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PRO ASYL unterstützt Betroffene von Pushbacks und Polizeigewalt in Kroatien
Die kroatischen Einsatzkräfte sind für ihr brutales Vorgehen gegen Flüchtlinge bekannt. Ernsthafte Konsequenzen hatten bisher jedoch weder die Einsatzkräfte noch politisch Verantwortliche zu befürchten. PRO ASYL unterstützt Geflüchtete in zwei Fällen bei ihren Klagen in Kroatien. Es geht um Gerechtigkeit und ein Ende der Straflosigkeit.
Ob in Griechenland, Polen oder Kroatien: An den Außengrenzen der EU werden die Menschenrechte vielerorts mit Füßen getreten. Teilweise kommt es dabei zu einer Brutalität, die einem den Atem raubt. Das zeigt der Fall von Farouk* aus Afghanistan, der von PRO ASYL unterstützt wird. Er wurde von der kroatischen Polizei so schlimm angeschossen, dass er seitdem im Rollstuhl sitzt und querschnittsgelähmt ist.
Im November 2019 wurde Farouk, der mit einer Gruppe Schutzsuchender auf dem Weg durch Kroatien war, auf dem Berg Tuhobić von der Polizei aufgegriffen. Diese feuerte mehrere Schüsse ab und traf den damals 21-jährigen Farouk in den Rücken. Die Polizei befahl daraufhin dem Rest der Gruppe, den Schwerverletzten auf eine Straße zu tragen und ihn dort liegen zu lassen. Erst dreißig Minuten später wurde Farouk zu einer Polizeistation gefahren und einem Krankenwagen übergeben.
»Niemand ist gekommen, wenn ich gerufen habe, egal ob ich auf Toilette musste oder Durst hatte. Ich glaube es wäre ihnen lieber gewesen, wenn ich gestorben wäre.«
Im Krankenhaus angekommen, befand er sich in kritischem Zustand und musste notoperiert werden. Medizinische Unterlagen belegen die Schwere der Verletzungen. Als sich sein Gesundheitszustand stabilisierte, wurde er in ein Pflegeheim verlegt, in dem er jedoch weder angemessene medizinische Versorgung erhielt, noch eine Übersetzung für den Farsi-sprechenden jungen Mann organisiert wurde. Er litt unter starken Schmerzen, bekam aber keine Schmerzmittel. Nur sein Anwalt unterstützte ihn und besorgte ihm beispielsweise auch den Rollstuhl, in dem Farouk seit dem Vorfall sitzt. Seinen Schilderungen zufolge müssen in dem Pflegeheim katastrophale Zustände geherrscht haben. »Niemand ist gekommen, wenn ich gerufen habe, egal ob ich auf Toilette musste oder Durst hatte. Ich glaube es wäre ihnen lieber gewesen, wenn ich gestorben wäre«, erzählt er.
Trotz seines körperlichen Zustands gelang Farouk schließlich über Slowenien und Italien die Weiterflucht nach Deutschland. Die letzte Etappe trat er aufgrund seiner Verletzungen im Taxi an, was nur möglich war, weil seine Familie in Afghanistan und Freunde Geld schickten und er sich bei ihnen schwer verschuldete.
Kroatien behauptet, es sei ein »Unfall« gewesen
Sowohl die kroatische Polizei als auch der Innenminister behaupteten nach dem Einsatz, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Die Polizist*innen hätten lediglich Warnschüsse in die Luft abgefeuert. Gegen diese Darstellung sprechen sowohl Zeugenaussagen aus der Gruppe als auch die Tatsache, dass Farouk in den Rücken geschossen wurde. Doch die Ermittlungsbehörden in dem Fall folgten der Argumentationslinie der Polizei und des Innenministeriums.
»Ich kann das einfach nicht vergessen. Ich weiß nicht, ob ich das jemals verarbeiten kann.«
Obwohl die Verletzungen Farouk sein Leben lang beeinträchtigen werden, soll er keine Entschädigung erhalten, und niemand wird zur Rechenschaft gezogen. »Ich kann das einfach nicht vergessen. Ich weiß nicht, ob ich das jemals verarbeiten kann. Mein ganzes Leben hat sich deshalb verändert«, sagt er. PRO ASYL unterstützt den jungen Mann in seinem Asylverfahren in Deutschland und engagiert sich für die juristische Aufarbeitung des Polizeieinsatzes auf kroatischer Seite.
