21.03.2025

Eine kongolesische Mutter sucht mit ihren zwei Kindern Asyl in Italien – und wird der »Schleuserei« angeklagt, ihr drohen fünf Jahre Haft. Ihre Anwältin erreicht eine Vorlage vor dem EuGH: Erstmalig stehen damit die höchst umstrittenen »Anti-Schleuser«-Gesetze der EU auf dem Prüfstand. PRO ASYL unterstützt das Verfahren finanziell.

Fran­ce­s­ca Can­cel­la­ro, Sie ver­tre­ten die kon­go­le­si­sche Frau, die 2019 mit zwei Kin­dern am Flug­ha­fen Bolo­gna ankam, Asyl bean­trag­te und dann der »Schleu­se­rei« bezich­tigt wur­de. Der Fall ist inzwi­schen als »Kin­sa-Fall« bekannt gewor­den. Was genau ist geschehen?

Im August 2019 reis­te mei­ne Man­dan­tin mit ihrer acht­jäh­ri­gen Toch­ter und ihrer drei­zehn­jäh­ri­gen Nich­te nach Ita­li­en, um Asyl zu bean­tra­gen. Bei ihrer Ankunft am Flug­ha­fen Bolo­gna wur­de sie wegen »Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se« ange­klagt. Sie muss­te für eini­ge Tage ins Gefäng­nis und blieb auch danach noch für lan­ge Zeit von den Kin­dern getrennt. Ursprüng­lich droh­ten ihr 15 Jah­re Haft wegen der Nut­zung gefälsch­ter Doku­men­te, und da sie mit dem Flug­zeug ein inter­na­tio­na­les Trans­port­mit­tel genutzt hat. Doch das ita­lie­ni­sche Ver­fas­sungs­ge­richt sorg­te dafür, dass zumin­dest die­se Ankla­gen fal­len gelas­sen wur­den. Jetzt droht ihr eine Frei­heits­stra­fe von bis zu fünf Jahren.

Wie kann es sein, dass eine Frau, die sich und ihre Toch­ter und Nich­te in Sicher­heit brin­gen will, der Schleu­se­rei ange­klagt wird? 

Das Pro­blem liegt in der aktu­el­len euro­päi­schen Gesetz­ge­bung, die eine über­mä­ßi­ge Kri­mi­na­li­sie­rung ermög­licht. Kon­kret geht es um den EU-Rechts­rah­men, der »Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se« unter Stra­fe stellt – das so genann­te EU-»Schleuser-Paket« (»Faci­li­ta­tors Packa­ge«). Nach ita­lie­ni­schem Recht, das mit dem euro­päi­schen über­ein­stimmt, gilt jede Hand­lung als Schleu­se­rei, die dazu bei­trägt, dass eine Per­son eine EU-Gren­ze uner­laubt überschreitet.

Was ist das Pro­blem mit die­ser Gesetzgebung? 

Das soge­nann­te EU-Schleu­ser-Paket macht jede Hil­fe beim Grenz­über­tritt straf­bar, selbst wenn sie aus huma­ni­tä­ren Grün­den und ohne Gewinn­ab­sicht erfolgt. Die Defi­ni­ti­on der »Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se« ist viel zu weit gefasst, was im Straf­recht sehr gefähr­lich ist. So fal­len zum Bei­spiel auch Fami­li­en­mit­glie­der und Freund*innen von Men­schen auf der Flucht dar­un­ter, eben­so wie huma­ni­tä­re Akti­vi­tä­ten, etwa Such- und Ret­tungs­ak­tio­nen im Mittelmeer.

Am Fall mei­ner Man­dan­tin zeigt sich deut­lich, dass es min­des­tens eine Aus­nah­me für Men­schen, die aus altru­is­ti­schen Grün­den han­deln. Ich sehe in der Kri­mi­na­li­sie­rung eine Ver­let­zung ihrer Grund­rech­te, dar­un­ter das Recht auf Leben, kör­per­li­che Unver­sehrt­heit, das Recht auf Pri­vat­le­ben und Fami­lie sowie das Recht, Asyl zu bean­tra­gen. Des­halb habe ich eine Vor­ab­ent­schei­dung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs (EuGH) beantragt.

Mit Ihrem Ver­fah­ren vor dem EuGH for­dern Sie erst­ma­lig den EU-Rechts­rah­men zur »Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se« her­aus. Man­che bezeich­nen dies als his­to­ri­schen Moment. Was genau soll der EuGH in die­sem Zusam­men­hang prüfen? 

