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Augen zu und Menschenrechte ignorieren - für dieses Vorgehen hat Innenminister Seehofer jetzt eine »Watschn« vom VG München kassiert. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Annegret Hilse

In einer Kammerentscheidung hat das VG München angeordnet, einen nach Griechenland abgeschobenen Schutzsuchenden umgehend nach Deutschland zurückzuholen. Ein Urteil von grundsätzlicher Bedeutung. Seehofers Flüchtlingsdeal mit Griechenland erfährt eine klare Absage.

Der Fall zeigt exem­pla­risch, wie staat­li­che Deals den Flücht­lings­schutz in Euro­pa unter­gra­ben: Ein jun­ger Schutz­su­chen­der, im syri­schen Bür­ger­krieg bei einem Luft­an­griff ver­letzt, flieht über die Tür­kei nach Grie­chen­land. Er stellt dort 2019 einen Asyl­an­trag. Auf­grund des EU-Tür­kei-Deals wird sein Asyl­an­trag von den grie­chi­schen Behör­den inhalt­lich nicht geprüft, son­dern als unzu­läs­sig abge­lehnt – ihm droht die Abschie­bung in die Tür­kei. Auf der Suche nach Schutz und einem fai­ren Ver­fah­ren flieht er im August 2020 wei­ter nach Deutsch­land. Als er von der Bun­des­po­li­zei an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze aus dem Zug gezo­gen wird, äußert er sei­nen Wunsch, einen Asyl­an­trag zu stellen.

Recht­lich ist die Sache glas­klar: In einem sol­chen Fall muss die Bun­des­po­li­zei das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF), das in Deutsch­land für die Durch­füh­rung von Asyl­ver­fah­ren zustän­dig ist, über das Asyl­ge­such infor­mie­ren. Das BAMF prüft anhand der, auch für deut­sche Behör­den ver­bind­lich gel­ten­den, Dub­lin-III-Ver­ord­nung, wie es mit dem Antrag­stel­ler wei­ter­geht. Ent­schei­dun­gen vom BAMF kön­nen Betrof­fe­ne zumin­dest im Eil­ver­fah­ren gericht­lich über­prü­fen lassen.

Statt­des­sen schafft die Bun­des­po­li­zei Fak­ten: Der Asyl­su­chen­de wird am nächs­ten Tag zum Flug­ha­fen gebracht und unmit­tel­bar nach Grie­chen­land abge­scho­ben. Kei­ne 32 Stun­den nach dem Auf­griff durch die Bun­des­po­li­zei an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze lan­det er in Athen. Zugang zu Rechts­be­ra­tung oder die Mög­lich­keit, sich gericht­lich gegen sei­ne Abschie­bung zu weh­ren, hat­te er in Bay­ern nicht.

Abschiebung im Schnellverfahren: Horst Seehofer und sein Deal 

Die Bun­des­po­li­zei beruft sich bei ihrem Vor­ge­hen auf einen Deal, den Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer 2018 mit der grie­chi­schen Regie­rung abge­schlos­sen hat. Vor­aus­ge­gan­gen war ein wochen­lan­ger Streit in der deut­schen Regie­rung, den See­ho­fer wegen Zurück­wei­sun­gen an der Gren­ze vom Zaun gebro­chen und dabei fast die Regie­rungs­ko­ali­ti­on gesprengt hatte.

Die­se als »See­ho­fer-Deal« bekannt gewor­de­ne gemein­sa­me Absichts­er­klä­rung zwi­schen Deutsch­land und Grie­chen­land sieht vor, dass Deutsch­land Schutz­su­chen­de, die vor­her in Grie­chen­land einen Asyl­an­trag gestellt haben und über den Land­weg aus Öster­reich kom­mend nach Deutsch­land ein­rei­sen, inner­halb von 48 Stun­den direkt nach Grie­chen­land abschie­ben kann. Als Gegen­leis­tung dafür ver­sprach Deutsch­land der grie­chi­schen Regie­rung, den Fami­li­en­nach­zug im Rah­men der Dub­lin-III-Ver­ord­nung nicht wei­ter zu ver­zö­gern. Ein zyni­scher Deal in mehr­fa­cher Hinsicht.

Auch wenn sich eine Per­son fak­tisch längst auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um befin­det, wird ein­fach so getan, als sei die Per­son noch nicht eingereist.

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Men­schen wur­den auf Grund­la­ge des rechts­wid­ri­gen See­ho­fer-Deals abgeschoben.

Um Schutz­su­chen­de post­wen­dend nach Grie­chen­land zurück­schi­cken zu kön­nen, ver­sucht das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um durch einen juris­ti­schen Trick, die soge­nann­te »Fik­ti­on der Nicht­ein­rei­se«, die ver­bind­li­chen Vor­ga­ben und Ver­fah­rens­ga­ran­tien der Dub­lin-III-Ver­ord­nung zu umge­hen: Auch wenn sich eine Per­son fak­tisch längst auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um befin­det, wird ein­fach so getan, als sei die Per­son noch nicht ein­ge­reist. Dass ein sol­ches Ver­fah­ren außer­halb gel­ten­den Rechts steht und der See­ho­fer-Deal damit schlicht rechts­wid­rig ist, bestä­tig­te bereits im Dezem­ber 2018 ein von PRO ASYL in Auf­trag gege­be­nes Gut­ach­ten von Prof. Dr. Anna Lüb­be.

