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Richtige Forderungen – falsche Motive
Italien und Malta fordern nach den Katastrophen vor Lampedusa im Vorfeld des EU-Gipfels eine grundlegende Änderung des EU-Asylzuständigkeitssystems - zu Recht. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass beide Staaten seit Jahren eklatant die Menschenrechte von Flüchtlingen verletzen.
Wenn Ende der Woche die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel tagen, wird es wohl auch um die Flüchtlingspolitik gehen: Italien und Malta drängen nach den Katastrophen vor Lampedusa auf eine grundlegende Änderung des EU-Asylzuständigkeitssystems. Ihr Vorwurf: Mit der derzeitigen Dublin-Verordnung, nach der jener EU-Staat für einen Asylsuchenden zuständig ist, der ihn hat einreisen lassen, werde die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf EU-Außenstaaten wie etwa Italien oder Malta abgeschoben.
So weit, so richtig. Doch darf die berechtigte Forderung nach einer Änderung dieser Regelung nicht davon ablenken, dass die EU-Staaten Malta und Italien die Menschenrechte von Flüchtlingen systematisch missachten. Ihre Reaktion auf die unsolidarische Aufteilung der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz in der EU ist und bleibt, sich dieser Verantwortung rigoros zu verweigern und den Konflikt um die Asylzuständigkeit unter den EU-Staaten in zynischer Weise auf dem Rücken der Schutzsuchenden auszutragen.
Italien: Gedenken für die Toten, Kriminalisierung der Überlebenden?
Nach den beiden letzten Katastrophen vor Lampedusa mit insgesamt mehr als 400 Toten zeigten sich zahlreiche italienische Regierungsvertreter bestürzt. Den Toten wurden ein Staatsbegräbnis und posthum die italienische Staatsangehörigkeit versprochen. „Sterben ist offenbar das, was man heutzutage tun muss, um die Staatsbürgerschaft zu erhalten“, hieß es dazu treffend auf Quarz.
Die Überlebenden der Katastrophen wurden hingegen wegen illegaler Einreise angeklagt. Das Gesetzespaket namens „Bossi-Fini“, das die Einreise von Flüchtlingen kriminalisiert, besteht weiterhin. Es führt nicht zuletzt dazu, dass Flüchtlinge in Seenot immer wieder von vorbeifahrenden Schiffen ignoriert werden, weil Schiffsmannschaften, die Flüchtlinge retten, aufgrund von „Bossi-Fini“ damit rechnen müssen, wegen „Schlepperei“ angeklagt zu werden.
Indes hat Italien noch nicht einmal das Versprechen einer würdevollen Bestattung für die Toten erfüllt. Viele der Leichen wurden anonym bestattet. Angehörige der Opfer riefen die italienischen Behörden verzweifelt auf, ihnen die Identifizierung ihrer Toten und einen würdevollen Abschied zu ermöglichen. Doch zahlreiche Angehörige wurden bei der Anreise von den Behörden aufgehalten und konnten an der Bestattung ihrer Toten, die im von Lampedusa weit entfernten sizilianischen Agrigento stattfand, nicht teilnehmen.
Abwehrpolitik statt Seenotrettung
Vorgeblich, um neue Todesopfer im Mittelmeer zu verhindern, startete Italien die Operation „Mare nostrum“. „Wir beabsichtigen eine Verdreifachung unserer Präsenz an Menschen und Material für einen militärisch-humanitären Einsatz im südlichen Mittelmeer“, kündigte der italienische Verteidigungsminister Mauro die Aktion an. „Wir brauchen entschlossene Maßnahmen, um diese Schiffswracks am Auslaufen zu hindern“, erklärte er. Innenminister Angelino Alfano bekräftigte, die Militäroperation solle jene abschrecken, „die glauben, dass sie ungestraft Menschenhandel gehen können“. Dass es bei der Operation „Mare Nostrum“ darum geht, Schutzsuchende zu retten und ihnen Schutz zu bieten, ist angesichts dieser Zielsetzungen zweifelhaft.
Wie wenig Interesse Italien und Malta offenbar an einer Verbesserung der Seenotrettung haben, zeigte sich zudem letzte Woche, als beide Staaten sich zusammen mit Spanien, Frankreich und Griechenland einer Veränderung der Frontex-Verordnung verwehrten. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg soll die Verordnung hinsichtlich der Rettung Schiffbrüchiger überarbeitet werden. Die Kommission hatte darauf vorgeschlagen, dass Einsatzkräften, die an einem Frontex-Einsatz beteiligt sind, in der Verordnung unmissverständlich auferlegt wird, „jedem in Seenot befindlichen Schiff und jeder in Seenot befindlichen Person Hilfe“ zu leisten. Die Mittelmeeranrainer Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland und Malta bezeichnen den Vorschlag als „unakzeptabel“, sie sehen offenbar ihre Souveränität beschnitten.
Gegen den Einsatz der Grenzschutzagentur Frontex bei der Flüchtlingsabwehr hat Italien dagegen nichts einzuwenden: Kurz vor dem EU-Gipfeltreffen forderte Italiens Premier Enrico Letta in einer Ansprache „sofortige Maßnahmen zur Stärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex und zur Umsetzung des Überwachungssystems Eurosur“.
Inhaftierung, Obdachlosigkeit und Elend
Auch jene Bootsflüchtlinge, die die Überfahrt nach Italien oder Malta überleben, drohen in beiden Staaten Menschenrechtsverletzungen. Im Erstaufnahmelager Lampedusas herrschen katastrophale Zustände, ganze Familien sahen sich gezwungen, im Regen im Freien zu übernachten. Häufig landen Asylsuchende in Italien nach sechs Monaten in Obdachlosigkeit und Elend. Das sich an den 2011 von PRO ASYL dokumentierten Zuständen bis heute kaum etwas geändert hat, belegt ein aktueller Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe.
In Malta werden alle neuankommenden Asylsuchenden bis zu zwölf Monaten inhaftiert. Später werden sie in den sogenannten „Open Centers“ untergebracht, die mittlerweile meist aus Containern bestehen – zuvor waren die Menschen in Zelten oder einem Flugzeughangar untergebracht worden. Ein Teil der Flüchtlinge auf Malta lebt ohne einen Platz in einem Flüchtlingslager und ohne finanzielle Unterstützung, also faktisch mittel- und obdachlos, auf der Insel.
Dublin-Verordnung: EU-Staaten Zentraleuropas mitverantwortlich
So sehr diese Menschenrechtsverletzungen auf das Konto Maltas und Italiens gehen, stehen sie auch für das Versagen der Europäischen Flüchtlingspolitik. Noch immer pochen Deutschland und andere Mitgliedstaaten im Zentrum der EU auf die Fortsetzung der in der Dublin-Verordnung festgelegten Asylzuständigkeitsregelung. Damit delegieren sie die Verantwortung für Schutzsuchende an Randstaaten wie Malta oder Italien, und sehen zugleich tatenlos dabei zu, wie diese Staaten der ihnen zugeteilten Verantwortung in keiner Weise nachkommen. Die Ignoranz der Staaten im Zentrum der EU gegenüber den Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie auf der Grundlage der Dublin-Verordnung weiterhin Flüchtlinge nach Italien oder Malta abschieben.
Aktion „Lampedusa: Stoppt das Sterben!“
Angesichts Tausender Todesopfer an den EU-Außengrenzen und im Gedenken an die jüngste Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa fordert PRO ASYL die Bundeskanzlerin mit einer E‑Mail-Aktion auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das Sterben an den europäischen Außengrenzen zu beenden.
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