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Istanbul-Konvention umsetzen: Schutz vor Gewalt auch für geflüchtete Frauen und Mädchen
PRO ASYL, Flüchtlingsräte und die Universität Göttingen veröffentlichen einen Schattenbericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bezug auf geflüchtete Frauen und Mädchen in Deutschland.
Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, kurz »Istanbul Konvention« (IK), ist in Deutschland seit über zwei Jahren in Kraft. Mit der Ratifizierung hat sich die Bundesrepublik verbindlich dazu verpflichtet, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen, einen Beitrag zur Beseitigung ihrer Diskriminierung zu leisten sowie ihre Gleichstellung und ihre Rechte zu fördern. Die Istanbul Konvention gilt ausdrücklich für alle Frauen unabhängig von deren aufenthaltsrechtlichem Status und ist diskriminierungsfrei umzusetzen (Artikel 4 Abs. 3 IK).
Geflüchtete Frauen und Mädchen sind in besonderer Weise von Gewalt bedroht und betroffen. Dementsprechend gibt es in den Artikeln 59 bis 61 der IK spezifische Regelungen für den Bereich Asyl und Migration. PRO ASYL, die Flüchtlingsräte Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sowie das Institut für Kulturanthropologie der Universität Göttingen haben die Verpflichtungen aus der Istanbul Konvention im Hinblick auf ihre Umsetzung für geflüchtete Frauen und Mädchen ausführlich untersucht. Gestützt wird die Analyse durch die vielfältigen Praxiserfahrungen von 65 Frauenberatungsstellen, psychosozialen Beratungsstellen und Institutionen der Geflüchtetenarbeit aus allen 16 Bundesländern.
Die Istanbul-Konvention ist geltendes Recht
Die Istanbul-Konvention gilt in Deutschland wie ein Bundesgesetz und verlangt überdies eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts. Ein Expert*innen-Gremium des Europarats überwacht die Einhaltung der Konvention: »Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence« – GREVIO. Im September 2020 hat die Bundesregierung ihren ersten Bericht zur Umsetzung der Konvention an GREVIO geschickt und veröffentlicht. Die Zivilgesellschaft ist ausdrücklich aufgefordert, sich gegenüber GREVIO ebenfalls zur Situation zu äußern. In der kommenden Zeit werden die Expert*innen von GREVIO Deutschland besuchen.
Es wird sichtbar, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht an vielen Stellen in einem eklatanten Widerspruch zum Gewaltschutz steht. Es besteht umfangreicher Handlungsbedarf!
Der rund 56-seitige Schattenbericht von PRO ASYL, den Flüchtlingsräten Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sowie der Universität Göttingen (hier zur englischen Version) zeigt, dass Deutschland geflüchtete Frauen und Mädchen nicht ausreichend schützt und den Vorgaben der Istanbul-Konvention somit nicht gerecht wird. Es wird sichtbar, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht an vielen Stellen in einem eklatanten Widerspruch zum Gewaltschutz steht. Es besteht umfangreicher Handlungsbedarf.
Im Folgenden einige zentrale Erkenntnisse und Empfehlungen aus dem Bericht.
AnkER-Zentren und Sammellager verletzen die Verpflichtung zum Gewaltschutz
Asylsuchende müssen über einen langen Zeitraum in sogenannten AnkER-Zentren oder vergleichbaren Erstaufnahme-Einrichtungen wohnen – bis zu 18 Monate lang und länger. Der Schattenbericht zeigt, dass Gewalt in Sammelunterkünften vielerorts ein aktuelles Problem ist. Trotz einiger vorbildhafter Initiativen fehlt es an einer verbindlichen Implementierung von Gewaltschutzkonzepten. Dies ist vom politischen Willen der maßgeblichen Akteur*innen – Land, Kommune, Betreiber*innen von Einrichtungen – abhängig. Es gibt bislang keine wirksame Kontrolle und kein Monitoring von Gewaltschutz durch Bund und Länder.
Für Frauen und Mädchen erweisen sich große Sammelunterkünfte als Einrichtungen, in denen sie nicht nur erlittene Gewalt schlechter verarbeiten können, sondern unter Umständen auch zusätzlicher Gewalt ausgesetzt sind. Die Angst vor Übergriffen durch männliche Bewohner, Security-Personal oder sonstige Angestellte gehören zum Alltag – zum Beispiel, weil sie in vielen Unterkünften noch nicht einmal ihr Zimmer abschließen können. Fehlende Privatsphäre und die Abgelegenheit der Unterkünfte vergrößern diese Gefahr. Sammelunterkünfte sind strukturell konflikt- und gewaltfördernd. Zudem sind Frauen daran gehindert, selbstbestimmt – etwa durch einen Auszug – für die eigene Sicherheit zu sorgen.
Die Angst vor Übergriffen durch männliche Bewohner, Security-Personal oder sonstige Angestellte gehören zum Alltag – weil Frauen in vielen Unterkünften noch nicht einmal ihr Zimmer abschließen können.
