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»Mama, ich habe Durst!«
Ein Boot in Seenot, eine Grenzschutzagentur, die nicht handelt und zwei EU-Staaten, die sich weigern zu retten. Am Ende stirbt ein dreijähriges Mädchen und eine schwangere Frau verliert ihr Baby. Bei weitem kein Einzelfall an den europäischen Grenzen. Die PRO ASYL Partnerorganisation aditus foundation verklagt nun die maltesischen Behörden.
Der Weg nach Europa beginnt für die dreijährige Loujin und ihre Familie mit der Flucht aus Syrien. Mit ihrer Mutter und ihrer einjährigen Schwester musste sie vor dem Krieg fliehen. Gemeinsam mit etwa 60 Syrier*innen, Palästinser*innen und dem Libanes*innen bestiegen sie Ende August 2022 ein Boot an der libanesischen Küste, um die gefährliche Route über das Mittelmeer nach Europa anzutreten. Nach Tagen auf See geht ihnen die Nahrung und das Wasser aus, das Boot ist undicht, Wasser dringt ein. Sie senden Notrufe. Auch die Initiative Alarm Phone wird aktiv und informiert die Küstenwachen und FRONTEX – doch niemand rettet.
Zu ihrem Unglück befinden sich die Schutzsuchenden zu diesem Zeitpunkt am Rand der maltesischen Seenotrettungszone (SAR), nahe der Grenze zur griechischen SAR-Zone. Tagelang treibt das Boot in der maltesischen Rettungszone umher, ohne, dass die maltesischen Behörden aktiv werden. Auch die griechischen Behörden greifen nicht ein. Einer Aktivistin schreiben die Menschen auf dem Boot: »Das Boot ist kurz davor, zu sinken. Möge Gott uns helfen« und »Bitte beeilt euch«. Doch als endlich Rettung eintrifft, ist bereits zu viel Zeit vergangen.
Erst nach fast drei Tagen werden die Schutzsuchenden gerettet. Ein Hubschrauber fliegt die dreijährige Loujin in ein Krankenhaus nach Kreta, doch dort kann man nichts mehr für sie tun. Das Mädchen stirbt an Dehydrierung – eine Folge der unterlassenen Hilfeleistung Maltas und Griechenland. Ihre letzten Worte: »Mama, ich habe Durst.« Auch für das ungeborene Kind einer Schwangeren kommt die Hilfe zu spät.
»Sterben lassen« ist traurige Tradition
Der tragische Tod von Loujin ist kein Einzelfall. Seit über 10 Jahren berichtet PRO ASYL bereits über left-to-die Fälle, also das Sterbenlassen, das im Mittelmeer trauriger Alltag ist. Die Küstenwachen vieler Mittelmeerstaaten ignorieren die Notrufe Geflüchteter oder schieben solange die Verantwortung hin und her, bis es zu spät ist. Auch beim Schiffsunglück vor der griechischen Küstenstadt Pylos, bei dem über 600 Menschen ertranken, scheinen die griechischen Behörden zunächst versucht zu haben, die Notrufe zu ignorieren. Über 15 Stunden lang wurde keine Rettung eingeleitet.
Malta: Über 20.000 Menschen in Not ignoriert
In Malta, das für die Rettung von Loujin und ihrer Familie zuständig gewesen wäre, sinken seit Jahren die Zahlen der ankommenden Flüchtlinge. Nur 380 Menschen erreichten vergangenes Jahr überhaupt die Italien vorgelagerte Insel.
Dieser Rückgang ist die Folge einer restriktiven Abschottungspolitik der maltesischen Regierung: Notrufe werden systematisch ignoriert, Handelsschiffe davon abgehalten, Menschen zu retten und die Koordination von Rettungseinsätzen verweigert. Nach Angaben der PRO ASYL Partnerorganisation aditus foundation hat Malta 2022 über 20.000 Menschen in Not ignoriert.
Die inhumane Politik Maltas geht aber noch darüber hinaus. Neben der left-to-die Praxis sind völkerrechtswidrige Pull-backs das Mittel der Wahl. Malta arbeitet dabei mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen. Milizen, die Geflüchtete davon abhalten, mit Booten aus Libyen zu fliehen oder gestartete Boote wieder zurückzwingen.
Die PRO ASYL Partnerorganisation Border Forensics hat gemeinsam mit Human Rights Watch nachgewiesen, dass Frontex aus Malta mit Hilfe von Drohnen die nordafrikanische Küste beobachtet und die Positionen von Flüchtlingsbooten an die libysche Küstenwache weitergibt , die anschließend Pull-backs durführen. Zum Teil weist Malta auch private Schiffe an, Schutzsuchende zwangsweise nach Libyen zu bringen. In Libyen werden die Menschen in Lager gebracht, dort droht ihnen Versklavung, Folter und Vergewaltigung. Im Jahr 2022 sind laut aditus über 24.600 Menschen zwangsweise nach Libyen zurückgeschleppt worden, und auch 2023 und 2024 setzte sich diese Praxis sich fort.
Die zentrale Mittelmeerroute gilt als die gefährlichste Fluchtroute der Welt: Seit 2014 sind über 24.000 Menschen ertrunken, oder gelten als vermisst – die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein.
»Die Familie verdient Gerechtigkeit«
Die aditus foundation hat gemeinsam mit Loujins Familie Klage gegen Malta vor Gericht eingereicht. Gleichzeitig werden Loujins Eltern von PRO ASYL unterstützt.
»Wir vertreten Loujins Familie, nicht nur, weil die Familie Gerechtigkeit verdient, sondern auch, weil wir der maltesischen Regierung zeigen wollen: Ihr seid moralisch und juristisch dazu verpflichtet, Menschen zu retten. Ihr könnt sie nicht einfach sterben lassen!« sagt Neil Falzon, Gründer der aditus foundation und Träger des PRO ASYL Menschenrechtspreises.
Die aditus foundation setzt sich mit einem Team aus überwiegend Anwält*innen seit 2011 für den effektiven Zugang zu Asylverfahren, den Schutz vor willkürlicher Inhaftierung und ein menschenwürdiges Aufnahmesystem für Geflüchtete ein. Trotz erheblicher staatlicher Einschränkungen besuchen Mitarbeiter*innen der aditus foundation, überwiegend Anwält*innen, regelmäßig inhaftierte Schutzsuchende. Sie stehen den Betroffenen mit juristischer Expertise und persönlichem Beistand zur Seite und kämpfen vor (inter)nationalen Gerichten unermüdlich für Aufklärung und Gerechtigkeit.
(jo)