Der EuGH muss prü­fen, wie das Schleu­ser-Paket aus­zu­le­gen ist. Kon­kret soll der Gerichts­hof die Ver­ein­bar­keit des EU-Schleu­ser-Pakets und sei­ner ita­lie­ni­schen Umset­zung mit der EU-Grund­rech­te­char­ta prü­fen. Ich hof­fe, dass der EuGH die Geset­ze zur Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se als unver­hält­nis­mä­ßig ein­stuft, und dass dies zu einer Anpas­sung der EU-Rege­lun­gen führt. Das Urteil könn­te weit­rei­chen­de Aus­wir­kun­gen auf den EU-Rechts­rah­men, natio­na­le Gesetz­ge­bun­gen und indi­vi­du­el­le Ver­fah­ren in ver­schie­de­nen EU-Mit­glieds­staa­ten haben. Ein Urteil erwar­te ich für die­sen Frühling.

Der Kin­sa-Fall ist lei­der kein Ein­zel­fall, son­dern steht bei­spiel­haft für die Kri­mi­na­li­sie­rung zahl­rei­cher Men­schen, ins­be­son­de­re an den EU-Außen­gren­zen. Gibt es Zah­len dar­über, wie vie­le Men­schen auf Grund­la­ge die­ser EU-Richt­li­nie straf­recht­lich ver­folgt wurden? 

Lei­der gibt es kei­ne offi­zi­el­len Zah­len. Es wer­den sowohl Men­schen, die selbst migrie­ren oder flie­hen, als auch Men­schen, die in Soli­da­ri­tät han­deln, kri­mi­na­li­siert. Aus dem PICUM-Bericht für das Jahr 2023 geht her­vor, dass die meis­ten Men­schen an den EU-Außen­gren­zen kri­mi­na­li­siert wur­den, vor allem in Ita­li­en und Grie­chen­land, gefolgt von Polen, Mal­ta, Lett­land und Zypern. Bei soli­da­ri­schen Hand­lun­gen geht es häu­fig um Such- und Ret­tungs­maß­nah­men oder das zur Ver­fü­gung stel­len von Unter­kunft, Was­ser, Nah­rung oder Klei­dung. Bei der Kri­mi­na­li­sie­rung von Men­schen auf der Flucht ist der Vor­wurf meist, dass die­se angeb­lich ein Boot gesteu­ert oder ein Auto gefah­ren haben, um eine Gren­ze uner­laubt zu überqueren.

Laut einer Stu­die von bor­der­line-euro­pe waren Stand Febru­ar 2023 allein in Grie­chen­land mehr als 2000 Per­so­nen wegen »Schmug­gels« inhaf­tiert. Damit stel­len sie die zweit­größ­te Grup­pe aller grie­chi­schen Gefäng­nis­in­sas­sen dar.

Ja, wir spre­chen hier von einem wirk­lich umfas­sen­den Phä­no­men! Ich kann eher für den ita­lie­ni­schen Kon­text spre­chen: Nach Schät­zun­gen des Ver­eins Arci Por­co Rosso und bor­der­line-euro­pe wur­den in den letz­ten zehn Jah­ren mehr als 3200 Schutz­su­chen­de nach ihrer Ankunft an der ita­lie­ni­schen Küs­te wegen Bei­hil­fe zur ille­ga­len Ein­wan­de­rung ver­haf­tet. Oft­mals geht es hier um den Vor­wurf, ein Boot gesteu­ert zu haben. Doch die tat­säch­li­chen Zah­len könn­ten sogar noch höher sein. Es ist schwie­rig, einen Über­blick über alle Ver­fah­ren in Euro­pa zu haben.

Wel­che Aus­wir­kun­gen hat die Kri­mi­na­li­sie­rung auf das Leben der Betrof­fe­nen, für Schutz­su­chen­de selbst, aber auch für Men­schen, die huma­ni­tä­re Hil­fe leis­ten oder an Such- und Ret­tungs­ak­tio­nen betei­ligt sind?

Die­se Kri­mi­na­li­sie­rung hat weit­rei­chen­de Aus­wir­kun­gen, selbst wenn es letzt­lich zu kei­ner Ver­ur­tei­lung kommt. Ins­be­son­de­re Schutz­su­chen­de wer­den wäh­rend eines Straf­ver­fah­rens oft jah­re­lang in Prä­ven­tiv­haft genom­men und von ihren Fami­li­en getrennt – bei­des ist auch mei­ner Man­dan­tin widerfahren.

