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Immer wieder wird in ganz Deutschland für die Einhaltung der Menschenrechte demonstriert. Auch die Innenminister der Länder müssen menschenrechtliche Standards sicherstellen. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons

Einen Tag vor Beginn der Innenministerkonferenz, findet der 30. Sammelabschiebeflug nach Kabul statt. Vor 3 Jahren, im Dezember 2016, hatte Deutschland mit der unsäglichen Praxis begonnen. Seither hat sich die katastrophale Lage in Afghanistan noch weiter verschlechtert. PRO ASYL fordert die Innenminister auf, Abschiebungen dorthin zu stoppen.

In einem aus­führ­li­chen Posi­ti­ons­pa­pier an die Innen­mi­nis­ter der Län­der hat PRO ASYL, drin­gen­de flücht­lings­po­li­ti­sche Anlie­gen zum Aus­druck gebracht – zur Situa­ti­on in Afgha­ni­stan, Syri­en und der Tür­kei. In Deutsch­land müs­sen die Län­der nun han­deln: Mit Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­men und Resett­le­ment. Dar­über hin­aus muss – vom Staat unab­hän­gi­ge – Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung gewähr­leis­tet werden.

Afghanistan: Keine Abschiebungen in das »unsicherste Land der Welt«!

Seit 2016 hat sich die sowie­so schon kata­stro­pha­le Lage in Afgha­ni­stan immer wei­ter ver­schlech­tert. Die Tali­ban haben aktu­ell mehr Ter­ri­to­ri­en unter ihrer Kon­trol­le als zu Beginn des Krie­ges vor 18 Jah­ren. Laut dem Glo­bal Peace Index ist Afgha­ni­stan das unsi­chers­te Land der Welt, 2018 gab es dort die meis­ten Kriegs­to­ten welt­weit. Die seit­he­ri­ge Ent­wick­lung, ins­be­son­de­re im Umfeld der fak­tisch geschei­ter­ten Wah­len und der eben­falls geschei­ter­ten Frie­dens­ver­hand­lun­gen, gibt Anlass zu noch grö­ße­rer Sorge.

Zu der kata­stro­pha­len Sicher­heits­la­ge – allei­ne im zuletzt erfass­ten Zeit­raum des SIG­AR-Berichts an den US-Senat vom 1. Juni bis zum 31. August 2019 wur­den über 7.100 »ene­my-initia­ted attacks« regis­triert – kommt die pre­kä­re sozia­le Situa­ti­on. Nach offi­zi­el­len afgha­ni­schen Anga­ben über­trifft das Armuts­ni­veau inzwi­schen jenes in den düs­te­ren Zei­ten der ers­ten Tali­ban-Herr­schafts­pe­ri­ode. Nach OCHA-Anga­ben hat sich die Zahl derer, die von huma­ni­tä­rer Hil­fe abhän­gig sind, bin­nen eines Jah­res ver­dop­pelt. Mil­lio­nen Men­schen haben kei­nen aus­rei­chen­den Zugang zu Nah­rung. Der Guar­di­an berich­te­te bereits im Früh­jahr 2019, dass es in Afgha­ni­stan in Fol­ge einer Dür­re die meis­ten Hun­gern­den welt­weit nach dem Jemen gibt. Ange­sichts der höchs­ten welt­wei­ten Arbeits­lo­sen­quo­te, ist auch die Annah­me des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge und man­cher Ver­wal­tungs­ge­rich­te, jun­ge Män­ner könn­ten sich in Afgha­ni­stan ein Aus­kom­men schaf­fen, mehr als spe­ku­la­tiv. Wie schwie­rig die Situa­ti­on von aus Deutsch­land Abge­scho­be­nen tat­säch­lich ist, zeigt eine Stu­die der Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin Frie­de­ri­ke Stahl­mann: Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan brin­gen die Betrof­fe­nen in Gefah­ren­si­tua­tio­nen bis hin zur Lebens­ge­fahr, in Obdach­lo­sig­keit oder pre­kä­re Ver­ste­cke und füh­ren zur Verelendung.

Vor dem Hin­ter­grund der ver­schärf­ten Sicher­heits­la­ge und der indi­vi­du­el­len Ver­fol­gungs­ge­fahr in Afgha­ni­stan erneu­ert PRO ASYL die For­de­rung nach einem Abschiebungsstopp!

Syrien und Türkei: Neue Fluchtbewegungen durch Kämpfe und Vertreibung

Der Abschie­bungs­stopp nach Syri­en wur­de durch die letz­te IMK im Juni 2019 bis Ende des Jah­res ver­län­gert. Ange­sichts der desas­trö­sen men­schen­recht­li­chen und mili­tä­ri­schen Lage in Syri­en ist eine Ver­län­ge­rung des Abschie­bungs­stopps uner­läss­lich. Mit Blick auf die fra­gi­le Situa­ti­on im Land ist eine Befris­tung und halb­jäh­ri­ge The­ma­ti­sie­rung unsach­ge­mäß. Eine stän­dig erneu­er­te Befris­tung von einem hal­ben Jahr erweckt den fal­schen Ein­druck, dass Abschie­bun­gen unmit­tel­bar bevor­ste­hen wür­den. Dies schürt nach unse­ren Erfah­run­gen mas­si­ve Ängs­te unter syri­schen Flüchtlingen.

