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In der Türkei wird Strafverfolgung auch dazu eingesetzt, für die Regierung unliebsames politisches Handeln zu bestrafen. Das geht aus dem von PRO ASYL in Auftrag gegebenen umfänglichen wissenschaftlichen Gutachten hervor. Diese Realität muss auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anerkennen und seine Entscheidungspraxis ändern.

»Pro­pa­gan­da für eine ter­ro­ris­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on«, »Mit­glied­schaft in einer ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on«, »Unter­stüt­zung für eine ter­ro­ris­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on« – Asyl­su­chen­de aus der Tür­kei ken­nen die­se Straf­tat­be­stän­de zu Genü­ge. Vie­le sind genau vor die­sen oder ähn­li­chen meist halt­lo­sen Anschul­di­gun­gen und den jah­re­lan­gen Ermitt­lun­gen und dro­hen­den Stra­fen nach Deutsch­land geflo­hen. Seit Jah­ren ist die Tür­kei eines der Haupt­her­kunfts­län­der von Schutz­su­chen­den in Deutschland.

Dass es sich bei den Vor­wür­fen, Straf­ta­ten im Bereich des »Ter­ro­ris­mus« in der Tür­kei began­gen zu haben, meist um kon­stru­ier­te Vor­wür­fe han­delt, die in der Tür­kei will­kür­lich erho­ben wer­den, belegt nun das von PRO ASYL in Auf­trag gege­be­ne 140-sei­ti­ge Gut­ach­ten »Zur Lage der Jus­tiz in der Tür­kei. Rechts­un­si­cher­heit in Straf­ver­fah­ren mit poli­ti­schem Bezug«. Es zeigt auf, dass die Straf­ver­fah­ren, die auf ter­ro­ris­mus­be­zo­ge­nen Vor­wür­fen basie­ren, regel­mä­ßig die Kri­te­ri­en der Rechts­staat­lich­keit unter­lau­fen. Betrof­fe­ne Per­so­nen haben kei­ne Mög­lich­keit, sich effek­tiv zu ver­tei­di­gen, sie erwar­tet kein fai­res Ver­fah­ren. Die rich­ter­li­che Unab­hän­gig­keit ist nicht gewährleistet.

Das Pro­blem: Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) ver­kennt die Umstän­de oft und ver­wei­gert den not­wen­di­gen Schutz.

Dabei kön­nen ver­schie­de­ne Risi­ko­grup­pen aus­ge­macht wer­den, die beson­ders bedroht sind zur Ziel­schei­be poli­ti­scher Straf­ver­fol­gung zu wer­den – etwa jene, die sich »zu poli­tisch« zu als hei­kel gel­ten­den The­men wie den Belan­gen von Kurd*innen, Kor­rup­ti­on oder Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch die Tür­kei äußern. Inner­halb die­ser Grup­pe wie­der­um haben Ange­hö­ri­ge der kur­di­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pen ins­ge­samt ein höhe­res Risi­ko als ande­re Grup­pen, mit poli­tisch moti­vier­ter Straf­ver­fol­gung kon­fron­tiert zu werden.

Das Pro­blem: Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) ver­kennt die­se Umstän­de oft und ver­wei­gert den not­wen­di­gen Schutz. Das neue Gut­ach­ten stellt des­we­gen eine wich­ti­ge Infor­ma­ti­ons­quel­le dar, die auch zu einer Ände­rung der Aner­ken­nungs­pra­xis des BAMF füh­ren muss.

Detaillierte Analyse der türkischen Strafjustiz im Hinblick auf politische Verfahren

Die Fest­stel­lun­gen in dem Gut­ach­ten basie­ren auf einer über ein­jäh­ri­gen Ana­ly­se des Zustands der tür­ki­schen Straf­jus­tiz im Hin­blick auf ihre Unab­hän­gig­keit, Unpar­tei­lich­keit sowie die Wah­rung von Ver­fah­rens­rech­ten, ins­be­son­de­re in Bezug auf Ver­fah­ren mit Ter­ro­ris­mus­vor­wür­fen. Die Unter­su­chung führ­ten zwei unab­hän­gi­ge renom­mier­te Rechtswissenschaftler*innen durch, deren Iden­ti­tät PRO ASYL aus Sicher­heits­grün­den nicht bekannt­gibt. Bereits die­se Ent­schei­dung spricht Bän­de über den Zustand des tür­ki­schen Rechtsstaats.