Und wenn Men­schen, die soli­da­risch han­deln, kri­mi­na­li­siert werden? 

Natür­lich lei­den auch Aktivist*innen aus ganz Euro­pa stark unter den Fol­gen der Kri­mi­na­li­sie­rung. Sie müs­sen oft lan­ge und belas­ten­de Pro­zes­se durch­ste­hen. In Ita­li­en habe ich ange­klag­te Mit­glie­der des Iuven­ta-Ret­tungs­schif­fes ver­tre­ten. Nach sie­ben­jäh­ri­gen juris­ti­schen Kämp­fen haben wir im April 2024 erreicht, dass die Ankla­ge fal­len gelas­sen wur­de – ein gro­ßer Erfolg. Den­noch stel­len sol­che lan­gen Ver­fah­ren und der damit ver­bun­de­ne Druck bereits eine erheb­li­che Bestra­fung dar, ins­be­son­de­re für jun­ge Men­schen, deren Zukunft noch offen ist. Wenn Migrant*innen ange­klagt wer­den, führt dies jedoch häu­fi­ger zu einer Ver­ur­tei­lung. Das ist das schlimmst­mög­li­che Sze­na­rio, denn die Stra­fen sind sehr hoch.

Eine sol­che Form der Kri­mi­na­li­sie­rung erzeugt Angst und ver­än­dert auf lan­ge Sicht das Ver­hal­ten der Zivil­ge­sell­schaft. Men­schen wer­den weni­ger bereit, soli­da­risch zu han­deln, da sie die Risi­ken scheuen.

Und dar­über hin­aus gibt es auch lang­fris­ti­ge Aus­wir­kun­gen der Kriminalisierung…

Genau, eine sol­che Form der Kri­mi­na­li­sie­rung erzeugt Angst und ver­än­dert auf lan­ge Sicht das Ver­hal­ten der Zivil­ge­sell­schaft. Men­schen wer­den weni­ger bereit, soli­da­risch zu han­deln, da sie die Risi­ken scheu­en – ein Phä­no­men, das als »chil­ling effect« (»abschre­cken­de Wir­kung«) bekannt ist. Die­ser Effekt wur­de in der Ver­gan­gen­heit auch von höchs­ten Gerich­ten anerkannt.

Seit 2023 arbei­tet die EU an einer neu­en Richt­li­nie, mit der die straf­recht­li­che Ver­ant­wort­lich­keit der­je­ni­gen, die Bei­hil­fe zur ille­ga­len Ein­rei­se leis­ten, neu defi­niert wer­den soll. Die neu­en Regeln sol­len das EU-Schleu­ser-Paket aus dem Jahr 2002 erset­zen. In wel­chem Ver­hält­nis steht der Kin­sa-Fall zu dem lau­fen­den Reform­pro­zess auf EU-Ebene?

Wir haben es hier mit einer Gleich­zei­tig­keit zu tun. Das Urteil im Kin­sa-Pro­zess könn­te die Ver­hand­lun­gen zur Reform erheb­lich beein­flus­sen. Gleich­zei­tig tritt bereits jetzt ein dop­pel­ter Effekt ein: Der anhän­gi­ge Fall hat den Reform­pro­zess vor­an­ge­trie­ben, da er die Kri­tik an der bestehen­den Gesetz­ge­bung ver­deut­licht hat, wäh­rend sich der Gerichts­hof des lau­fen­den Reform­pro­zes­ses bewusst ist und davon indi­rekt beein­flusst wer­den könn­te. Ich erwar­te, dass mei­ne Pro­zess­füh­rung im Kin­sa-Fall zumin­dest zu klei­nen Ver­bes­se­run­gen der Geset­ze und deren Anwen­dung führt.

Im Novem­ber 2024 leg­te der Gene­ral­an­walt sei­ne Schluss­an­trä­ge im Kin­sa-Fall vor. Wie bewer­ten Sie diese?