Aus dem Gerichtssaal zurück nach Bosnien
Farouk ist kein Einzelfall: Im Oktober 2020 überquerte eine Gruppe von fünf afghanischen Schutzsuchenden die bosnisch-kroatische Grenze. Auf kroatischer Seite in der Nähe von Slunjčica wurden sie von der Polizei festgenommen. Vier von ihnen wurden gemeinsam für zwei Tage inhaftiert, der Fünfte wurde durch die Polizei von der Gruppe getrennt und als der vermeintliche »Schlepper« angeklagt. Die vier anderen Gruppenmitglieder wurden vor dem Gericht in Karlovac als Zeugen geladen, um gegen ihn aussagen. Sie stellten jedoch klar, dass »der Junge«, wie sie ihn nennen, kein Schlepper sei. Der Angeklagte blieb trotz der entlastenden Aussagen weiter in Haft.
Nach dem Gerichtstermin wurde die Vierer-Gruppe von der Polizei abgeführt und weggefahren. Die Polizei übergab sie an zehn maskierte Personen in schwarzen Uniformen. Diese raubten die Schutzsuchenden aus, schlugen und misshandelten sie auf brutalste Art und Weise. Einer von ihnen erzählt: »Ich sollte mich bis auf die Unterwäsche ausziehen und mich auf den Boden legen. Sie haben zuvor meine Sachen verbrannt, eine Socke haben sie mir in den Mund gelegt. Zwei haben meine Arme festgehalten, zwei meine Beine. Vier andere haben dann auf mich eingeschlagen.« Anschließend wurden die Schutzsuchenden fast nackt und teils schwer verletzt auf die bosnische Seite der Grenze gebracht.
So wie der Gruppe der fünf Afghanen erging es in dieser Zeit vielen Schutzsuchenden: Wie der Guardian mit Verweis auf den Dänischen Flüchtlingsrat berichtet, haben im Oktober 2020 mehr als 75 Personen innerhalb einer Woche unabhängig voneinander von unmenschlicher Behandlung, brutalen Schlägen und sogar sexuellem Missbrauch berichtet.
PRO ASYL fordert: Kroatische Staatsanwaltschaft soll Ermittlungen einleiten
Das kroatische Centre for Peace Studies reichte bereits im Dezember 2020 einen Antrag auf strafrechtliche Ermittlungen beim zuständigen Staatsanwalt ein. Im Juli 2021 gelang es, den Kontakt zwischen den fünf Betroffenen, die es inzwischen nach Deutschland geschafft haben, und der Anwältin vom Centre for Peace Studies wiederherzustellen. Nachdem die Staatsanwaltschaft in Kroatien eineinhalb Jahre untätig geblieben war, wird sie nun mit aktualisierten Vollmachten und Kontaktadressen erneut aufgefordert, Ermittlungen einzuleiten und die Gruppe zu befragen. PRO ASYL unterstützt die Betroffenen in ihrem Asylverfahren in Deutschland und ihre strafrechtliche Vertretung in Kroatien.
Die Beschreibung der maskierten Einsatzkräfte durch die Betroffenen stimmt überein mit Berichten über kroatische Sondereinheiten der Operation »Koridor«. Am 06. Oktober 2021 veröffentlichte ein journalistisches Recherchekollektiv Aufnahmen, in denen maskierte Einsatzkräfte zu sehen sind, wie sie Schutzsuchende schlagen und nach Bosnien zurücktreiben.
Am 03. Dezember 2021 forderten die Berichterstatter des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe des Europarats in ihrem Bericht zur Polizeigewalt an den kroatischen EU-Außengrenzen: »Die Vorwürfe über schwere körperliche Misshandlungen und andere Übergriffe von Polizeibeamten auf aufgegriffene Migranten im Rahmen der Koridor-Operation müssen unverzüglich aufgeklärt werden.«
Sechsjähriges Mädchen wird zurückgetrieben – und stirbt
Selbst Kinder werden Opfer von brutalen Pushback-Aktionen der kroatischen Grenzbeamten. Am 18. November 2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Kroatien im »Madina-Fall« erstmals wegen eines illegalen Pushbacks. Im November 2017 war die sechsjährige Madina Hussiny mitsamt ihrer Familie aus Serbien kommend von der kroatischen Polizei aufgegriffen worden. Die Polizei ignorierte das Asylgesuch und befahl der Familie, den Zuggleisen zu folgen und zurück nach Serbien zu gehen. In der Dunkelheit wurde Madina von einem Zug erfasst und starb. Der EGMR stellte deshalb zusätzlich eine Verletzung des Rechts auf Leben durch Kroatien fest.