Die Autor*innen haben Urtei­le tür­ki­scher Gerich­te sowie Urtei­le des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te aus­ge­wer­tet, Berich­te unter ande­rem des Euro­pa­rats und der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on ana­ly­siert und in der Tür­kei prak­ti­zie­ren­de Anwält*innen in ver­schie­de­nen Lan­des­tei­len befragt. Ihre Unter­su­chung ist in vier Tei­le geglie­dert, die sich jeweils einem Pro­blem­feld wid­men: Dem Jus­tiz­sys­tem, den ter­ro­ris­mus­be­zo­ge­nen Straf­tat­be­stän­den und ihrer Anwen­dung, der Erhe­bung und Bewer­tung von Beweis­ma­te­ria­li­en und der Wah­rung der Kri­te­ri­en des Rechts auf ein fai­res Verfahren.

Zusätz­lich zu dem Gut­ach­ten ver­öf­fent­licht PRO ASYL heu­te die Begleit­bro­schü­re »Aras und Berat – Ver­folgt von der tür­ki­schen Straf­jus­tiz«, in der das Schick­sal von Aras und Berat, die eigent­lich anders hei­ßen, aus­führ­lich dar­ge­stellt wird. Obwohl sie in das Faden­kreuz der tür­ki­schen Jus­tiz gera­ten sind, erhiel­ten sie im Asyl­ver­fah­ren in Deutsch­land zunächst kei­nen Schutz.

Die Unabhängigkeit des türkischen Justizsystem ist außer Kraft gesetzt 

Die iden­ti­fi­zier­ten Schwach­stel­len des tür­ki­schen Jus­tiz­sys­tems sind auf ver­schie­de­ne Fak­to­ren zurück­zu­füh­ren. So haben die tief­grei­fen­den Umstruk­tu­rie­run­gen bei der Zusam­men­set­zung der Gerich­te und der Beset­zung der zen­tra­len Posi­tio­nen in den Struk­tu­ren der Jus­tiz zu Miss­stän­den geführt. Ins­be­son­de­re im Jahr 2016 und vor allem im Bereich der Straf­jus­tiz wur­de eine gro­ße Zahl Richter*innen und Staatsanwält*innen in sehr intrans­pa­ren­ten Ver­fah­ren neu beru­fen. Zen­tra­le Pos­ten sind unter poli­ti­schen Ein­fluss gera­ten und wer­den fak­tisch durch die regie­ren­de Par­tei besetzt.

Es ist sehr unwahr­schein­lich, dass die­se Richter*innen oder Staatsanwält*innen im Sin­ne der Regie­rung unlieb­sa­me Ent­schei­dun­gen tref­fen. Kommt es den­noch dazu, dro­hen ihnen Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men, die Ver­set­zung oder Ent­las­sung. Es sind Fäl­le bekannt, in denen Staatsanwält*innen und Richter*innen selbst nach uner­wünsch­ten Urtei­len straf­recht­lich ver­folgt wur­den. Auf der ande­ren Sei­te füh­ren regie­rungs­freund­li­che Ent­schei­dun­gen zu Beför­de­run­gen. Ent­spre­chend regel­mä­ßig fal­len Ankla­gen und Urtei­le ein­sei­tig aus. Richter*innen und Staatsanwält*innen sind in ihren Ent­schei­dun­gen nicht frei. In die­sem Gefü­ge kommt es häu­fig dazu, dass Urtei­le höhe­rer Instan­zen nicht beach­tet werden.

Auch die Men­schen­rechts­kom­mis­sa­rin des Euro­pa­rats hielt 2020 mit Blick auf die tür­ki­sche Jus­tiz fest, dass stra­te­gi­sche und poli­tisch-kon­junk­tu­rel­le Erwä­gun­gen für Ent­schei­dun­gen der Gerich­te erheb­li­cher sei­en als recht­li­che Erwä­gun­gen. Und selbst die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on äußert in ihrem aktu­el­len Bericht zur Tür­kei (2023) star­ke Beden­ken hin­sicht­lich der poli­ti­schen Ein­fluss­nah­me auf das Justizwesen.

