10.12.2024
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Foto: Verlassenes Boot auf dem Mittelmeer, Leonard Müller/ Sea-Eye

Ein Boot in Seenot, eine Grenzschutzagentur, die nicht handelt und zwei EU-Staaten, die sich weigern zu retten. Am Ende stirbt ein dreijähriges Mädchen und eine schwangere Frau verliert ihr Baby. Bei weitem kein Einzelfall an den europäischen Grenzen. Die PRO ASYL Partnerorganisation aditus foundation verklagt nun die maltesischen Behörden.

Der Weg nach Euro­pa beginnt für die drei­jäh­ri­ge Lou­jin und ihre Fami­lie mit der Flucht aus Syri­en. Mit ihrer Mut­ter und ihrer ein­jäh­ri­gen Schwes­ter muss­te sie vor dem Krieg flie­hen. Gemein­sam mit etwa 60 Syrier*innen, Palästinser*innen und dem Libanes*innen bestie­gen sie Ende August 2022 ein Boot an der liba­ne­si­schen Küs­te, um die gefähr­li­che Rou­te über das Mit­tel­meer nach Euro­pa anzu­tre­ten. Nach Tagen auf See geht ihnen die Nah­rung und das Was­ser aus, das Boot ist undicht, Was­ser dringt ein. Sie sen­den Not­ru­fe. Auch die Initia­ti­ve Alarm Pho­ne wird aktiv und infor­miert die Küs­ten­wa­chen und FRONTEX – doch nie­mand rettet.

Zu ihrem Unglück befin­den sich die Schutz­su­chen­den zu die­sem Zeit­punkt am Rand der mal­te­si­schen See­not­ret­tungs­zo­ne (SAR), nahe der Gren­ze zur grie­chi­schen SAR-Zone. Tage­lang treibt das Boot in der mal­te­si­schen Ret­tungs­zo­ne umher, ohne, dass die mal­te­si­schen Behör­den aktiv wer­den. Auch die grie­chi­schen Behör­den grei­fen nicht ein. Einer Akti­vis­tin schrei­ben die Men­schen auf dem Boot: »Das Boot ist kurz davor, zu sin­ken. Möge Gott uns hel­fen« und »Bit­te beeilt euch«. Doch als end­lich Ret­tung ein­trifft, ist bereits zu viel Zeit vergangen.

Erst nach fast drei Tagen wer­den die Schutz­su­chen­den geret­tet. Ein Hub­schrau­ber fliegt die drei­jäh­ri­ge Lou­jin in ein Kran­ken­haus nach Kre­ta, doch dort kann man nichts mehr für sie tun. Das Mäd­chen stirbt an Dehy­drie­rung – eine Fol­ge der unter­las­se­nen Hil­fe­leis­tung Mal­tas und Grie­chen­land. Ihre letz­ten Wor­te: »Mama, ich habe Durst.« Auch für das unge­bo­re­ne Kind einer Schwan­ge­ren kommt die Hil­fe zu spät.

»Sterben lassen« ist traurige Tradition

Der tra­gi­sche Tod von Lou­jin ist kein Ein­zel­fall. Seit über 10 Jah­ren berich­tet PRO ASYL bereits über left-to-die Fäl­le, also das Ster­ben­las­sen, das im Mit­tel­meer trau­ri­ger All­tag ist. Die Küs­ten­wa­chen vie­ler Mit­tel­meer­staa­ten igno­rie­ren die Not­ru­fe Geflüch­te­ter oder schie­ben solan­ge die Ver­ant­wor­tung hin und her, bis es zu spät ist. Auch beim Schiffs­un­glück vor der grie­chi­schen Küs­ten­stadt Pylos, bei dem über 600 Men­schen ertran­ken, schei­nen die grie­chi­schen Behör­den zunächst ver­sucht zu haben, die Not­ru­fe zu igno­rie­ren. Über 15 Stun­den lang wur­de kei­ne Ret­tung eingeleitet.

Über 24.600

Men­schen wur­den im Jahr 2022 zwangs­wei­se nach Liby­en zurückgeschleppt!

Malta: Über 20.000 Menschen in Not ignoriert 

In Mal­ta, das für die Ret­tung von Lou­jin und ihrer Fami­lie zustän­dig gewe­sen wäre, sin­ken seit Jah­ren die Zah­len der ankom­men­den Flücht­lin­ge. Nur 380 Men­schen erreich­ten ver­gan­ge­nes Jahr über­haupt die Ita­li­en vor­ge­la­ger­te Insel.

