08.10.2013
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Kerzen vor dem EU-Parlament in Strasburg erinnern an die Katastrophe vor Lampedusa. Das Europaparlament gedachte den Opfern mit einer Schweigeminute. Foto: flickr / European Parliament

Nach der Katastrophe vor Lampedusa mit vermutlich weit über 200 Toten zeigen sich weite Teile der europäischen und der deutschen Öffentlichkeit geschockt, Forderungen nach einem Kurswechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik mehren sich.

Wäh­rend vor Lam­pe­du­sa die Ber­gung der Todes­op­fer der Kata­stro­phe vom Mor­gen des 3. Okto­ber noch immer andau­ert, wird in Deutsch­land und Euro­pa breit über die Flücht­lings­po­li­tik der EU und ihre töd­li­chen Fol­gen dis­ku­tiert. Auch beim der­zei­ti­gen EU-Innen­mi­nis­ter­tref­fen steht das The­ma der Agen­da. Doch Aus­sa­gen von Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Fried­rich las­sen befürch­ten, dass die EU-Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz auf das fort­ge­setz­te Ster­ben von Flücht­lin­gen an den Außen­gren­zen der EU kaum eine ange­mes­se­ne Ant­wort fin­den wird. Hans-Peter Fried­rich erteil­te For­de­run­gen nach grund­le­gen­den Ver­än­de­run­gen der EU-Asy­po­li­tik von vorn­her­ein eine Absa­ge und setzt dage­gen auf rhe­to­ri­sche Ablenkungsmanöver.

Nebel­ker­ze „Ent­wick­lungs­hil­fe“

So sprach sich Fried­rich vor dem Rats-Tref­fen für euro­pä­isch-afri­ka­ni­sche Wirt­schafts­ge­sprä­che aus. Es gehe dar­um, die Ent­wick­lung in den Her­kunfts­län­dern so zu ver­bes­sern, dass “die Men­schen schon kei­nen Grund haben, ihre Hei­mat zu ver­las­sen.“ Ange­sichts der Tat­sa­che, dass sich gegen­wär­tig vor allem Flücht­lin­ge aus Eri­trea, Soma­lia und Syri­en auf den gefähr­li­chen See­weg nach Euro­pa bege­ben, kommt Fried­richs Vor­schlag einer hart­nä­cki­gen Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung gleich. Soma­lia ist ein zer­fal­le­ner Staat, in dem War­lords herr­schen, in Eri­trea ist eine Mili­tär­dik­ta­tur an der Macht, in Syri­en tobt ein Bür­ger­krieg. Ent­wick­lungs­hil­fe und wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit kön­nen dort rea­lis­ti­scher­wei­se nichts zur Ver­bes­se­rung der Men­schen­rechts­la­ge beitragen.

Brei­te Debat­te um grund­le­gen­den Wan­del der EU-Flüchtlingspolitik 

Indes wird auch in der CDU kon­tro­vers über Euro­pas Flücht­lings­po­li­tik dis­ku­tiert. Der ehe­ma­li­ge Prä­si­dent des Euro­päi­schen Par­la­ments, Hans-Gert Pöt­te­ring (CDU),  rief zur Soli­da­ri­tät unter den EU-Län­dern im Umgang mit Flücht­lin­gen auf. „Wir sind eine Soli­dar­ge­mein­schaft. Wenn ein Mit­glieds­staat mit einem Pro­blem allein über­for­dert ist, dann muss die Soli­da­ri­tät der ande­ren Part­ner wirk­sam werden“.

Die stell­ver­tre­ten­de CDU-Vor­sit­zen­de Julia Klöck­ner wird zitiert, „das Dre­hen an ein­zel­nen Schrau­ben allein“ hel­fe nicht wei­ter. Sie for­der­te einen euro­päi­schen Flücht­lings­gip­fel. Was vor der ita­lie­ni­schen Mit­tel­meer­in­sel gesche­hen sei, beschä­me ganz Euro­pa. Auch CDU-Vize Tho­mas Strobl sag­te, eine neue euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik gehö­re „mit­tel­fris­tig auf die Agen­da“. Man dür­fe die Ita­lie­ner nicht mit dem Pro­blem allein lassen.

SPD for­dert gerech­te­re Auf­tei­lung der Ver­ant­wor­tung für Flüchtlinge

Auch in der SPD über Kon­se­quen­zen aus der Kata­stro­phe dis­ku­tiert.   EU-Par­la­ments­prä­si­dent Mar­tin Schulz (SPD) for­der­te die Bun­des­re­gie­rung zur Auf­nah­me zusätz­li­cher Flücht­lin­ge auf. „Es ist eine Schan­de, dass die EU Ita­li­en mit dem Flücht­lings­strom aus Afri­ka so lan­ge allein­ge­las­sen hat“, kri­ti­sier­te der SPD-Poli­ti­ker. Die Flücht­lin­ge müss­ten in Zukunft gerech­ter auf die EU-Mit­glied­staa­ten ver­teilt wer­den. Das hei­ße auch, dass Deutsch­land zusätz­li­che Men­schen auf­neh­men müs­se. Das The­ma müss­ten die EU-Staa­ten auf ihrem Gip­fel in Okto­ber in Brüs­sel beraten.