Der Schattenbericht zeigt: Ungeachtet der teils sehr engagierten Bemühungen von Politik und Zivilgesellschaft für einen besseren Gewaltschutz in den Sammelunterkünften sind diese grundsätzlich nicht für Frauen geeignet, die von Gewalt betroffen sind. Die Zeit in der Erstaufnahme für Geflüchtete sollte deshalb gesetzlich auf maximal vier Wochen beschränkt werden. Solange Sammelunterkünfte für Geflüchtete existieren, sind vergleichbare, verbindliche und funktionierende Gewaltschutzstandards in allen Unterkünften erforderlich. Grundsätzlich muss die Möglichkeit, in Wohnungen zu leben, Vorrang haben vor der Unterbringung in Sammelunterkünften.
Besonders vulnerable Personen werden oft nicht erkannt und versorgt
Im Hinblick auf geflüchtete Frauen, die Gewalt erfahren haben oder davon bedroht sind, verpflichtet die Istanbul Konvention sowohl zu geschlechtersensiblen Aufnahmeverfahren und Hilfsdiensten als auch zu entsprechenden Asylverfahren (Art. 60 Abs.3 IK). Es soll gewährleistet sein, dass von Gewalt betroffene Frauen über ihre Möglichkeiten und Rechte aufgeklärt werden, geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe frei äußern und alle Rechte, die sie haben, nutzen können.
Doch das scheitert in der Praxis oftmals schon zu Beginn des Aufenthalts, weil die von Gewalt betroffenen Menschen in den AnkER-Zentren und Erstaufnahmeeinrichtungen als vulnerable Personen häufig gar nicht erkannt werden. Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammenhang auf die Bundesländer, die vulnerable Personen nach Art. 22 EU-AufnRL identifizieren und für die Berücksichtigung ihrer Belange sorgen sollen.
Der Schattenbericht zeigt: In der Praxis gibt es keine systematisierten, einheitlichen Erkennungsverfahren für Vulnerabilität. Die Handhabung in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist unterschiedlich, intransparent und im Ergebnis nicht zuverlässig – es ist von einer hohen Dunkelziffer unerkannter vulnerabler Personen auszugehen. Eine unmittelbare Folge ist, dass von Gewalt betroffene Frauen keine angemessene psychosoziale und medizinische Versorgung erhalten und kaum Unterstützung erfahren. Letztendlich droht auch, dass ihnen der nötige asylrechtliche Schutz versagt bleibt.
Als Empfehlung ist deshalb im Schattenbericht festgehalten: Notwendig ist die bundesweite Einführung eines transparenten und flächendeckenden Identifizierungsverfahrens vulnerabler Personen und die Gewährleistung der sich daraus ergebenden Rechte.
Geschlechtsspezifische Verfolgung bleibt oft unberücksichtigt
In der Istanbul-Konvention bekennen sich die Vertragsstaaten ausdrücklich zum Flüchtlingsschutz, wie er vor allem in der Genfer Flüchtlingskonvention verbürgt ist (Art. 61 Abs.2 IK).
Zur Durchführung des Asylverfahrens führt der Schattenbericht zahlreiche Probleme im Detail auf, etwa zum Einsatz der Sonderbeauftragten für die geschlechtsspezifische Verfolgung, zum Einsatz von Dolmetscher*innen, zu Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer Verfolgung und zu weiteren Verfahrensvorgaben des BAMF. Die staatliche Asylverfahrensberatung des BAMF (AVB), so eine weitere Erkenntnis, ist nicht geeignet, Frauen so zu unterstützen, dass es zu einer angemessenen Würdigung von Gewalterfahrungen im Asylverfahren kommt. Hinzu kommt, dass unabhängige Initiativen und Organisationen mancherorts keinen Zugang zu Unterkünften erhalten.
Auch die Ergebnisse der Asylverfahren sind fragwürdig. Schon ein Blick auf die Hauptherkunftsländer von geflüchteten Frauen – unter anderem Syrien, Somalia, Nigeria, Eritrea, Afghanistan – lässt vermuten, dass ein großer Teil der Frauen und Mädchen geschlechtsspezifische Gewalt erfahren hat. Gewalt gegen Frauen ist in bestimmten patriarchal geprägten Gesellschaften, aber auch in Kriegs- und Krisensituationen eine allgegenwärtige Gefahr. Es geht um Genitalbeschneidung (FGM/C), Zwangsverheiratung auch von minderjährigen Mädchen, häusliche Gewalt, drohende Ermordung, Entführung, straffrei bleibende Vergewaltigungen, Vergewaltigungen als Kriegswaffe und andere Formen der Gewalt.
Der Anteil der Fälle, in denen Frauen aufgrund geschlechtsspezifischer Gründe Flüchtlingsschutz erhalten, müsste hoch sein – ist er aber nicht. Aktuell verweist das Bundesamt in für Migration und Flüchtlinge (BAMF) darauf, dass im Jahr 2020 rund 1.800 Personen aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung als Flüchtlinge anerkannt worden seien. Dies entspreche 27,8 % der GFK-Anerkennungen – wobei GFK-Anerkennungen als Familienangehörige unberücksichtigt bleiben (Bundesamt in Zahlen 2020, S.44). Was viel klingt, ist bei genauerem Hinsehen eine vergleichsweise kleine Zahl: Insgesamt hat das Bundesamt 2020 über 109.000 Asylanträge inhaltlich geprüft – 1.800 Fälle von geschlechtsspezifischer Verfolgung entsprechen einem Anteil von 1,7%.
