News
Kinsa-Fall: Europas umstrittene Schleuser-Gesetze vor Gericht

Eine kongolesische Mutter sucht mit ihren zwei Kindern Asyl in Italien – und wird der »Schleuserei« angeklagt, ihr drohen fünf Jahre Haft. Ihre Anwältin erreicht eine Vorlage vor dem EuGH: Erstmalig stehen damit die höchst umstrittenen »Anti-Schleuser«-Gesetze der EU auf dem Prüfstand. PRO ASYL unterstützt das Verfahren finanziell.
Francesca Cancellaro, Sie vertreten die kongolesische Frau, die 2019 mit zwei Kindern am Flughafen Bologna ankam, Asyl beantragte und dann der »Schleuserei« bezichtigt wurde. Der Fall ist inzwischen als »Kinsa-Fall« bekannt geworden. Was genau ist geschehen?
Im August 2019 reiste meine Mandantin mit ihrer achtjährigen Tochter und ihrer dreizehnjährigen Nichte nach Italien, um Asyl zu beantragen. Bei ihrer Ankunft am Flughafen Bologna wurde sie wegen »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« angeklagt. Sie musste für einige Tage ins Gefängnis und blieb auch danach noch für lange Zeit von den Kindern getrennt. Ursprünglich drohten ihr 15 Jahre Haft wegen der Nutzung gefälschter Dokumente, und da sie mit dem Flugzeug ein internationales Transportmittel genutzt hat. Doch das italienische Verfassungsgericht sorgte dafür, dass zumindest diese Anklagen fallen gelassen wurden. Jetzt droht ihr eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren.
Wie kann es sein, dass eine Frau, die sich und ihre Tochter und Nichte in Sicherheit bringen will, der Schleuserei angeklagt wird?
Das Problem liegt in der aktuellen europäischen Gesetzgebung, die eine übermäßige Kriminalisierung ermöglicht. Konkret geht es um den EU-Rechtsrahmen, der »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« unter Strafe stellt – das so genannte EU-»Schleuser-Paket« (»Facilitators Package«). Nach italienischem Recht, das mit dem europäischen übereinstimmt, gilt jede Handlung als Schleuserei, die dazu beiträgt, dass eine Person eine EU-Grenze unerlaubt überschreitet.
Was ist das Problem mit dieser Gesetzgebung?
Das sogenannte EU-Schleuser-Paket macht jede Hilfe beim Grenzübertritt strafbar, selbst wenn sie aus humanitären Gründen und ohne Gewinnabsicht erfolgt. Die Definition der »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« ist viel zu weit gefasst, was im Strafrecht sehr gefährlich ist. So fallen zum Beispiel auch Familienmitglieder und Freund*innen von Menschen auf der Flucht darunter, ebenso wie humanitäre Aktivitäten, etwa Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer.
Am Fall meiner Mandantin zeigt sich deutlich, dass es mindestens eine Ausnahme für Menschen, die aus altruistischen Gründen handeln. Ich sehe in der Kriminalisierung eine Verletzung ihrer Grundrechte, darunter das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Privatleben und Familie sowie das Recht, Asyl zu beantragen. Deshalb habe ich eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beantragt.
Mit Ihrem Verfahren vor dem EuGH fordern Sie erstmalig den EU-Rechtsrahmen zur »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« heraus. Manche bezeichnen dies als historischen Moment. Was genau soll der EuGH in diesem Zusammenhang prüfen?
Der EuGH muss prüfen, wie das Schleuser-Paket auszulegen ist. Konkret soll der Gerichtshof die Vereinbarkeit des EU-Schleuser-Pakets und seiner italienischen Umsetzung mit der EU-Grundrechtecharta prüfen. Ich hoffe, dass der EuGH die Gesetze zur Beihilfe zur unerlaubten Einreise als unverhältnismäßig einstuft, und dass dies zu einer Anpassung der EU-Regelungen führt. Das Urteil könnte weitreichende Auswirkungen auf den EU-Rechtsrahmen, nationale Gesetzgebungen und individuelle Verfahren in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten haben. Ein Urteil erwarte ich für diesen Frühling.
Der Kinsa-Fall ist leider kein Einzelfall, sondern steht beispielhaft für die Kriminalisierung zahlreicher Menschen, insbesondere an den EU-Außengrenzen. Gibt es Zahlen darüber, wie viele Menschen auf Grundlage dieser EU-Richtlinie strafrechtlich verfolgt wurden?
