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„Kindertransporthilfe des Bundes“ – Kunstaktion für die Aufnahme syrischer Flüchtlingskinder

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig sucht Privatpersonen in Deutschland, die bereit sind, syrische Flüchtlingskinder bei sich aufzunehmen. Wirklich? Nein. Hinter der Aktion „Kindertransporthilfe des Bundes“ steckt nicht das Ministerium, sondern das „Zentrum für politische Schönheit“. Wir haben mit den Politkünstlern über ihre Aktion gesprochen.
Auf den ersten Blick ist alles da: Bürokratisch anmutende Antragsformulare, salbungsvolle Grußworte der Ministerin und ihres Staatssekretärs, seriös dreinblickende Pressesprecherinnen, Erläuterungen zu angeblichen rechtlichen Grundlagen: Die Website „Kindertransorthilfe des Bundes“ suggeriert detailreich, es gäbe ein breit angelegtes Programm der Familienministerin, das Pflegeeltern für 55.000 syrische Kinder sucht. Erst auf den zweiten Blick wird klar: Das ist kein vom Himmel gefallenes Nothilfeprogramm, sondern eine politische Kunstaktion.
Wir haben Künstler Phillip Ruch vom Zentrum für politische Schönheit die uns drängensten Fragen gestellt:
Was wollt Ihr mit der Aktion bewirken?
Wir haben für die Bundesregierung ein Soforthilfeprogramm entwickelt. Flüchtlingspolitik in Deutschland verlief bislang so, dass man alles unternahm, um sich nicht der Frage zu stellen, ob Deutschland zu viele oder zu wenige Flüchtlinge aufnimmt. Wir, die Kindertransporthilfe des Bundes, setzen uns bewusst der Frage aus und formulieren eine erste Antwort. Die Antwort ist nicht angenehm, aber besser als gar keine.
Warum konzentriert sich Eure Aktion auf die Aufnahme von Flüchtlingskindern? Bloß die Kinder aufzunehmen, die Eltern aber ihrem Schicksal zu überlassen, ist doch für alle Beteiligten schrecklich, oder nicht?
Das ist nicht „unsere“ Aktion. Das ist die Geschichte der Kindertransporte von 1938, die sie gerade in Echtzeit auf unserer Seite verfolgen können. Wir haben das adaptiert. Die Kindertransporte waren für alle Beteiligten fürchterlich. Aus den von Ihnen genannten Gründen. Niemand glaubt doch ernsthaft, dass es 1938 für Mütter einfacher war, ihre Kinder ins Unbekannte zu schicken.
Da ist Kurt Gutmann, der bei unserer Aktion dabei ist. Sein eigener Bruder, der schon lange vor ihm nach Schottland kindertransportiert wurde, verhinderte die Gelegenheit, dass seine Mutter ausreisen und zu ihnen gelangen konnte. Gutmanns Mutter wurde im KZ Sobibor getötet.
Die Kindertransporte sind die Geschichte eines kurzfristigen Risses im Eisernen Vorhang der alliierten Flüchtlingsabwehr – ein Riss, der bis heute hoch gefeiert und gepriesen wird, was uns im Zusammenhang mit Frontex und der europäischen Flüchtlingsabwehr viel mehr zu denken geben sollte, als die meisten zunächst meinen, die den Kindertransporten von 1938 huldigen und heute wegsehen. Keine alliierte Regierung war 1938 bereit, deutsch-jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Aber: die Kindertransporte sind auch die Geschichte von der Zerstörung ganzer deutsch-jüdischer Familien.
Ich habe mich jetzt ein ganzes Jahr mit den Kindertransporten auseinandergesetzt. Wenn es eine Lehre gibt, die wir in die Gegenwart mit der Geschichte von 1938 mitnehmen sollten, dann diese: Flüchtlingsabwehr ist in Krisenzeiten für reiche und freie Staaten eine absolute Schande.
Wie viele Leute haben sich denn bei Euch schon gemeldet, die bereit wären, Flüchtlingskinder bei sich aufzunehmen?
Mit Stand vom Ende des zweiten Tages: über 600 Anrufer, davon mehr als 300 Pflegewillige.
Warum habt Ihr als Adressaten Eurer Aktion das Familienministerium gewählt? Beim Thema Asylpolitik ist ja normalerweise das Bundesinnenministerium federführend.
Wenn man sich die aktuellen Machtverhältnisse innerhalb der Großen Koalition anschaut, wird man erkennen, dass eine junge Hoffnung aus der SPD und in einem nicht ganz so wichtigen Ministerium genau der richtige Ort ist, um eine solche Initiative zu lancieren, die sich Gabriel oder Steinmeier aus verschiedenen machtarchitektonischen Gründen nicht erlauben.
Desweiteren ist innerhalb der SPD-Basis ein ungestillter Durst nach einer internationalen Friedenspolitik zu verzeichnen, die diesen Namen auch verdient. Willy Brandt lebt in den Köpfen weiter. Die SPD muss, um die Bevölkerung einzufangen, Akte politischer Schönheit vollbringen.
Seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs rufen bei uns verzweifelte Menschen mit syrischen Wurzeln an, die in Deutschland leben und die ihre Angehörigen aus Syrien oder aus dem Flüchtlingselend in den Nachbarstaaten zu sich in Sicherheit bringen wollen. Wie geht ihr damit um, wenn ihr verzweifelte Menschen am Telefon habt, deren Hoffnung ihr letztlich enttäuschen müsst?
Derart „harte“ Fälle gab es zwar bislang noch nicht, aber die werden umgehend aufgeklärt. Wir schicken sie an die Medien weiter, die ihre Anliegen im Rahmen der aktuellen Berichterstattung wesentlich besser und drängender für die deutsche Öffentlichkeit aufbereiten können als unsere historische „Blaupause“ eines Hilfsprojektes.
Vielen Dank für das Gespräch – und die Aktion!
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