Ehr­lich gesagt bin ich mit den Schluss­an­trä­gen des Gene­ral­an­walts nicht zufrie­den, aber es gibt auch eini­ge posi­ti­ve Aspek­te. Ein Fort­schritt ist, dass er klar­stellt, dass die Richt­li­nie in ihrer jet­zi­gen Form dar­auf abzielt, jede Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se zu kri­mi­na­li­sie­ren, auch wenn sie aus soli­da­ri­schen Grün­den erfolgt. Damit bestä­tigt er im Wesent­li­chen, was Rechtswissenschaftler*innen und zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen bereits seit lan­gem sagen: Es gibt ein grund­sätz­li­ches Pro­blem mit der EU-Richt­li­nie. Zudem betont er, dass natio­na­le Gerich­te die Mög­lich­keit haben müs­sen, huma­ni­tä­re Hand­lun­gen zu ent­kri­mi­na­li­sie­ren. Dies könn­te Hoff­nung für vie­le Kri­mi­na­li­sie­rungs­fäl­le in ganz Euro­pa bedeuten.

Und was sehen Sie kri­tisch an den Schlussanträgen? 

Was ich sehr kri­tisch sehe, ist, dass der Gene­ral­an­walt die Richt­li­nie als sol­che für gül­tig hält. Er argu­men­tiert, dass die EU-Insti­tu­tio­nen nicht ver­pflich­tet sind, klar zu defi­nie­ren, was Bei­hil­fe zur  uner­laub­ten Ein­rei­se umfasst, son­dern dass dies den jewei­li­gen Mit­glied­staa­ten über­las­sen wer­den könn­te. Dies wür­de in der Pra­xis das Risi­ko unter­schied­li­cher Anwen­dun­gen in den Mit­glied­staa­ten mit sich brin­gen. Das hät­te erheb­li­che Aus­wir­kun­gen auf Men­schen, die aus huma­ni­tä­ren Grün­den han­deln wol­len, da sie kei­ne kla­re Zusi­che­rung hät­ten, dass sie mit sol­chen soli­da­ri­schen Hand­lun­gen kei­ne Straf­ver­fah­ren ris­kie­ren. Die­se Rechts­un­si­cher­heit hät­te bereits weit­rei­chen­de Aus­wir­kun­gen, noch bevor es über­haupt zu einem Straf­ver­fah­ren kommt.

Die Schluss­an­trä­ge des Gene­ral­an­walts sind für den Gerichts­hof nicht bindend.

Das Gericht hat viel Frei­raum und ich hof­fe, dass es in sei­nem Urteil über die Mei­nung des Gene­ral­an­walts hin­aus­ge­hen wird. Es braucht min­des­tens Aus­nah­men für Hand­lun­gen, die aus altru­is­ti­schen oder huma­ni­tä­ren Grün­den erfolgen.

Noch ein­mal zurück zu Ihrer Man­dan­tin im Kin­sa-Fall: Hät­te sie die Ankla­ge wegen »Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se« ver­mei­den können?

Heu­te ist es fast unmög­lich, Schutz in der EU zu suchen, ohne uner­laubt ein­zu­rei­sen. Es gibt kaum siche­re Wege, um Asyl zu bean­tra­gen. Mei­ner Man­dan­tin ist es gelun­gen, ihre Toch­ter und ihre Nich­te zu schüt­zen, indem sie sie mit einem Flug­zeug in Sicher­heit brach­te, anstatt etwa die lebens­ge­fähr­li­che Über­fahrt im Mit­tel­meer auf sich zu neh­men. Sie hat­te Glück, dass sie die­se Mög­lich­keit hat­te – die meis­ten Schutz­su­chen­den haben das nicht. Es ist mir völ­lig unbe­greif­lich, dass sie dafür nun kri­mi­na­li­siert wird.

(hk)

Fran­ce­s­ca Can­cel­la­ro arbei­tet als Anwäl­tin in Bolo­gna. In ihrer lang­jäh­ri­gen Pra­xis hat sie sich auf die Ver­tei­di­gung von Grund- und Men­schen­rech­ten spe­zia­li­siert. PRO ASYL unter­stützt ihre Arbeit im Kin­sa-Fall über den PRO ASYL-Rechtshilfefonds.

Eine Kam­pa­gne zum Kin­sa-Fall macht auf die mög­li­chen weit­rei­chen­den Fol­gen für EU-Recht und natio­na­le Gesetz­ge­bun­gen auf­merk­sam und zeigt auf, wel­che dra­ma­ti­schen Fol­gen die Kri­mi­na­li­sie­rung von Schutz­su­chen­den und soli­da­ri­schen Hand­lun­gen in Euro­pa bereits heu­te haben.