Leider gibt es keine offiziellen Zahlen. Es werden sowohl Menschen, die selbst migrieren oder fliehen, als auch Menschen, die in Solidarität handeln, kriminalisiert. Aus dem PICUM-Bericht für das Jahr 2023 geht hervor, dass die meisten Menschen an den EU-Außengrenzen kriminalisiert wurden, vor allem in Italien und Griechenland, gefolgt von Polen, Malta, Lettland und Zypern. Bei solidarischen Handlungen geht es häufig um Such- und Rettungsmaßnahmen oder das zur Verfügung stellen von Unterkunft, Wasser, Nahrung oder Kleidung. Bei der Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht ist der Vorwurf meist, dass diese angeblich ein Boot gesteuert oder ein Auto gefahren haben, um eine Grenze unerlaubt zu überqueren.
Laut einer Studie von borderline-europe waren Stand Februar 2023 allein in Griechenland mehr als 2000 Personen wegen »Schmuggels« inhaftiert. Damit stellen sie die zweitgrößte Gruppe aller griechischen Gefängnisinsassen dar.
Ja, wir sprechen hier von einem wirklich umfassenden Phänomen! Ich kann eher für den italienischen Kontext sprechen: Nach Schätzungen des Vereins Arci Porco Rosso und borderline-europe wurden in den letzten zehn Jahren mehr als 3200 Schutzsuchende nach ihrer Ankunft an der italienischen Küste wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung verhaftet. Oftmals geht es hier um den Vorwurf, ein Boot gesteuert zu haben. Doch die tatsächlichen Zahlen könnten sogar noch höher sein. Es ist schwierig, einen Überblick über alle Verfahren in Europa zu haben.
Welche Auswirkungen hat die Kriminalisierung auf das Leben der Betroffenen, für Schutzsuchende selbst, aber auch für Menschen, die humanitäre Hilfe leisten oder an Such- und Rettungsaktionen beteiligt sind?
Diese Kriminalisierung hat weitreichende Auswirkungen, selbst wenn es letztlich zu keiner Verurteilung kommt. Insbesondere Schutzsuchende werden während eines Strafverfahrens oft jahrelang in Präventivhaft genommen und von ihren Familien getrennt – beides ist auch meiner Mandantin widerfahren.
Und wenn Menschen, die solidarisch handeln, kriminalisiert werden?
Natürlich leiden auch Aktivist*innen aus ganz Europa stark unter den Folgen der Kriminalisierung. Sie müssen oft lange und belastende Prozesse durchstehen. In Italien habe ich angeklagte Mitglieder des Iuventa-Rettungsschiffes vertreten. Nach siebenjährigen juristischen Kämpfen haben wir im April 2024 erreicht, dass die Anklage fallen gelassen wurde – ein großer Erfolg. Dennoch stellen solche langen Verfahren und der damit verbundene Druck bereits eine erhebliche Bestrafung dar, insbesondere für junge Menschen, deren Zukunft noch offen ist. Wenn Migrant*innen angeklagt werden, führt dies jedoch häufiger zu einer Verurteilung. Das ist das schlimmstmögliche Szenario, denn die Strafen sind sehr hoch.
Eine solche Form der Kriminalisierung erzeugt Angst und verändert auf lange Sicht das Verhalten der Zivilgesellschaft. Menschen werden weniger bereit, solidarisch zu handeln, da sie die Risiken scheuen.
Und darüber hinaus gibt es auch langfristige Auswirkungen der Kriminalisierung…
Genau, eine solche Form der Kriminalisierung erzeugt Angst und verändert auf lange Sicht das Verhalten der Zivilgesellschaft. Menschen werden weniger bereit, solidarisch zu handeln, da sie die Risiken scheuen – ein Phänomen, das als »chilling effect« (»abschreckende Wirkung«) bekannt ist. Dieser Effekt wurde in der Vergangenheit auch von höchsten Gerichten anerkannt.
Seit 2023 arbeitet die EU an einer neuen Richtlinie, mit der die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die Beihilfe zur illegalen Einreise leisten, neu definiert werden soll. Die neuen Regeln sollen das EU-Schleuser-Paket aus dem Jahr 2002 ersetzen. In welchem Verhältnis steht der Kinsa-Fall zu dem laufenden Reformprozess auf EU-Ebene?
