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Nichts sehen, nichts hören? Realität in Afghanistan endlich zur Kenntnis nehmen!
Die Abschiebungen nach Afghanistan gehen unbeirrt weiter, die Lage im Land ist jedoch unverändert gefährlich. Im Oktober steht nun turnusgemäß ein neuer Lagebericht des Auswärtigen Amts an. Er muss endlich die tatsächliche Situation abbilden!
Afghanistan ist das zweitunsicherste Land der Erde, folgt man dem Global Peace Index 2017. Nur Syrien wird als noch gefährlicher eingeschätzt. Die politisch Verantwortlichen in Deutschland hält das jedoch nicht davon ab, weiterhin Abschiebungen nach Afghanistan vorzunehmen – aktuell auf Basis einer unzureichenden Lageeinschätzung durch das Auswärtige Amt.
Der Bericht liefert kaum Informationen, ob und unter welchen Umständen Verfolgte in anderen Landesteilen Schutz finden könnten (»inländische Fluchtalternativen«). Genau davon geht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in seinen Ablehnungsbescheiden aber häufig aus. Selbst das Auswärtige Amt muss zugeben, dass Überlandstraßen von Taliban häufig blockiert werden und dass Aufständische in mehr Provinzen aktiv sind, als noch im letzten Jahr.
Wo sind die sicheren Gebiete?
Laut Afghanistan-Bericht des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) für den US-Kongress vom 30. Juli 2017 bleibt Afghanistan zwischen den afghanischen Streitkräften und den Taliban weiterhin stark umkämpft. Sechs Prozent weniger Distrikte sind unter Regierungskontrolle oder –einfluss als im gleichen Zeitraum im Jahr 2016, in rund 30 Prozent aller Distrikte geht der Kampf zwischen Aufständischen und Regierungskräften weiter, in über zehn Prozent haben die Taliban bereits die Vorherrschaft.
Der UN-Generalsekretär berichtete im September, dass dabei nicht nur bestimmte Teile des Landes betroffen sind, sondern nennt Beispiele von teils erfolgreichen Taliban-Angriffen im Westen, Norden, Osten, Nordosten und Süden Afghanistans, sowie auf die wichtige Strecke zwischen Kabul und Kandahar.
Rückkehrer in Lebensgefahr
Aber auch wer in den von der Regierung kontrollierten Gebieten lebt, ist nicht automatisch in Sicherheit. Neben den vielerorts stattfindenden Anschlägen, die häufig auch die Zivilbevölkerung treffen, belegt der aktuelle Folter-Bericht des afghanischen UNO-Programms UNAMA aus April 2017 zusätzlich, dass exzessive Gewalt auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten herrscht und auch diese Regionen regelmäßig nicht als sicher klassifiziert werden dürfen.
»Anders als es das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge behauptet, kann momentan keine Region in Afghanistan als sichere und zumutbare Schutzalternative eingestuft werden«
In diese Situation hinein werden unbeirrt weiter Menschen abgeschoben. Amnesty International hat nun einen ausführlichen Bericht veröffentlicht, in dem auch auf die persönliche Situation einiger Rückkehrer aus verschiedenen europäischen Staaten eingegangen wird. Die Erzählungen sind erschütternd. Uunter anderem wird der Fall einer afghanischen Mutter dokumentiert, deren Ehemann nur wenige Monate nach der Abschiebung der Familie aus Norwegen entführt und ermordet wurde.
Humanitäre Situation im Land verschlechtert sich weiter
Amnesty International schätzt zudem, dass die Zahl der Binnenvertriebenen innerhalb des Landes zum Ende des Jahres die zwei Millionen-Marke überschreiten könnte. Auch ihre Situation verschlimmert sich immer weiter. Neben der Tatsache, dass mittlerweile in fast allen Regionen des Landes Kämpfe stattfinden, wird auch die Versorgungslage in elementaren Bereichen immer schlechter.So mussten laut eines Berichts der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgrund der verschärften Sicherheitslage allein seit Jahresbeginn 164 Kliniken schließen. Für mehr als 3 Millionen Menschen wurde so der Zugang zur Gesundheitsversorgung erschwert.
Der neue Lagebericht muss Realität abbilden!
Im Oktober steht nun turnusgemäß ein neuer Lagebericht des Auswärtigen Amts an. Er muss endlich auf der Basis von aktuellen Informationen erstellt werden. Insbesondere eine Konkretisierung der angeblich vorhandenen »inländische Fluchtalternativen« ist dringend notwendig. Die europäischen Staaten agieren in dieser Frage uneinheitlich, wie auch Amnesty International feststellt gibt es allerdings keinen Landesteil, der nicht von den Kämpfen betroffen ist. Interessanterweise ist die Provinz Kabul – von der deutschen Regierung als unbedenklich eingestuft – aktuell die Region mit den meisten zivilen Todesopfern.
Erst vor kurzem wurde der Flughafen von Kabul Ziel eines Raketenangriffs, bei dem mehrere Menschen starben; der Angriff passierte unmittelbar nach der Landung des NATO-Generalsekretärs und des US-Verteidigungsministers bei ihrem Besuch Ende September. Am gleichen Flughafen landen Sammelabschiebeflieger aus Europa, mit denen Afghanen nach Kabul abgeschoben und unmittelbarer Lebensgefahr ausgesetzt werden.
Dass die Gewinnung von eigenen Erkenntnissen vor Ort durch die Schließung der deutschen Auslandsvertretungen nach Anschlägen schwierig ist, darf nicht dazu führen, dass afghanische Flüchtlinge in Deutschland unter ungenauen und fehlerhaften Prognosen leiden müssen. Mittlerweile sind eine Vielzahl von Berichten von internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und anderen Quellen veröffentlicht worden, die zu berücksichtigen wären und die geeignet sind, die Sicherheitslage auch unter Berücksichtigung regionaler Gesichtspunkte zu bewerten.
(mk / akr)