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In Tunesien in die Wüste getrieben, auf Lampedusa eingepfercht
Während die EU versucht, sich durch weitere Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten ihrer Verantwortung zu entziehen, steigen die Ankunftszahlen von Geflüchteten in Italien. Viele haben in Tunesien massive Gewalt erfahren. Doch die zivile Seenotrettung lässt sich von Schikanen der italienischen Regierung nicht aufhalten. Eine Bestandaufnahme.
Auf der italienischen Insel Lampedusa kommen jeden Tag Hunderte Schutzsuchende mit Booten am Pier Favaloro an. In ganz Italien waren Ende Juli 2023 bereits über 84.000 Bootsflüchtlinge an Land gegangen, im gleichen Zeitraum 2022 rund 34.000. Die Menschen kommen aktuell überwiegend aus der Elfenbeinküste, Guinea, Ägypten, Bangladesch und Pakistan, sieben Prozent aller Ankommenden sind tunesische Staatsbürger*innen. Im Jahr 2022 waren noch 20 Prozent aller Menschen, die per Boot das zentrale Mittelmeer überquerten, tunesische Staatsbürger*innen.
Lampedusa: Hotspot-System statt menschenwürdige Aufnahme
Die aktuellen Fluchtbewegungen lassen die Ankunftszahlen im Aufnahmezentrum auf der Insel Lampedusa in die Höhe schnellen. Am Donnerstag, 20. Juli, zum Beispiel befanden sich nach Angaben der PRO ASYL-Partnerorganisation Maldusa etwa 4.000 Menschen in dem sogenannten »Hotspot«, der aber nur für knapp 400 Menschen ausgelegt ist. Die Erstaufnahmeeinrichtung auf Lampedusa hat einen gefängnisartigen Charakter.
Zeug*innen berichten, es gebe unter anderem zu wenig Wasser, Schatten und Wechselkleidung. Aufgrund der (bereits seit Jahren bestehenden) strukturellen Überbelegung der Erstaufnahmeeinrichtung haben viele Menschen keinen Platz zum Schlafen. Auch sei der Zugang zu grundlegenden rechtlichen Informationen für neu angekommene Menschen nicht gewährleistet, so Maldusa. Es bleibe »die Quintessenz eines Mechanismus, der darauf ausgelegt ist, zu kontrollieren und zu verwalten«. Im Frühjahr 2023 starben in dem Hotspot drei Menschen, womöglich auch wegen mangelnder Hygiene und Gesundheitsversorgung vor Ort.
Nachdem Schutzsuchende in der Vergangenheit zwischen einigen Wochen und einigen Monaten in dem Hotspot festgehalten worden waren, werden Geflüchtete nun in der Regel spätestens nach drei Tagen von italienischen Behörden mit der Fähre oder dem Flugzeug von Lampedusa nach Sizilien oder auf das italienische Festland gebracht.
Die EU-Kommission hat jüngst 14 Millionen Euro Soforthilfe für die Verbesserung der Lage von Geflüchteten auf Lampedusa und eine »rasche und sichere Überstellung« bereitgestellt. Das Geld soll an die Internationale Organisation für Migration (IOM) gehen, die eng mit den italienischen Behörden und der Agentur der Europäischen Union für Asylfragen (EUAA) zusammenarbeiten soll.
Hauptabfahrtsort Tunesien
Die Mehrheit der Schutzsuchenden, die auf Lampedusa ankommen, etwa 51.000 Menschen, legte in diesem Jahr in Tunesien ab. 188 Kilometer sind es von der tunesischen Hafenstadt Sfax über das Mittelmeer nach Lampedusa, die Überfahrt dauert in der Regel mindestens 24 Stunden – wenn alles gut läuft. Damit wurde Libyen als Hauptabfahrtsort abgelöst (2023: mehr als 29.400 Menschen). Das Tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) berichtet, dass tunesische Behörden zwischen Januar und Ende Juni zudem mehr als 30.000 Menschen auf dem Meer abgefangen haben. Bis zum 20. Juli 2023 hat die tunesische Küstenwache 901 Leichen vor ihrer Küste geborgen.
Obwohl der tunesischen Küstenwache schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, unterstützt die deutsche Bundesregierung die tunesische Küstenwache, unter anderem mit Schulungen, Booten und der Finanzierung von Trainingszentren.
Tunesien befindet sich in einer massiven wirtschaftlichen Krise, zugleich schreitet die autoritäre Wende unter Ministerpräsident Kaïs Saïed rasant voran. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren eine Aushöhlung der Menschenrechte, unter anderem durch willkürliche Festnahmen von Oppositionellen und Regierungskritiker*innen, Einschränkungen der freien Meinungsäußerung und die Schwächung der Unabhängigkeit der Justiz.
Überlebende berichten von massiver Gewalt in Tunesien
Seit Monaten eskaliert die Gewalt gegen Schwarze Menschen in Tunesien. Auf Lampedusa dokumentiert das Projekt Maldusa, eine Partnerorganisation von PRO ASYL, Berichte von Betroffenen. Die Überlebenden berichten, aus ihren Wohnungen vertrieben und Opfer von Hetzjagden und gewaltvollen Übergriffen durch tunesische Bürger*innen und Polizeikräfte geworden zu sein. Und sie erzählen von willkürlichen Inhaftierungen und Massen-Abschiebungen in die Wüste.
