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Mehr zivile Opfer, mehr Vertriebene: Afghanistan wird immer unsicherer
Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich im vergangenen Jahr nochmal verschlechtert, so der Jahresbericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA). Mit 11.418 zivilen Opfern der Kampfhandlungen ist ein trauriger Rekordwert erreicht. Erneut zeigt sich, wie unverantwortlich der Beginn von Abschiebungen nach Afghanistan ist.
3.498 Tote, 7.920 Verletzte – insgesamt 11.418 Opfer hat die UNAMA in ihrem Jahresbericht für 2016 dokumentiert. Die Zahl liegt damit noch einmal drei Prozent höher als im vergangenen Jahr und stellt den höchsten Wert dar, seit UNAMA 2009 mit der Dokumentation begonnen hat. Die erfasste Gesamtzahl der zivilen Opfer im Afghanistan-Konflikt seit 2009 liegt damit bei über 70.000 – davon fast 25.000 Todesopfer.
Männer, Frauen, Kinder: Alle sind betroffen
Knapp ein Drittel der zivilen Opfer im Jahr 2016 waren Kinder (3.512) – die Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr um 24 Prozent, und damit besonders stark, gestiegen. 923 Kinder sind dabei sogar gestorben, viele von ihnen durch »explosive Munitionsrückstände« wie z. B. Minen. Auch die Zahl der Frauen, die Opfer der Kampfhandlungen werden, bleibt hoch (1.218), sie haben zudem weiterhin besonders unter dem religiösen Fundamentalismus der Taliban zu leiden.
Tatsächliche Zahl der Opfer könnte noch viel höher liegen
Die von UNAMA erhobenen und veröffentlichten Zahlen zeigen die bedenkliche Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan klar auf – die tatsächliche Anzahl an zivilen Opfern könnte aber noch deutlich nach oben abweichen: Damit ein Opfer in die Statistik einfließt, setzt UNAMA voraus, dass das Ereignis aus drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt wird – in umkämpften oder von Milizen kontrollierten Gebieten kaum möglich.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, ihre Politik an der tatsächlichen Realität auszurichten – und die zeigt schlichtweg: Afghanistan ist nicht sicher.
Einen Eindruck, wie viel höher die wirkliche Anzahl an zivilen Opfern liegen könnte, liefert zum Beispiel der Report eines einzelnen Notfallkrankenhauses in Kabul, in dem alleine von Januar bis Juni 2016 1.592 Anschlagsopfer behandelt wurden. UNAMA zählte für das gesamte Land in diesem Zeitraum 5.166 zivile Opfer.
Konflikte und Opfer im ganzen Land
In fünf von acht Regionen Afghanistans hat die Zahl der zivilen Opfer zugenommen, sie ist landesweit auf sehr hohem Niveau. Signifikant ist dabei z. B. der Anstieg in der Region Zentralafghanistan. Dort liegt auch die Hauptstadt Kabul, die zunehmend von Anschlägen erschüttert wird.
Lediglich in der Region »Central Highlands«, die die Provinzen Bamiyan und Daikundi umfasst, ist die Zahl der zivilen Opfer in absoluten Zahlen vergleichsweise gering – das hängt aber auch mit der geringen Fläche und Einwohner*innenzahl zusammen: Nur rund 900.000 der über 33 Millionen Einwohner*innen Afghanistans leben in diesen zwei Provinzen. Auch dort ist die Zahl der zivilen Opfer aber gestiegen, sie hat sich im Vergleich zu 2015 nahezu verdoppelt (98 Prozent Zuwachs).
Zehnmal so viele IS-Opfer wie 2015
Verursacher der zivilen Opfer sind mehrheitlich »Anti-Government Elements«, wie die radikalislamischen Taliban. Aber auch der sogenannte »Islamische Staat« operiert mittlerweile in einigen Regionen Afghanistans und gewinnt immer mehr an Boden. Er war für 899 der zivilen Opfer verantwortlich, das sind mehr als zehnmal so viele wie noch im Jahr 2015. Betroffen von den IS-Angriffen sind vor allem religiöse Minderheiten wie Schiit*innen.
1,8 Millionen Binnenvertriebene in Afghanistan
Ebenfalls auf Rekordniveau ist die Zahl der neuen Binnenvertriebenen: 636.500 Menschen mussten durch die Kampfhandlungen aus ihrer Heimat fliehen und befinden sich nun innerhalb des Landes auf der Flucht. Das sind noch einmal 66 Prozent mehr als bereits 2015. Über die Hälfte der im Jahr 2016 neu Vertriebenen sind dabei Kinder. Betroffen sind fast alle der 34 afghanischen Provinzen.
Seit vier Jahren steigt die Zahl der Binnenvertriebenen kontinuierlich an und umfasst mittlerweile über 5 Prozent der afghanischen Gesamtbevölkerung, denn Ende 2015 zählte UNAMA bereits 1,17 Millionen. Die Gesamtzahl dürfte damit nun also bei über 1,7 Millionen Binnenvertriebenen liegen. Und: Dazu kommen noch Millionen afghanische Flüchtlinge, die in den Nachbarländern Pakistan und Iran leben.
Abschiebungen nach Afghanistan: Nicht mit Fakten begründbar
Vor diesem Hintergrund ist es absurd, dass Deutschland im Dezember damit begonnen hat, Menschen nach Afghanistan abzuschieben. Diese Politik fußt ganz offensichtlich nicht auf Fakten, sondern vielmehr auf dem Kalkül, im Hinblick auf die Bundestagswahl demonstrativ Härte gegen Flüchtlinge zu zeigen und zu rechtspopulistischen Parteien abgewanderte Wähler*innen zurückzugewinnen.
Leidtragende dieser Wende in der Flüchtlingspolitik sind Menschen, die nun nach Jahren des Lebens in Deutschland in ein völlig unsicheres Afghanistan zurückgeschickt werden. Einige Bundesländer, wie Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Bremen und Niedersachsen, haben angesichts der Situation in Afghanistan bereits erklärt, keine Abschiebungen vorzunehmen zu wollen, seitens des Bundes wird aber beharrlich Druck auf die Länder ausgeübt, konsequenter abzuschieben.
Gerade in Zeiten, in denen anderswo mit »alternativen Fakten« gefährliche Stimmungen geschürt werden, wäre die Bundesregierung jedoch gut beraten, ihre Politik an der tatsächlichen Realität auszurichten – und die zeigt schlichtweg: Afghanistan ist nicht sicher.