Wir haben es hier mit einer Gleichzeitigkeit zu tun. Das Urteil im Kinsa-Prozess könnte die Verhandlungen zur Reform erheblich beeinflussen. Gleichzeitig tritt bereits jetzt ein doppelter Effekt ein: Der anhängige Fall hat den Reformprozess vorangetrieben, da er die Kritik an der bestehenden Gesetzgebung verdeutlicht hat, während sich der Gerichtshof des laufenden Reformprozesses bewusst ist und davon indirekt beeinflusst werden könnte. Ich erwarte, dass meine Prozessführung im Kinsa-Fall zumindest zu kleinen Verbesserungen der Gesetze und deren Anwendung führt.
Im November 2024 legte der Generalanwalt seine Schlussanträge im Kinsa-Fall vor. Wie bewerten Sie diese?
Ehrlich gesagt bin ich mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht zufrieden, aber es gibt auch einige positive Aspekte. Ein Fortschritt ist, dass er klarstellt, dass die Richtlinie in ihrer jetzigen Form darauf abzielt, jede Beihilfe zur unerlaubten Einreise zu kriminalisieren, auch wenn sie aus solidarischen Gründen erfolgt. Damit bestätigt er im Wesentlichen, was Rechtswissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen bereits seit langem sagen: Es gibt ein grundsätzliches Problem mit der EU-Richtlinie. Zudem betont er, dass nationale Gerichte die Möglichkeit haben müssen, humanitäre Handlungen zu entkriminalisieren. Dies könnte Hoffnung für viele Kriminalisierungsfälle in ganz Europa bedeuten.
Und was sehen Sie kritisch an den Schlussanträgen?
Was ich sehr kritisch sehe, ist, dass der Generalanwalt die Richtlinie als solche für gültig hält. Er argumentiert, dass die EU-Institutionen nicht verpflichtet sind, klar zu definieren, was Beihilfe zur unerlaubten Einreise umfasst, sondern dass dies den jeweiligen Mitgliedstaaten überlassen werden könnte. Dies würde in der Praxis das Risiko unterschiedlicher Anwendungen in den Mitgliedstaaten mit sich bringen. Das hätte erhebliche Auswirkungen auf Menschen, die aus humanitären Gründen handeln wollen, da sie keine klare Zusicherung hätten, dass sie mit solchen solidarischen Handlungen keine Strafverfahren riskieren. Diese Rechtsunsicherheit hätte bereits weitreichende Auswirkungen, noch bevor es überhaupt zu einem Strafverfahren kommt.
Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend.
Das Gericht hat viel Freiraum und ich hoffe, dass es in seinem Urteil über die Meinung des Generalanwalts hinausgehen wird. Es braucht mindestens Ausnahmen für Handlungen, die aus altruistischen oder humanitären Gründen erfolgen.
Noch einmal zurück zu Ihrer Mandantin im Kinsa-Fall: Hätte sie die Anklage wegen »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« vermeiden können?
Heute ist es fast unmöglich, Schutz in der EU zu suchen, ohne unerlaubt einzureisen. Es gibt kaum sichere Wege, um Asyl zu beantragen. Meiner Mandantin ist es gelungen, ihre Tochter und ihre Nichte zu schützen, indem sie sie mit einem Flugzeug in Sicherheit brachte, anstatt etwa die lebensgefährliche Überfahrt im Mittelmeer auf sich zu nehmen. Sie hatte Glück, dass sie diese Möglichkeit hatte – die meisten Schutzsuchenden haben das nicht. Es ist mir völlig unbegreiflich, dass sie dafür nun kriminalisiert wird.
(hk)
Francesca Cancellaro arbeitet als Anwältin in Bologna. In ihrer langjährigen Praxis hat sie sich auf die Verteidigung von Grund- und Menschenrechten spezialisiert. PRO ASYL unterstützt ihre Arbeit im Kinsa-Fall über den PRO ASYL-Rechtshilfefonds.
Eine Kampagne zum Kinsa-Fall macht auf die möglichen weitreichenden Folgen für EU-Recht und nationale Gesetzgebungen aufmerksam und zeigt auf, welche dramatischen Folgen die Kriminalisierung von Schutzsuchenden und solidarischen Handlungen in Europa bereits heute haben.