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Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht
Die Situation von Asylsuchenden ist in Ungarn seit langem menschenunwürdig. Jetzt plant Ungarns Regierung, das Asylrecht nochmals zu verschärfen. Werden die geplanten Reformen umgesetzt, kann von Flüchtlingsschutz im EU-Mitgliedsstaat Ungarn nicht mal mehr formal die Rede sein.
Wackelige Handyvideos zeigen auf dem nackten Boden liegende entkräftete Menschen, Polizisten, die brutal an fast leblosen Körpern zerren, offene Zelte mit ein paar Schlafsäcken, davor apathisch vor sich hin starrende Flüchtlinge, ein offenbar verletztes, verängstigtes Kind – Bilder, mit denen ein syrischer Flüchtling Ende Juni die Situation an der ungarisch serbischen Grenze dokumentierte.
Nach tage- oder wochenlangen Fußmärschen stranden hier vor allem syrische Flüchtlinge. Die meisten von ihnen fliehen über die Türkei nach Griechenland. Da Flüchtlinge in Griechenland in der Regel im Elend landen, versuchen die Betroffenen weiter Richtung Zentraleuropa zu fliehen. Doch bereits innerhalb Griechenlands sind sie gezwungen, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen: Denn wer in Griechenland Flüchtlinge befördert – seien es Busunternehmen, Taxis oder hilfsbereite Privatleute – muss mit Strafen rechnen.
Ungarn inhaftiert Kinder in Käfigen
Wie gefährlich die von den Flüchtlingen oft größten Teils zu Fuß zurückgelegte Fluchtroute von Thessaloniki aus über Mazedonien und Serbien nach Ungarn ist, belegt auch ein hier zusammengefasster aktueller Bericht von Amnesty International, dem zufolge Schutzsuchende in Mazedonien und Serbien von staatlichen Behörden und kriminellen Banden misshandelt und erpresst werden.
Wer es schließlich schafft, die EU-Grenze zu Ungarn zu überqueren, hat auch hier keine Aussicht auf menschenwürdige Aufnahme. Die ungarische Wohltätigkeitsorganisation „Age of Hope“ hat jüngst mehrere Bilder veröffentlicht, die bei Szeged in Käfigen inhaftierte Familien mit Kindern zeigen, die dankbar sind, von der ungarischen NGO immerhin etwas Nahrungsmittel zu erhalten. Auch in Deutschland angekommene Schutzsuchende berichten von erniedrigender Inhaftierung in Käfigen. Auch die Haftbedingungen in den Flüchtlingsgefängnissen wie etwa in Debrecen, wo auch Familien inhaftiert werden, sind menschenunwürdig.
Gesetzesänderung hebelt Flüchtlingsschutz aus
Auf die zuletzt deutlich gestiegenen Asylantragszahlen reagiert Ungarns rechte Regierung, die derzeit mit einer groß angelegten Kampagne gegen Migranten hetzt, mit dem Bau eines vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze und mit einer Gesetzesänderung, die Grundsätzen des internationalen Flüchtlingsrechts widerspricht. So sollen Asylanträge von Flüchtlingen in Schnellverfahren bearbeitet werden, die über angeblich „sichere“ Transitländer nach Ungarn eingereist sind. Dazu rechnet Ungarn vor allem Serbien – einen Staat, der nur über ein rudimentäres, für Schutzsuchende kaum zugängliches Schutzsystem verfügt, und der, wie unter anderem der aktuelle Amnesty-Bericht zeigt, für Flüchtlinge alles andere als sicher ist.
Die Folge wären Abschiebungen z.b. von schutzbedürftigen syrischen und afghanischen Flüchtlingen nach Serbien. Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission führte. Es ist zu befürchten, dass Ungarn diese Praxis jetzt wieder aufnimmt. Abschiebungen nach Serbien sind ein eklatanter Verstoß gegen das Herzstück des internationalen Flüchtlingsrechts – das Non-Refoulement-Gebot der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Scharfe Kritik von UNHCR und Europas Menschenrechtskommissar
Auf die Rechtsverschärfung hat UNHCR bereits im Vorfeld mit scharfer Kritik reagiert: Das Gesetz umfasse Schnellverfahren ohne die gebotene Sorgfalt, Rückschiebungen von Flüchtlingen in Staaten, die für sie nicht sicher sein könnten sowie die Möglichkeit verlängerter Haft für Asylsuchende einschließlich von Frauen, Kindern und besonders schutzbedürftigen Menschen.
Dies habe „verheerende Auswirkungen auf Tausende Menschen, die in Ungarn Schutz suchen“, so die UNHCR-Repräsentantin für Zentraleuropa, Montserrat Feixas Vihé. Schon vor der schließlich im Parlament verabschiedeten Gesetzesänderung sei das ungarische Asyl-System immer restriktiver geworden. „Wir befürchten, dass die Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, durch die Gesetzesänderungen keine Sicherheit in diesem Land finden werden“. Auch Europas Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks kritisierte Ungarns Gesetzesänderung scharf.
Deutschland plant mehr Abschiebungen nach Ungarn
Dessen ungeachtet steigt die Zahl der sogenannten Übernahmeersuchen von Deutschland nach Ungarn an. Im Gesamtjahr 2014 stellte Deutschland 3.913 Anfragen Übernahmeersuchen an Ungarn, um Abschiebungen auf der Grundlage der Dublin-Verordnung nach Ungarn einzuleiten. Im ersten Quartal 2015 stellte Deutschland bereits 2.952 Übernahmeersuche nach Ungarn.
Zwar liegt die Zahl der tatsächlich erfolgten Abschiebungen von Deutschland nach Ungarn weit unter der Zahl der die Abschiebung vorbereitenden Übernahmeersuchen: 2014 waren es 827 Personen, im ersten Quartal 2015 42 Personen, die tatsächlich von Deutschland nach Ungarn abgeschoben wurden. Doch jede einzelne der erfolgten Abschiebungen setzt einen Flüchtling einem sehr hohen Risiko aus, in Ungarn in Haft oder obdachlos auf der Straße zu landen, wo viele Betroffene Opfer rassistischer Angriffe werden.
Ungarn: Protest gegen Dublin III auf dem Rücken von Schutzsuchenden.
Wie viele EU-Randstaaten wehrt sich Ungarn gegen die Dublin-III-Verordnung, die vorsieht, dass Flüchtlinge in jenen EU-Staaten ihr Asylverfahren durchlaufen und Aufnahme finden müssen, in denen sie erstmals EU-Boden betraten – und die deshalb die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz strukturell auf die EU-Randstaaten abschiebt.
Als die EU-Kommission und einige EU-Staaten jüngst versuchten, unter den Mitgliedstaaten durchzusetzen, dass zumindest Italien und Griechenland – minimal – durch die „Relocation“ von 40.000 Schutzsuchenden aus den beiden Staaten in andere EU-Staaten entlastet werden sollen, machte Ungarn auf die dort gestiegenen Asylantragszahlen aufmerksam: „Alle schauen nur auf das Mittelmeer. Dabei kommen über die Balkanroute viel mehr Immigranten nach Europa“, so Ungarns Ministerpräsident Orban, der daraufhin unter der Parole „Das Boot ist voll“ den Zaunbau ankündigte sowie den Ausstieg aus dem Dublin-System.
Letzteres musste Orban auf Druck der EU und der anderen Mitgliedstaaten schon einen Tag später revidieren. Denn die haben großes Interesse daran, dass Schutzsuchende weiterhin in Ungarn verbleiben müssen oder wieder dorthin zurückgeschoben werden können – und sei der Umgang mit Schutzsuchenden dort noch so unmenschlich.
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