Ermittlungen, Anklagen und Verurteilungen unterliegen der Willkür 

Hin­zu kommt, dass erheb­li­che Tei­le des tür­ki­schen Straf­rechts und des tür­ki­schen Anti­ter­ror­ge­set­zes nicht ein­deu­tig for­mu­liert sind. Die ent­spre­chen­den Para­gra­fen wer­den sehr frei aus­ge­legt, mit dem Ergeb­nis, dass nicht vor­her­seh­bar ist, wel­che Hand­lung als straf­bar bewer­tet wird und wel­che nicht. Das Damo­kles­schwert der Straf­ver­fah­ren hängt somit tag­täg­lich über dem All­tag vie­ler Men­schen in der Türkei.

So kann die Teil­nah­me an einer öffent­li­chen, nicht-ver­bo­te­nen Ver­samm­lung kri­mi­na­li­siert wer­den, sobald auch eine als ter­ro­ris­tisch ein­ge­stuf­te Orga­ni­sa­ti­on dazu auf­ge­ru­fen hat – dabei ist es neben­säch­lich, ob die ange­klag­te Per­son über­haupt von dem Auf­ruf durch die als ter­ro­ris­tisch ein­ge­stuf­te Orga­ni­sa­ti­on wuss­te. Aber damit nicht genug: Die recht­li­chen Defi­ni­tio­nen sind in der Aus­le­gung inzwi­schen so aus­ge­wei­tet wor­den, dass nicht mal ein­deu­tig ist, auf wel­cher recht­li­chen Grund­la­ge eine Ankla­ge fol­gen könn­te – »Mit­glied­schaft in«, »Bege­hung einer Straf­tat im Namen« oder »Unter­stüt­zung von« – die Gren­zen sind flie­ßend. Auf­ge­stell­te – wenn auch wei­ter­hin vage – Kri­te­ri­en, etwa in Bezug auf die Fra­ge, wann eine »Mit­glied­schaft in einer ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on« vor­liegt, wer­den in der gän­gi­gen Recht­spre­chung regel­mä­ßig unter­lau­fen. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te hat bereits viel­fach fest­ge­stellt, dass dies dem in der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­an­ker­ten Bestimmt­heits­ge­bot wider­spricht, ver­än­dert hat das bis­lang nichts.

Die­se man­gel­haf­ten Aspek­te der tür­ki­schen Gesetz­ge­bung ver­schär­fen sich in ihrer tat­säch­li­chen Umset­zung. So ist den Akten in Straf­sa­chen teil­wei­se nicht zu ent­neh­men, auf Grund­la­ge wel­ches Sach­ver­halts die Ankla­ge erfolgt. Ande­ren Akten ist wie­der­um eine soge­nann­te Sach­ver­halts­dar­stel­lung zu ent­neh­men, jedoch fehlt dann die Prü­fung, ob es sich hier­bei tat­säch­lich um eine Straf­tat handelt.

Fehlerhafte Erhebung von Beweismitteln

Ein wei­te­res Ele­ment des brö­ckeln­den Rechts­staats hin­sicht­lich poli­tisch moti­vier­ter Straf­ver­fah­ren stel­len ten­den­zi­ös ver­lau­fen­de Ermitt­lun­gen dar, auf die sich Ankla­gen und Ver­ur­tei­lun­gen stüt­zen. Dabei wird regel­mä­ßig nur in die Rich­tung ermit­telt, die nach­tei­lig für die betrof­fe­ne Per­son ist und den Anfangs­ver­dacht bestä­tigt. Ein zen­tra­les Ele­ment sind dabei Aus­sa­gen von »gehei­men« Zeug*innen. Es ist kei­ne Sel­ten­heit, dass ein*e solche*r Zeug*in Anga­ben zu sehr vie­len – in eini­gen Fäl­len hun­der­ten – Per­so­nen trifft, die zur Ver­ur­tei­lung füh­ren. Die Aus­sa­gen blei­ben häu­fig sehr ober­fläch­lich. Es ist oft nicht nach­voll­zieh­bar, wie auf Basis der Aus­sa­gen ein bestimm­ter Rück­schluss oder eine bestimm­te Bewer­tung durch die Straf­ver­fol­gung entsteht.