Auch der SPD-Vor­sit­zen­de Sig­mar Gabri­el sieht die ande­ren euro­päi­schen Staa­ten in der Pflicht, deut­lich mehr Migran­ten aus Afri­ka auf­zu­neh­men. „Was auf Lam­pe­du­sa pas­siert, ist eine gro­ße Schan­de für die Euro­päi­sche Uni­on“, sag­te er. „Wir müs­sen den rie­si­gen Strom von dort ankom­men­den Flücht­lin­gen gerech­ter in Euro­pa ver­tei­len und die Zustän­de für die Flücht­lin­ge und für die Insel­be­woh­ner vor Ort ver­bes­sern.“ Deutsch­land müs­se sich ent­schie­den dafür ein­set­zen, das Flücht­lings­elend auf Lam­pe­du­sa zu mildern.

EU-Kom­mis­si­on kri­ti­siert ego­is­ti­sche Migra­ti­ons­po­li­tik der Mitgliedstaaten

Sei­tens der EU-Kom­mis­si­on beton­te Miche­le Cer­co­ne, Spre­cher von Innen­kom­mis­sa­rin Ceci­lia Malm­ström, es brau­che auf EU-Ebe­ne eine neue Her­an­ge­hens­wei­se. Die der­zei­ti­ge Migra­ti­ons­po­li­tik sei unein­heit­lich und an den Eigen­in­ter­es­sen der jewei­li­gen Mit­glied­staa­ten ori­en­tiert, kri­ti­sier­te er. Dabei wer­de Migra­ti­on als Bedro­hung und nicht als Chan­ce wahr­ge­nom­men. Die Kom­mis­si­on wol­le Wege lega­ler Migra­ti­on eröff­nen und die Ver­ant­wor­tung für den Flücht­lings­schutz unter allen 28 Mit­glie­dern der Staa­ten­ge­mein­schaft auf­tei­len. Die EU-Kom­mis­sa­rin für huma­ni­tä­re Hil­fe, Kris­tali­na Geor­gie­va, ver­langt bes­se­re Zugangs­mög­lich­kei­ten für Flücht­lin­ge in die Euro­päi­sche Uni­on. „Wir Euro­pä­er müs­sen nicht nur die Her­zen und die Geld­beu­tel offen hal­ten, son­dern auch unse­re Gren­zen“, sag­te Geor­gie­va der „Welt“.

Debat­te in Ita­li­en: Ret­ter und Geret­te­te entkriminalisieren

Indes zeigt die Dis­kus­si­on in Ita­li­en kon­kre­te Mög­lich­kei­ten auf, die die Kata­stro­phe vom 3. Okto­ber mit weit über 200 Toten hät­ten ver­hin­dern kön­nen. Lam­pe­du­sas Bür­ger­meits­er­in Gui­si Nico­li­ni wies dar­auf hin, dass schon drei Fischer­boo­te an den Schiff­brü­chi­gen vor­bei­ge­fah­ren sei­en, bevor die­se ver­zwei­felt ver­such­ten, durch das Ent­zün­den einer Decke auf sich auf­merk­sam zu machen. „Ich muss dar­an erin­nern, dass die Gesetz­ge­bung der letz­ten Jah­re, dazu geführt hat, dass auch Ree­der oder Fischer vor Gericht gekom­men sind, die Men­schen­le­ben geret­tet haben – wegen Bei­hil­fe. Wir haben unmensch­li­che Geset­ze“, so Bür­ger­meis­te­rin Nico­li­ni. In Ita­li­en gibt es den Straf­tat­be­stand der Bei­hil­fe zur ille­ga­len Ein­wan­de­rung, der Fischer und ande­re poten­ti­el­le Ret­ter immer wie­der dazu bringt, Schiff­brü­chi­ge zu ignorieren.

