Alle, sowohl die Jesid*innen als Ange­hö­ri­ge einer beson­ders gefähr­de­ten Min­der­heit als auch die poten­zi­el­len Täter*innen, wis­sen, dass das Schutz­ver­spre­chen des ira­ki­schen Staa­tes ein nur sehr rela­ti­ves und hypo­the­ti­sches ist. Das wird auch so blei­ben, solan­ge die Zen­tral­re­gie­rung, ins­be­son­de­re in den umstrit­te­nen Gebie­ten, nur eine schwa­che Auto­ri­tät besitzt. Die grau­sa­me Fol­ge von nur theo­re­ti­schen Sicher­heits­ver­spre­chen haben die Jesid*innen des Sin­jar im Jahr 2014 erfah­ren müs­sen, als sich die Kämp­fer der Demo­kra­ti­schen Par­tei Kur­di­stans (KDP), die das Gebiet kon­trol­lier­ten, buch­stäb­lich über Nacht zurück­zo­gen und damit die Jesid*innen schutz­los dem IS überließen.

Kein Zurück in die Zeit vor dem Völkermord

Das Schick­sal der Jesid*innen ist ein ein­drück­li­ches Bei­spiel für die neue Rea­li­tät, die ein Völ­ker­mord schafft. Es gibt kein Zurück in die Zeit davor. Die Her­kunfts­re­gi­on der Jesid*innen ist ein von Min­der­hei­ten und zahl­rei­chen Kon­flikt­li­ni­en gepräg­tes Gebiet. Die Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on Isla­mi­scher Staat hat mit dem Völ­ker­mord die­ses ohne­hin schon fra­gi­le gesell­schaft­li­che Gewe­be zer­ris­sen. Trau­ma­ti­sier­te Opfer ste­hen Nachbar*innen gegen­über, die poten­zi­el­le Täter*innen waren – und es poten­zi­ell jeder­zeit wie­der wer­den können.

Keine innerirakische Fluchtalternative

Eine rea­le inner­i­ra­ki­sche Flucht­al­ter­na­ti­ve gibt es für die Mehr­zahl der in Lagern leben­den Jesid*innen nicht. Ihre prak­ti­sche Erfah­rung ist, dass sie sich letzt­lich nur auf Mit­glie­der der eige­nen Grup­pe oder Gemein­schaft ver­las­sen kön­nen, daher suchen sie den Rück­halt bei ande­ren Jesid*innen in ihrem Lebens­um­feld. Nie­mand wür­de erwar­ten, dass Jesid*innen irgend­wo hin­zie­hen, wo es kei­ne ande­ren Jesid*innen gibt. Das gilt auch für ande­re Grup­pen oder Min­der­hei­ten in der ira­ki­schen Gesellschaft.

Sicherheitsgarantien sind Grundvoraussetzung

Das Gut­ach­ten zeigt ein­drück­lich: Es braucht rele­van­te Sicher­heits­ga­ran­tien, eine jesi­di­sche Selbst­ver­wal­tung, funk­tio­nie­ren­de Straf­ver­fol­gungs­maß­nah­men und Ent­schä­di­gungs­pro­zes­se, eine wie in der ira­ki­schen Ver­fas­sung vor­ge­se­he­ne Klä­rung des Sta­tus der umstrit­te­nen Gebie­te, ins­be­son­de­re ihrer poli­ti­schen Zuord­nung und eine Demi­li­ta­ri­sie­rung diver­ser Mili­zen. Die­se Grund­vor­aus­set­zun­gen müss­ten erst geschaf­fen wer­den, bevor über die Zukunft der Jesid*innen im Irak dis­ku­tiert wer­den kann. Alle Infor­ma­tio­nen in die­sem Text stam­men aus dem Gut­ach­ten »Zehn Jah­re nach dem Völ­ker­mord: Zur Lage der Jesi­din­nen und Jesi­den im Irak«.

(wr)