Die­ser Rück­gang ist die Fol­ge einer restrik­ti­ven Abschot­tungs­po­li­tik der mal­te­si­schen Regie­rung: Not­ru­fe wer­den sys­te­ma­tisch igno­riert, Han­dels­schif­fe davon abge­hal­ten, Men­schen zu ret­ten und die Koor­di­na­ti­on von Ret­tungs­ein­sät­zen ver­wei­gert. Nach Anga­ben der PRO ASYL Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on adit­us foun­da­ti­on hat Mal­ta 2022 über 20.000 Men­schen in Not ignoriert.

Die inhu­ma­ne Poli­tik Mal­tas geht aber noch dar­über hin­aus. Neben der left-to-die Pra­xis sind völ­ker­rechts­wid­ri­ge Pull-backs das Mit­tel der Wahl. Mal­ta arbei­tet dabei mit der soge­nann­ten liby­schen Küs­ten­wa­che zusam­men. Mili­zen, die Geflüch­te­te davon abhal­ten, mit Boo­ten aus Liby­en zu flie­hen oder gestar­te­te Boo­te wie­der zurückzwingen.

Die PRO ASYL Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Bor­der Foren­sics hat gemein­sam mit Human Rights Watch nach­ge­wie­sen, dass Fron­tex aus Mal­ta mit Hil­fe von Droh­nen die nord­afri­ka­ni­sche Küs­te beob­ach­tet und die Posi­tio­nen von Flücht­lings­boo­ten an die liby­sche Küs­ten­wa­che wei­ter­gibt , die anschlie­ßend Pull-backs dur­füh­ren. Zum Teil weist Mal­ta auch pri­va­te Schif­fe an, Schutz­su­chen­de zwangs­wei­se nach Liby­en zu brin­gen. In Liby­en wer­den die Men­schen in Lager gebracht, dort droht ihnen Ver­skla­vung, Fol­ter und Ver­ge­wal­ti­gung. Im Jahr 2022 sind laut adit­us über 24.600 Men­schen zwangs­wei­se nach Liby­en zurück­ge­schleppt wor­den, und auch 2023 und 2024 setz­te sich die­se Pra­xis sich fort.

Die zen­tra­le Mit­tel­meer­rou­te gilt als die gefähr­lichs­te Flucht­rou­te der Welt: Seit 2014 sind über 24.000 Men­schen ertrun­ken, oder gel­ten als ver­misst – die Dun­kel­zif­fer dürf­te um eini­ges höher sein.

»Die Familie verdient Gerechtigkeit«

Die adit­us foun­da­ti­on hat gemein­sam mit Lou­ji­ns Fami­lie Kla­ge gegen Mal­ta vor Gericht ein­ge­reicht. Gleich­zei­tig wer­den Lou­ji­ns Eltern von PRO ASYL unterstützt.

»Wir ver­tre­ten Lou­ji­ns Fami­lie, nicht nur, weil die Fami­lie Gerech­tig­keit ver­dient, son­dern auch, weil wir der mal­te­si­schen Regie­rung zei­gen wol­len: Ihr seid mora­lisch und juris­tisch dazu ver­pflich­tet, Men­schen zu ret­ten. Ihr könnt sie nicht ein­fach ster­ben las­sen!« sagt Neil Fal­zon, Grün­der der adit­us foun­da­ti­on und Trä­ger des PRO ASYL Menschenrechtspreises.

Die adit­us foun­da­ti­on setzt sich mit einem Team aus über­wie­gend Anwält*innen seit 2011 für den effek­ti­ven Zugang zu Asyl­ver­fah­ren, den Schutz vor will­kür­li­cher Inhaf­tie­rung und ein men­schen­wür­di­ges Auf­nah­me­sys­tem für Geflüch­te­te ein. Trotz erheb­li­cher staat­li­cher Ein­schrän­kun­gen besu­chen Mitarbeiter*innen der adit­us foun­da­ti­on, über­wie­gend Anwält*innen, regel­mä­ßig inhaf­tier­te Schutz­su­chen­de. Sie ste­hen den Betrof­fe­nen mit juris­ti­scher Exper­ti­se und per­sön­li­chem Bei­stand zur Sei­te und kämp­fen vor (inter)nationalen Gerich­ten uner­müd­lich für Auf­klä­rung und Gerechtigkeit.

(jo)