Für die Ver­tei­di­gung ist es jedoch schwer bis unmög­lich gegen die­se belas­ten­den Aus­sa­gen anzu­kom­men. Anwält*innen haben kei­ne fai­re Chan­ce, die Zeug*innen zu befra­gen oder Nach­fra­gen zu stel­len und damit die Behaup­tung zu wider­le­gen. Dies ist nur eines von vie­len Bei­spie­len, in denen deut­lich wird, dass die »Waf­fen­gleich­heit« zwi­schen Ankla­ge und Ver­tei­di­gung außer Kraft gesetzt wur­de. Es sind sogar Fäl­le bekannt, in denen der*die Zeug*in selbst die belas­ten­de Aus­sa­ge vor Gericht zurück­ge­nom­men hat, mit dem Ver­weis, die­se sei unter psy­chi­scher oder phy­si­scher Gewalt erpresst wor­den, und sich das Urteil den­noch auf eben die­se »alte« belas­ten­de Aus­sa­ge stützte.

PRO ASYL: BAMF muss Leitsätze zur Türkei anpassen!

Wei­ter­hin flie­hen tau­sen­de Men­schen vor der geschil­der­ten Pra­xis aus der Tür­kei nach Deutsch­land und stel­len auf der Suche nach Schutz vor der staat­li­chen Ver­fol­gung einen Asyl­an­trag – im ers­ten Halb­jahr 2024 regis­trier­te das BAMF knapp 16.000 Erst­an­trä­ge tür­ki­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger in Deutsch­land. Wie in den Vor­jah­ren auch machen Kurd*innen wei­ter­hin den größ­ten Anteil aus, die beson­ders in dem Fokus staat­li­cher Ver­fol­gung stehen.

Das BAMF muss der Rea­li­tät ins Auge sehen und die Will­kür tür­ki­scher Straf­ver­fah­ren mit poli­ti­schem Bezug, die durch das Gut­ach­ten ein­mal mehr belegt wur­de, anerkennen.

Jenen, die vor der Straf­ver­fol­gung flie­hen, dro­hen in der Tür­kei jah­re­lan­ge Ermitt­lun­gen für Hand­lun­gen, die sie nicht began­gen haben. Auf das Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren, wie es in Arti­kel 6 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on fest­ge­hal­ten ist, kön­nen sie sich nicht ver­las­sen. Statt­des­sen dro­hen lan­ge Haft­stra­fen und damit der rechts­wid­ri­ge Frei­heits­ent­zug. Die Mög­lich­keit, sich poli­tisch zu betei­li­gen, ist unter die­sen Umstän­den kaum mehr mög­lich. Doch trotz des beschrie­be­nen Ver­fol­gungs­drucks sinkt die Gesamt­schutz­quo­te in Ver­fah­ren tür­ki­scher Asyl­an­trags­stel­len­der wei­ter­hin ab, im ers­ten Halb­jahr 2024 lag die berei­nig­te Gesamt­schutz­quo­te bei ledig­lich 13 Pro­zent. Die Antrags­stel­len­den sind mit der unkri­ti­schen Über­nah­me der tür­ki­schen Anschul­di­gun­gen durch deut­sche Behör­den sowie einer Beweis­last kon­fron­tiert, die das im Asyl­ver­fah­ren gän­gi­ge Aus­maß bei wei­tem übersteigt.

Das BAMF muss der Rea­li­tät ins Auge sehen und die Will­kür tür­ki­scher Straf­ver­fah­ren mit poli­ti­schem Bezug, die durch das Gut­ach­ten ein­mal mehr belegt wur­de, aner­ken­nen. Hier­aus folgt zwin­gend die Anpas­sung der Län­der­leit­sät­ze für die Tür­kei, die Berück­sich­ti­gung der Erkennt­nis­se in Schu­lun­gen und eine ent­spre­chen­de Ver­än­de­rung der Ent­schei­dungs­pra­xis. Auch die Ver­wal­tungs­ge­rich­te soll­ten den Bericht zum Anlass neh­men, ihre Recht­spre­chung zu prü­fen. Ver­folg­te der tür­ki­schen Straf­jus­tiz brau­chen Schutz!

PRO ASYL dankt der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­hil­fe für die inhalt­li­che Beglei­tung und finan­zi­el­le Unter­stüt­zung des Berichts sowie der deut­schen Sek­ti­on von Amnes­ty Inter­na­tio­nal für die finan­zi­el­le Unterstützung.