Nur zwei Wochen nach dem Urteil, am 09. Dezember 2021, stand der Schengen-Beitritt Kroatiens erneut auf der Tagesordnung eines Treffens der EU-Innenminister*innen. Dabei kam der Rat zu dem Schluss, »dass Kroatien die erforderlichen Voraussetzungen für die Anwendung aller Teile des Schengen-Besitzstands erfüllt.« Damit ist nach der Empfehlung der EU-Kommission 2019 der Weg frei für den letzten Schritt: Die Entscheidung des Rats zur vollständige Aufnahme Kroatiens in den Schengen-Raum und die Aufhebung von Binnengrenzkontrollen. Der kroatische Premierminister geht von einem Beitritt Kroatiens zum Schengen-Raum im Jahr 2024 aus.
Dies ist angesichts der Tatsache, dass wiederholte, schwerste Menschenrechtsverletzungen vonseiten Kroatiens durch Medienberichte, zivilgesellschaftliche Organisationen und den EGMR belegt sind, mehr als fragwürdig. Auch in der Verordnung zum Schengener Grenzkodex ist festgehalten: »Sie sollte unter Beachtung der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in den Bereichen internationaler Schutz und Nichtzurückweisung angewandt werden.«
Laut der irischen EU-Abgeordneten Clare Daly trägt die EU eine Mitschuld an den Menschenrechtsverletzungen. Gegenüber dem Guardian sagte sie: »Das Blut dieser Menschen, die an der kroatischen Grenze so grausam misshandelt wurden, klebt an den Händen der Europäischen Kommission. Sie hat diese Verletzung der Grundrechte ermöglicht, indem sie die Fakten ignoriert hat, die ihr von NGOs und Abgeordneten des Europäischen Parlaments vorgelegt wurden.«
Mehrere Gerichte bestätigen Pushback-Gefahr in Kroatien
Dass die europarechtlich festgeschriebenen Verfahren in Kroatien missachtet werden, haben zuletzt auch Gerichte in europäischen Mitgliedstaaten festgestellt und gegen Dublin-Abschiebungen von Asylsuchenden geurteilt.
Am 13. April 2022 hat das höchste Verwaltungsgericht in den Niederlanden, der niederländische Staatsrat, festgestellt, dass Asylsuchende nicht mehr »ohne weitere Prüfung« nach Kroatien im Rahmen der Dublin-III-Verordnung überstellt werden dürfen. Grund dafür ist die Gefahr von Pushbacks von Asylsuchende. Das Risiko eines Pushbacks besteht demnach nicht nur in den Grenzregionen, sondern auch für Schutzsuchende, die sich im Landesinnern Kroatiens befinden. Dem Risiko illegaler Abschiebungen seien potentiell alle Menschen in Kroatien ausgesetzt, deren Aussehen von der Polizei nicht als »kroatisch« angesehen wird.
Mit Blick auf die systematischen Pushbacks an der bosnisch-kroatischen Grenze hat das Oberste Verwaltungsgericht der Schweiz bereits im Juli 2019 eine Dublin-Abschiebung nach Kroatien gestoppt. Und in Deutschland hat im Februar 2022 das Verwaltungsgericht Braunschweig systemische Mängel im kroatischen Asylverfahren wegen gewaltsamer Pushbacks festgestellt.
Die Urteile von Verwaltungsgerichten bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigen, was in Berichten von Medien und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren dokumentiert ist: In Kroatien werden systematisch gewaltvolle Pushbacks durchgeführt.
In Kroatien werden systematisch gewaltvolle Pushbacks durchgeführt.
Solange grundlegende Menschenrechte von Schutzsuchenden verletzt werden, dürfen die EU-Institutionen das EU-Mitglied Kroatien nicht mit dem Schengen-Beitritt belohnen. Stattdessen sollte die EU-Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen Kroatien einleiten und Ermittlungen in Fällen von Menschenrechtsverletzungen von Kroatien einfordern. Die Menschenrechtsorganisation ECCHR erklärt: »Dieses Klima der Missachtung der Rechtsstaatlichkeit, gepaart mit völliger Straflosigkeit des Staates, erklärt das Fortbestehen der Pushback-Praktiken in Europa, ihre zunehmende Anwendung und ihren eskalierenden, gewalttätigen Charakter.« Wird die Straflosigkeit in Kroatien akzeptiert, stellt dies die Einhaltung rechtstaatlicher Verfahren an den EU-Außengrenzen in Frage – und Betroffenen wird die Möglichkeit genommen, Gerechtigkeit für die erlittenen Menschenrechtsverletzungen zu erfahren.
(dm)
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