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Viele syrische Flüchtlinge leben in der Türkei unter unwürdigen Bedingungen, ohne Perspektive - so wie dieser Junge in einem Viertel von Istanbul. Foto: UNHCR / Shawn Baldwin

EU-Ratspräsident Donald Tusk gab gestern zu Protokoll, dass der EU-Türkei-Deal „keine hundertprozentig ideale Lösung“ sei. Angesichts der Vielzahl an Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen ist dieses Eingeständnis allerdings noch eine ziemliche Untertreibung:

Anfang April wur­den die ers­ten Flücht­lin­ge in Fol­ge der Ver­ein­ba­run­gen aus Grie­chen­land in die Tür­kei abge­scho­ben. Unter ihnen waren auch 13 Afgha­nen und Kon­go­le­sen, die in Grie­chen­land Asyl bean­tra­gen woll­ten – deren Bit­te um Asyl von den Behör­den aber „ver­ges­sen“ wur­de. Die Infor­ma­tio­nen, was danach mit ihnen gesche­hen ist, sind spär­lich. Das liegt am Behör­den­cha­os in Grie­chen­land eben­so wie dar­an, dass bei­spiels­wei­se das tür­ki­sche UNHCR kei­nen Zugang zu den Abge­scho­be­nen erhält. Auch eine Namens­lis­te der 13 Per­so­nen, die trotz Asy­l­er­su­chen abge­scho­ben wur­den, bleibt Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen verwehrt.

Bil­der aus einer Turn­hal­le mut­maß­lich im tür­ki­schen Diki­li zei­gen, unter wel­chen Umstän­den die Men­schen direkt nach ihrer Abschie­bung unter­ge­bracht wur­den. Zu befürch­ten ist, dass vie­le der Betrof­fe­nen nun in der Tür­kei wei­ter inhaf­tiert und anschlie­ßend in ihre Her­kunfts­län­der abge­scho­ben wer­den. Mit­glie­der der tür­ki­schen Regie­rung, unter ande­rem der Innen­mi­nis­ter Efka Ala und der Euro­pa­mi­nis­ter Vol­kan Boz­kir haben bereits Abschie­bun­gen von nicht-syri­schen Flücht­lin­gen angekündigt.

Abschiebungen aus der Türkei auch nach Syrien und Afghanistan 

Eine sol­che Abschie­bung droht in der Tür­kei auch Flücht­lin­gen aus Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten wie Afgha­ni­stan, dem Irak oder dem Iran. Amnes­ty Inter­na­tio­nal berich­te­te am 19.03. von der Abschie­bung von 29 Afgha­nen aus Istan­bul nach Kabul. Aber auch syri­sche Flücht­lin­ge sind nicht sicher: Anfang April wur­de bekannt, dass seit Jah­res­be­ginn hun­der­te Syrer*innen rechts­wid­rig in das Bür­ger­kriegs­land abge­scho­ben wur­den. Auch ein deut­sches Fern­seh­team hat­te ille­ga­le Inhaf­tie­run­gen und Abschie­bun­gen von syri­schen Flücht­lin­gen bereits doku­men­tiert.

Will­kür­lich Inhaf­tier­te wer­den in Abschie­be­zen­tren gebracht, in denen der Öffent­lich­keit und Anwäl­ten oft der Zugang ver­wehrt bleibt, wie der Men­schen­rechts­an­walt Orçun Ulu­soy bei­pi­els­wei­se aus dem Haft­la­ger in Aska­le berich­tet. Ein Pro­test der Flücht­lin­ge wur­de dort im Dezem­ber 2015 von der Poli­zei nie­der­ge­schla­gen, vie­le Ver­letz­te waren die Folge.

»This sys­tem is far away from pro­vi­ding a safe haven for migrants and refugees«

Men­schen­rechts­an­walt Orçun Ulusoy

Auch Zurück­wei­sun­gen direkt an der tür­kisch-syri­schen Gren­ze sind offen­bar an der Tages­ord­nung. Schon im ver­gan­ge­nen Jahr berich­te­te Human Rights Watch von sol­chen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Push-Backs, neue­re Mel­dun­gen spre­chen sogar davon, dass die tür­ki­schen Gren­zer auch von der Schuss­waf­fe Gebrauch machen: 16 Syrer*innen sol­len dabei in die­sem Jahr bereits ums Leben gekom­men sein.

Flüchtlingsschutz? Weder rechtlich noch faktisch!