Zwi­schen August 2018 und Mai 2021 wur­den den­noch ins­ge­samt 46 Men­schen auf Grund­la­ge des See­ho­fer-Deals nach Grie­chen­land abge­scho­ben, dar­un­ter auch Fami­li­en mit min­der­jäh­ri­gen Kin­dern (sie­he Ant­wort auf schrift­li­che Fra­ge im Bun­des­tag).

Inhaftierung in Griechenland, drohende Abschiebung in die Türkei

Im aktu­el­len Fall wird der jun­ge Schutz­su­chen­de aus Syri­en nach sei­ner Ankunft in Athen in Abschie­bungs­haft genom­men. Ihm droht die Abschie­bung in die Tür­kei. Durch Zufall erfährt die grie­chi­sche Orga­ni­sa­ti­on Greek Coun­cil for Refu­gees (GCR) von ihm und über­nimmt sei­ne recht­li­che Ver­tre­tung. Einer Anwäl­tin vom GCR gelingt es schließ­lich, ihn im Sep­tem­ber 2020 aus der Haft zu holen. Seit­dem lebt er obdach­los in Athen.

In Deutsch­land über­nimmt PRO ASYL den Fall und schal­tet den Ber­li­ner Rechts­an­walt Mat­thi­as Leh­nert ein. Die­ser klagt gegen die erfolg­te Abschie­bung nach Athen.

Am 4. Mai 2021 dann end­lich die erlö­sen­de Nach­richt: Die Abschie­bung durch die Bun­des­po­li­zei wird vom Ver­wal­tungs­ge­richt Mün­chen als »ein­deu­tig rechts­wid­rig« ein­ge­stuft (VG Mün­chen, Beschluss vom 4. Mai 2021, M 22 E 21.30294). Die Bun­des­po­li­zei wird vom Gericht ver­pflich­tet, die »umge­hen­de Rück­ho­lung des Antrag­stel­lers aus Grie­chen­land zu ver­an­las­sen«. Es ist die zwei­te Gerichts­ent­schei­dung die­ser Art. Bereits 2019 hat­te das Ver­wal­tungs­ge­richt Mün­chen in einem ähn­li­chen Fall die Rück­ho­lung ange­ord­net. Anders als damals hat das Gericht im aktu­el­len Fall die Ent­schei­dung auf die Kam­mer über­tra­gen. Das bedeu­tet, dass aus Sicht des Gerichts der Beschluss grund­sätz­li­che Bedeu­tung hat.

UPDATE, 14. Mai: Am Mitt­woch, 12. Mai, ist der jun­ge Syrer gemäß der Auf­for­de­rung des Gerich­tes nach Deutsch­land zurück­ge­holt wor­den und wohl­be­hal­ten bei sei­ner Schwes­ter in Nie­der­sach­sen ange­kom­men. Wir wer­den den Fall natür­lich wei­ter­hin begleiten!

UPDATE, 03. August: Zum Schluß ging es schnell. Der jun­ge Syrer ist mitt­ler­wei­le in Deutsch­land als Flücht­ling anerkannt.

Das Gericht sagt klar und deut­lich: Wer sich auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um befin­det und einen Asyl­an­trag stellt, des­sen Antrag muss geprüft wer­den. Die Dub­lin-III-Ver­ord­nung – mit­samt ihrer Ver­fah­rens­vor­ga­ben und der Ver­pflich­tung, die Ein­hal­tung von Men­schen­rech­ten zu prü­fen – muss in jedem Ver­fah­ren und bei jedem Schutz­ge­such beach­tet wer­den. Die­se euro­pa­recht­li­chen Vor­ga­ben kön­nen nicht durch Schnell­ver­fah­ren an der Gren­ze von der Bun­des­po­li­zei ersetzt wer­den und auch nicht ein­sei­tig oder durch einen Deal zwi­schen zwei Mit­glied­staa­ten umgan­gen werden.

Das Gericht sagt klar und deut­lich: Wer sich auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um befin­det und einen Asyl­an­trag stellt, des­sen Antrag muss geprüft werden.

Der jun­ge Schutz­su­chen­de hat in rund zwei Jah­ren in Euro­pa das Elend der Flücht­lings­la­ger auf den grie­chi­schen Inseln, eine rechts­wid­ri­ge Abschie­bung durch deut­sche Behör­den, Abschie­bungs­haft und Obdach­lo­sig­keit in Athen erlebt. Egal wo er hin­kam, zu sei­nen Flucht­grün­den hat ihn bis­her noch nie­mand befragt. Dass er nun hof­fent­lich doch noch zu sei­nem Recht kommt, ist nicht zuletzt der engen Zusam­men­ar­beit grie­chi­scher und deut­scher Orga­ni­sa­tio­nen zu verdanken.

Gemeinsam gegen den Seehofer Deal

Ein wei­te­rer See­ho­fer-Deal-Fall ist vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) anhän­gig: Der Syrer H.T. wur­de im Sep­tem­ber 2018 von der Bun­des­po­li­zei auf­ge­grif­fen und noch am sel­ben Tag nach Athen abge­scho­ben, wo er trotz bekann­ter psy­chi­scher Erkran­kung zum Zweck der Abschie­bung in die Tür­kei inhaf­tiert wur­de. Sei­ne Beschwer­de vor dem EGMR rich­tet sich gegen Deutsch­land und Grie­chen­land. PRO ASYL, Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) und das Euro­pean Cent­re for Con­sti­tu­tio­nal and Human Rights (ECCHR) haben in sei­nem Ver­fah­ren im Okto­ber 2020 eine soge­nann­te Third Par­ty Inter­ven­ti­on (Stel­lung­nah­me) ein­ge­reicht.

(ame / mz)