Auch Ita­li­ens Staats­prä­si­dent Gior­gio Napo­li­ta­no for­der­te die Poli­tik ges­tern auf, Geset­ze, die eine men­schen­wür­di­ge Behand­lung von Flücht­lin­gen ver­hin­der­ten, zu ändern.  Unter ande­ren for­der­te auch Senats­prä­si­dent Pie­tro Gras­so, die soge­nann­ten Bos­si-Fini-Geset­ze, die Flücht­lin­ge und deren Ret­ter kri­mi­na­li­sie­ren, zu über­prü­fen, was Ita­li­ens Innen­mi­nis­ter Ange­li­no Alfa­no bis­lang ablehnt. Inte­gra­ti­ons­mi­nis­te­rin Ceci­le Kyen­ge for­der­te, Euro­pa müs­se Flücht­lin­gen die siche­re Ein­rei­se ermög­li­chen. „Wir for­dern mit Nach­druck ein gemein­sa­mes Han­deln – auch gemein­sam mit der EU. Wir brau­chen huma­ni­tä­re Kor­ri­do­re, die die Fahr­ten siche­rer machen.“

For­de­run­gen von PRO ASYL

Neben der Abschaf­fung der Kri­mi­na­li­sie­rung von poten­ti­el­len Ret­tern for­dert PRO ASYL in einer Pres­se­er­klä­rung ein deut­li­ches Signal zur Abkehr von der Abschot­tungs­po­li­tik –  auch aus Deutsch­land. Ob wei­ter­hin jedes Jahr Hun­der­te Flücht­lin­ge an den Außen­gren­zen Euro­pas ster­ben, liegt in der Macht der EU. Die Orga­ne der Euro­päi­schen Uni­on und ihre Mit­glied­staa­ten kön­nen fol­gen­de Maß­nah­men ergreifen:

Euro­pa muss gefah­ren­freie Wege für Flücht­lin­ge eröff­nen. Dies kann durch ein ver­än­der­tes Visare­gime gesche­hen, das Schutz­su­chen­den die lega­le Ein­rei­se ermög­licht. Gegen­wär­tig gibt es zum Bei­spiel immer noch kei­ne unbü­ro­kra­ti­schen Mög­lich­kei­ten für Flücht­lin­ge, die Ange­hö­ri­ge in Deutsch­land oder ande­ren EU-Staa­ten haben, legal in die EU ein­zu­rei­sen. Zudem kann Euro­pa durch die pro­ak­ti­ve Auf­nah­me von Flücht­lin­gen im Resett­le­ment-Ver­fah­ren Flücht­lin­gen die gefähr­li­che Über­fahrt ersparen.

Euro­pa muss die See­not­ret­tung ver­bes­sern. Die euro­päi­sche Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex und auch die geplan­te Euro­sur-Rege­lung haben das pri­mä­re Ziel, angeb­lich „ille­ga­le Ein­rei­sen“ zu ver­hin­dern. Obwohl bereits zahl­rei­che tech­ni­sche Sys­te­me zur Ortung von Flücht­lings­boo­ten im Ein­satz sind, hat die EU immer noch kein funk­tio­nie­ren­des See­not­ret­tungs­sys­tem. Bei allen Maß­nah­men der EU, die die Außen­gren­zen betref­fen, müs­sen die Ret­tung von Men­schen­le­ben und der Flücht­lings­schutz aller­ers­te Prio­ri­tät erhalten.

Das EU-Asyl­zu­stän­dig­keits­sys­tem muss ver­än­dert wer­den. Die soge­nann­te Dub­lin-Ver­ord­nung sieht bis­lang vor, dass der­je­ni­ge EU-Staat für ein Asyl­ge­such zustän­dig ist,  über den der Asyl­su­chen­de in die EU ein­ge­reist ist. Dadurch wird die Haupt­ver­ant­wor­tung für den Flücht­lings­schutz auf die EU-Rand­staa­ten abge­scho­ben.  EU-Rand­staa­ten wie Mal­ta, Grie­chen­land oder Ita­li­en reagie­ren dar­auf mit einer Stra­te­gie der Abschre­ckung. Die Ver­wei­ge­rung von See­not­ret­tung, ille­ga­le Push-Back-Ope­ra­tio­nen, die Inhaf­tie­rung von Asyl­su­chen­den, men­schen­un­wür­di­ge Auf­nah­me­be­din­gun­gen und unfai­re Asyl­ver­fah­ren sind Teil die­ser Pra­xis. So sehr die­se Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen auf das Kon­to der jewei­li­gen Natio­nal­staa­ten gehen, sind sie Fol­ge des unso­li­da­ri­schen Dub­lin-Sys­tems. Die Staa­ten im Zen­trum der Uni­on, die am Dub­lin-Sys­tem fest­hal­ten, sind daher für die­se sys­te­ma­ti­schen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen mit­ver­ant­wort­lich. Sie müs­sen ihren Wider­stand gegen eine grund­le­gen­de Ver­än­de­rung der Asyl­zu­stän­dig­keits­re­ge­lung, die die Bedürf­nis­se der Schutz­su­chen­den in den Mit­tel­punkt stellt, end­lich auf­ge­ben. Die EU muss Ver­stö­ße gegen die Men­schen- und Flücht­lings­rech­te in all ihren Mit­glied­staa­ten kon­se­quent unterbinden.

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