Gewalt an Frauen wird nach wie vor in den Asylverfahren nicht hinreichend thematisiert und nicht selten im Bereich »privater Lebensführung« verortet.
Tatsächlich erhalten seit einigen Jahren immer weniger Geflüchtete vom BAMF den vollen GFK-Flüchtlingsschutz. Auch von Gewalt betroffene Frauen erhalten teils – nur – subsidiären Schutz bzw. ein Abschiebungsverbot, was weniger Schutz und Perspektive bietet. Etliche Frauen dürften ganz durch die Raster einer nicht ausreichend sensibilisierten Asylstruktur fallen.
Die Ergebnisse des Schattenberichts zur Entscheidungspraxis: Gewalt an Frauen wird nach wie vor in den Asylverfahren nicht hinreichend thematisiert und nicht selten im Bereich »privater Lebensführung« verortet. Vor allem müssen Frauen ohne Wenn und Aber als »soziale Gruppe« im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gelten, damit sie im Fall von geschlechtsspezifischer Verfolgung zu ihrem Recht kommen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist hier gefordert, zu einer verbesserten Anerkennungspraxis zu kommen. In den Anhörungen müssten Frauen aktiv, trauma- und gendersensibel ermutigt werden, von Gewalterfahrungen zu berichten. Überdies sollte das BAMF Transparenz herstellen und eine aussagekräftige Statistik zur Berücksichtigung von geschlechtsspezifischer Gewalt im Asylverfahren einführen.
Gesundheitliche Versorgung – begrenzt und mit Mängeln
Frauen, die von Gewalt betroffen sind, haben gemäß Istanbul Konvention Anspruch auf umfassende Gesundheitsleistungen (Art. 20 IK). Der Schattenbericht macht deutlich: In der Praxis bleiben ihnen diese häufig verwehrt. Dies gilt besonders für den Aufenthalt in der Erstaufnahme und die Inanspruchnahme von psychosozialer Versorgung und Therapie. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), das die Leistungen bei Krankheit erheblich beschränkt. Geflüchtete Frauen sind damit konfrontiert, dass wichtige Gesundheitsleistungen nach den Buchstaben des AsylbLG in Frage gestellt werden und in der Praxis oft nur schwer oder gar nicht zu erhalten sind.
Der Schattenbericht beschreibt in diesem Zusammenhang umfangreiche Probleme, vor allem zur Möglichkeit von Facharztbehandlungen, er kritisiert die Praxis der Behandlungsscheine, die mangelhafte Kostenübernahme für Therapie und Sprachmittlung und anderes.
Darüber hinaus wird festgestellt, dass es in den psychosozialen Spezialdiensten an Kapazitäten und Mehrsprachigkeit fehlt. Die medizinischen Regeldienste sind teilweise nicht auf geflüchtete Frauen eingestellt. Auch Dolmetscher*innen gibt es im medizinischen Bereich – trotz einiger guter Initiativen – immer noch nicht in ausreichendem Maß.
Die Versorgungskapazitäten, insbesondere im psychosozialen Bereich, müssen ausgebaut werden. Auch die Qualität der Regelversorgung muss verbessert und mit staatlichen Mitteln gesichert werden. Geflüchtete Frauen sollten von Beginn ihres Aufenthalts an gesetzlich krankenversichert werden und damit Zugang zu allen Gesundheitsleistungen haben, die gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland zustehen.
In einem weiteren Kapitel geht der Schattenbericht auf die unzureichenden Beratungs- und Unterstützungsstrukturen für geflüchtete Frauen sowie weitere gesetzliche Hemmnisse bei der Inanspruchnahme von Hilfe (etwa Residenzpflicht und Wohnsitzauflage) ein.
Es wird deutlich, dass die migrationspolitische Abwehrpolitik der europäischen Staaten sich mit einem adäquaten und diskriminierungsfreien Schutz von geflüchteten Frauen vor (weiterer) Gewalt nicht vereinbaren lässt.
Über die deutsche Aufnahmesituation hinaus wird im Schattenbericht abschließend ein kurzer Blick auf das europäische Flüchtlingsaufnahmesystem und die Situation an der europäischen Außengrenze geworfen: Es wird deutlich, dass die migrationspolitische Abwehrpolitik der europäischen Staaten sich mit einem adäquaten und diskriminierungsfreien Schutz von geflüchteten Frauen vor (weiterer) Gewalt nicht vereinbaren lässt. In der Präambel bzw. Artikel 1 der IK wird das Bestreben der Unterzeichnerstaaten formuliert, »Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen« und »ein Europa frei von Gewalt gegen Frauen« zu schaffen. Dies erscheint nicht möglich ohne grundlegende Änderungen in der Europäischen Asylpolitik, für die Deutschland eine Mitverantwortung trägt.
(ak)