Wie schnell sich die Lage im syri­schen Kon­flikt ändern kann, zeigt sich an dem völ­ker­rechts­wid­ri­gen Ein­marsch der Tür­kei im Nor­den des Lan­des. Die tür­ki­sche Offen­si­ve hat bereits 200.000 Men­schen in Nord­sy­ri­en in die Flucht getrie­ben, dar­un­ter 70.000 Kin­der. Das Inter­na­tio­nal Res­cue Com­mit­tee schätzt, dass in Nord­sy­ri­en durch eine Fort­füh­rung der Ope­ra­ti­on bis zu 400.000 Men­schen flie­hen müs­sen. Meh­re­re hun­dert­tau­send Men­schen sind zusätz­lich vor Kampf­hand­lun­gen in der Regi­on Idlib auf der Flucht. Prä­si­dent Erdoğan ver­folgt das Ziel, nach der Ver­trei­bung der Kurd*innen im Grenz­ge­biet syri­sche Flücht­lin­ge anzu­sie­deln. Ange­sichts der u.a. von Human Rights Watch und Amnes­ty Inter­na­tio­nal doku­men­tier­ten Pra­xis, dass Syrer*innen vor einer Abschie­bung nach Syri­en gezwun­gen wer­den, eine Erklä­rung der »frei­wil­li­gen« Rück­kehr zu unter­schrei­ben, müs­sen die­se Plä­ne als Zwangs­an­sied­lung ver­stan­den wer­den. Selbst der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes kommt zu dem Ergeb­nis, dass es kei­ne Regi­on gibt, in die Flücht­lin­ge ohne Risi­ko zurück­keh­ren kön­nen. PRO ASYL for­dert von der Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz eine unbe­fris­te­te Ver­län­ge­rung des Abschie­bungs­stopps für Syrien.

Initiative der Länder gefragt – Landesaufnahmeprogramme, Evakuierung aus Libyen, Resettlement

Begrü­ßens­wert ist, dass Ber­lin, Thü­rin­gen und Schles­wig-Hol­stein noch bis Ende die­ses bzw. nächs­ten Jah­res Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen von in ihren Bun­des­län­dern leben­den syri­schen, und in Ber­lin auch ira­ki­schen, Flücht­lin­gen eine siche­re und lega­le Ein­rei­se ermög­li­chen. Ange­sichts der sich ver­schlech­tern­den Lage von syri­schen Flücht­lin­gen in Anrai­ner­staa­ten for­dert PRO ASYL die Bun­des­län­der dazu auf, ihre bestehen­den Auf­nah­me­pro­gram­me zu ver­län­gern sowie groß­zü­gig anzu­wen­den und von den übri­gen Bun­des­län­dern, sol­che Auf­nah­me­pro­gram­me (wie­der) zu star­ten. Zudem ist es sinn­voll, wie schon in Ber­lin gesche­hen, den Blick nicht nur auf Syri­en zu redu­zie­ren und auch ande­re Her­kunfts­län­der für sol­che Pro­gram­me in den Blick zu nehmen.

Ange­sichts der huma­ni­tä­ren Kri­se im grie­chi­schen Auf­nah­me­sys­tem sind meh­re­re unver­züg­li­che Maß­nah­men gebo­ten. Neben der Ein­be­zie­hung Grie­chen­lands in den »vor­läu­fi­gen Soli­dar­me­cha­nis­mus« ist ein euro­päi­sches und bun­des­deut­sches Auf­nah­me­pro­gramm für die über 4.000 allein­flie­hen­den Min­der­jäh­ri­gen und ande­re vul­nerable Grup­pen drin­gend gebo­ten, weil sie unter den kata­stro­pha­len Auf­nah­me­be­din­gun­gen beson­ders lei­den und ihre Sicher­heit beson­ders gefähr­det ist.

Die Situa­ti­on von schutz­su­chen­den Men­schen in Liby­en ist dra­ma­tisch, sie sind dort schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen wie Fol­ter und Ver­ge­wal­ti­gung aus­ge­setzt. Trotz­dem ver­lau­fen die Eva­ku­ie­run­gen aus Liby­en schlep­pend. Bis­her wur­den ledig­lich um die 5000 Men­schen aus Liby­en in ein »Emer­gen­cy Tran­sit Cent­re« in den Niger oder nach Ita­li­en und Rumä­ni­en eva­ku­iert. Von den knapp 3000 Eva­ku­ier­ten im Niger war­ten immer noch über 1000 Per­so­nen auf ihre Umsied­lung in eines der Resett­le­ment-Auf­nah­me­län­der. Deutsch­land hat die Auf­nah­me von ledig­lich 600 eva­ku­ier­ten Flücht­lin­gen aus Liby­en zuge­si­chert. Erfolgt sind bis­her weni­ger als 300 Ein­rei­sen. Von den Bun­des­län­dern ist nun Han­deln gefor­dert: Auf­grund der schwe­ren Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen müs­sen sie sich für ein stär­ke­res Enga­ge­ment Deutsch­lands bezüg­lich der Auf­nah­me von Schutz­su­chen­den aus Liby­en einsetzen.