Die Tür­kei gewährt nur Flücht­lin­gen aus Euro­pa Flücht­lings­schutz gemäß der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on. Rein recht­lich kann sie also nicht als „siche­rer Dritt­staat“ für Schutz­su­chen­de aus den Kri­sen­ge­bie­ten gese­hen wer­den. Sogar der Wis­sen­schaft­li­che Dienst des Bun­des­tags zwei­felt in einem neu­en Gut­ach­ten nun an einer sol­chen Ein­stu­fung. Aber was heißt der feh­len­de Flücht­lings­sta­tus in der Pra­xis für die Menschen?

Nur ein Bruch­teil der über 2 Mil­lio­nen Flücht­lin­ge in der Tür­kei ist in offi­zi­el­len Flücht­lings­camps unter­ge­bracht. Für alle ande­ren, die sich allei­ne in Städ­ten und Dör­fern durch­schla­gen, gibt es fak­tisch kei­ne sozia­le Unter­stüt­zung, kaum Zugang zum Bil­dungs- und Gesund­heits­sys­tem, kei­ne Arbeits­er­laub­nis. Das tür­ki­sche Asyl­sys­tem „ste­cke noch in den Kin­der­schu­hen“, kon­sta­tiert Orçun Ulu­soy. Man sei in der Tür­kei weit davon ent­fernt, ein siche­rer Hafen für Flücht­lin­ge zu sein.

»Alles ist bes­ser als die­se Perspektivlosigkeit«

Nawar Oma­ri, syri­scher Flücht­ling in Istanbul

Zumin­dest lega­le Arbeits­mög­lich­kei­ten woll­te die tür­ki­sche Regie­rung nun schaf­fen – das hat­te man der EU zuge­sagt. Eine Ertei­lung von Arbeits­er­laub­nis­sen ist aber nur für Syrer*innen vor­ge­se­hen, alle ande­ren Flücht­lin­ge sol­len wei­ter kei­nen lega­len Zugang zum Arbeits­markt erhal­ten. Die Tür­kei gibt sich dort kom­pro­miss­los, auch eine Beob­ach­tung des Pro­zes­ses durch die EU will man nicht zulassen.

0,1 %

der syri­schen Flücht­lin­ge in der Tür­kei haben eine Arbeitserlaubnis.

„Die Menschen wohnen in selbstgebauten Hütten aus Plastikplanen“

Die­se Beob­ach­tung wäre aber offen­bar not­wen­dig, denn fak­tisch hat sich in dem Bereich noch nichts getan: Laut dem Guar­di­an haben bis­lang nur 0,1% der syri­schen Flücht­lin­ge in der Tür­kei eine Arbeits­er­laub­nis oder immer­hin die Aus­sicht dar­auf. Denn dafür sind die Men­schen gemäß dem neu­en Gesetz auf einen tür­ki­schen Arbeit­ge­ber ange­wie­sen, der einen offi­zi­el­len Ver­trag anbie­tet und immer­hin den Min­dest­lohn zahlt. Die recht­lo­se Situa­ti­on vie­ler Syrer*innen wird in der Tür­kei aber häu­fig aus­ge­nutzt – sie wer­den aus­ge­beu­tet und ver­die­nen nur einen Bruch­teil von Ein­hei­mi­schen. „Alles ist bes­ser als die­se Per­spek­tiv­lo­sig­keit“, sagen vie­le der Men­schen, die in ihren not­dürf­ti­gen Behau­sun­gen sit­zen und von Euro­pa träumen.

Die Zustän­de, in denen die Men­schen außer­halb der offi­zi­el­len Camps – die nur unge­fähr 200.000 Flücht­lin­ge beher­ber­gen – leben müs­sen, sind oft erschre­ckend. „Die Men­schen haben sich in drei ehe­mals leer­ste­hen­den Wohn­blö­cken nie­der­ge­las­sen, ande­re woh­nen in selbst­ge­bau­ten Hüt­ten aus Plas­tik­pla­nen, aus jeder ragt immer­hin ein Ofen­rohr“, beschrei­ben Reporter*innen ein Camp in der Nähe von Izmir. Auch eine Bil­der­se­rie des Inde­pen­dent zeigt Vergleichbares.

Die Rea­li­tät zeigt: Die Tür­kei ist weit davon ent­fernt, ein siche­res Land für Flücht­lin­ge zu sein. Ange­sichts der dor­ti­gen Zustän­de und dem herr­schen­den Cha­os in Grie­chen­land muss die Euro­päi­sche Uni­on ihren Groß­ver­such auf dem Rücken der Schutz­su­chen­den schnellst­mög­lich beenden.