Unverzichtbar: Asylverfahrensberatung durch Wohlfahrtsverbände und andere zivilgesellschaftliche Organisationen 

Für die » unab­hän­gi­ge staat­li­che Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung« ist ein zwei­stu­fi­ges Ver­fah­ren vor­ge­se­hen: Im ers­ten Schritt infor­miert das BAMF in Grup­pen­ge­sprä­chen vor der Asyl­an­trag­stel­lung über das Asyl­ver­fah­ren und gleich­zei­tig bereits über Rück­kehr­mög­lich­kei­ten. In einem zwei­ten Schritt sol­len alle Asyl­su­chen­de die Mög­lich­keit eines Ein­zel­ge­sprächs zur indi­vi­du­el­len Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung haben – ent­we­der durch das BAMF oder durch einen Wohl­fahrts­ver­band. Wann die indi­vi­du­el­le Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung statt­fin­det ist nicht fest­ge­legt, eine Bera­tung vor der Anhö­rung wird also nicht gewähr­leis­tet. Inzwi­schen ist bekannt, dass auch eine Finan­zie­rung der Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung sei­tens der Wohl­fahrts­ver­bän­de im Bun­des­haus­halt nicht vor­ge­se­hen ist. Auf gesetz­li­chem und finan­zi­el­lem Wege wird die tat­säch­lich unab­hän­gi­ge, näm­lich staat­lich unab­hän­gi­ge, Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung ausgehebelt.

Laut eige­ner Aus­kunft erklärt das BAMF in sei­ner »Bera­tung« ledig­lich das Asyl­ver­fah­ren, beant­wor­tet Fra­gen und will beson­de­re Bedürf­nis­se erken­nen. Gera­de für die Erken­nung von beson­de­ren Bedar­fen, z. B. auf­grund der sexu­el­len Ori­en­tie­rung, braucht es ein Ver­trau­ens­ver­hält­nis, wel­ches vie­le Betrof­fe­ne auf­grund der feh­len­den Unab­hän­gig­keit nicht auf­bau­en wer­den. Eine tat­säch­li­che Bera­tung geht auch dar­über hin­aus, indem die recht­li­chen Kri­te­ri­en auf den Ein­zel­fall ange­wen­det wer­den und auf die Anhö­rung vor­be­rei­tet wird. Dar­über hin­aus wird vom BAMF kei­ne Rechts­be­ra­tung durch­ge­führt. Das bedeu­tet, dass im Fall eines ableh­nen­den Bescheids zum Bei­spiel kei­ne Aus­sa­gen getrof­fen wird, ob Rechts­mit­tel Aus­sicht auf Erfolg haben. Zudem ver­mit­teln Mit­ar­bei­ten­de des BAMF nicht kon­kret an Rechtsanwält*innen. Bei­des ist jedoch essen­ti­ell, damit geflüch­te­te Men­schen – die das deut­sche Rechts­sys­tem nicht ken­nen, der deut­schen Spra­che nicht mäch­tig sind und sich in einer psy­chi­schen Aus­nah­me­si­tua­ti­on befin­den – ihre Rech­te tat­säch­lich wahr­neh­men kön­nen. Nur so kön­nen fai­re Asyl­ver­fah­ren gewähr­leis­tet werden.

Mit­ar­bei­ten­de des BAMF sind per se nicht unab­hän­gig, denn sie arbei­ten für die über das Asyl­ver­fah­ren ent­schei­den­de Behör­de, die im Fal­le eines Gerichts­ver­fah­rens auch Kla­ge­geg­ne­rin ist. Um eine tat­säch­lich unab­hän­gi­ge Bera­tung zu bie­ten, muss die­se in insti­tu­tio­nel­ler, per­sön­li­cher und räum­li­cher Hin­sicht von der Behör­de getrennt sein, die Ent­schei­dun­gen über Asyl­an­trä­ge fällt, um selbst den Anschein von Abhän­gig­keit zu ver­mei­den. Vie­le der Betrof­fe­nen wer­den das Per­so­nal des BAMF nicht als unab­hän­gig wahr­neh­men und ihm ent­spre­chend weni­ger Ver­trau­en ent­ge­gen­brin­gen. Schließ­lich haben vie­le Asyl­su­chen­de in ihren Hei­mat­län­dern schlech­te Erfah­run­gen mit Behör­den gemacht, wur­den teils von ihnen verfolgt.

Es braucht also eine behör­den­un­ab­hän­gi­ge Asylverfahrensberatung!