»Sie brachten uns bis zur Grenze zu Libyen, dort waren so viele Menschen: Frauen, von denen einige schwanger waren, Jugendliche und Männer. Es gelang mir, zu entkommen und zurück auf die Straße nach Sfax zu gelangen, zu Fuß.«
Eine von ihnen ist Rosette: Wie Hunderte weitere Menschen wurde sie von tunesischen Behörden in die Wüste verschleppt und dort ausgesetzt – gemeinsam mit ihrem nur wenige Monate alten Baby: »Sie brachten uns bis zur Grenze zu Libyen, dort waren so viele Menschen: Frauen, von denen einige schwanger waren, Jugendliche und Männer. Es gelang mir, zu entkommen und zurück auf die Straße nach Sfax zu gelangen, zu Fuß. Kein Bus oder anderes Transportmittel wollte uns mitnehmen, weil wir Schwarz sind. Zum Glück konnte ich eine Mitfahrgelegenheit nach Gabes bekommen und bin dann nach Sfax gelaufen«, berichtete sie gegenüber Maldusa.
Während Rosette und ihr Kind es nach Italien geschafft haben, hatten andere Schutzsuchende kein Glück: Am 19. Juli veröffentlichte ein libyscher Armeeoffizier das Bild der 30-jährigen Dosso Fati, die mit ihrer sechsjährigen Tochter Marie in der Wüste verdurstet ist. Videoberichte zeigen, dass noch immer zahlreiche Menschen ohne ausreichend Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung unter lebensgefährlichen Bedingungen in der Wüste an der tunesisch-libyschen Grenze ausharren. Unterdessen wurden weitere Tote gefunden.
EU-Tunesien Deal als Blaupause für weitere Abkommen
Trotz scharfer Kritik von Menschenrechtsorganisationen hat die EU-Kommission am 16. Juli mit Tunesien eine Absichtserklärung für eine »umfassende strategische Partnerschaft« zur Verhinderung von Flucht über das Mittelmeer unterzeichnet. Damit gibt die EU dem Autokraten Kaïs Saïed einen Freifahrtschein für die Brutalisierung seiner Migrationspolitik. Die Mitgliedsstaaten der EU müssen dem Deal noch zustimmen. Nach Einschätzung des European Council on Refugees and Exiles (ECRE) ist das unverbindliche »Memorandum of Understanding« typisch für Abkommen im Bereich Migration: Undemokratisch, gesetzeswidrig – und unwahrscheinlich, dass es funktioniert.
Nur eine Woche nach der Unterzeichnung lud Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia, zu einer internationalen Konferenz mit dem Titel »Rom-Prozess zur Bekämpfung der Ursachen irregulärer Migration« ein, an der unter anderem 13 Staats- und Regierungschefs aus dem Mittelmeerraum teilnahmen. Der EU-Tunesien Deal soll als Blaupause für ähnliche Abkommen mit zahlreichen weiteren Herkunfts- und Transitländern von Flüchtlingen und Migrant*innen dienen. Wie in Tunis ging es auch in Rom um Unterstützung bei der wirtschaftlichen Entwicklung für eine Gegenleistung: die Verhinderung von Flucht nach Europa.
»Mittelmeer-Pakt« zur Fluchtabwehr
Gekommen waren fast alle Mittelmeer-Anrainerstaaten sowie Vertreter der Golfstaaten. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel, der Chef des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), Filippo Grandi, sowie UN-Generalsekretär António Guterres waren vor Ort. Kurz vor der Konferenz erklärte die rechtsextreme Meloni, ihr Ziel sei, »die illegale Einwanderung ein für alle Mal zu unterbinden«. Ein Versprechen, das sie ihren Wähler*innen bereits im Wahlkampf gemacht hatte.
Die Rede ist von einer Art »Mittelmeer-Pakt« mit Ägypten, Libyen, Algerien und Marokko. Vorgesehen ist unter anderem die Einrichtung eines Fonds zur Förderung von Entwicklungsprojekten. Weitere konkrete Maßnahmen wurden nicht genannt. Voraussichtlich im Oktober soll der »Rom-Prozess« fortgeführt werden – vermutlich in Tunis. Laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) kann der neue europäische Asyl- und Migrationspakt noch in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden.
Transnationaler Widerstand gegen die EU-Abschottungspolitik
Zeitgleich zu der hochrangigen Konferenz tagte ein von Refugees in Libya und Mediterranea Saving Humans organisierter »Afrika Gegengipfel« in Rom. Unter dem Motto »Keine Deals auf unserer Haut« forderten Geflüchtete und Aktivist*innen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, die Finanzierung von afrikanischen Diktatoren einzustellen. »Wir können nicht über Entwicklungsabkommen sprechen, wenn diese Abkommen keine Freizügigkeit vorsehen. Das zentrale Thema der Abkommen zwischen Europa und Afrika sollte die Achtung der Menschenrechte sein, aber das ist nicht der Fall«, so David Yambio, Sprecher von Refugees in Libya.
»Das zentrale Thema der Abkommen zwischen Europa und Afrika sollte die Achtung der Menschenrechte sein, aber das ist nicht der Fall«
Der ägyptische Aktivist Noureldein Khalil betonte, dass die europäische Politik der Externalisierung von Grenzen in ganz Nordafrika gemeinsame Merkmale aufweise: »Ägypten und andere Länder erhalten klare Anweisungen, ihre Grenzen gewaltsam zu kontrollieren, was den Tod und das Verschwinden von Tausenden von Migrant*innen in der Wüste bedeutet. Die politischen und handelspolitischen Verträge zwischen der EU und den von Diktatoren regierten Ländern bringen den Menschen keinen Nutzen.«
Zivile Flotte gegen das Ertrinken-Lassen
Während die EU-Staaten bemüht sind, die europäischen Grenzen mithilfe von schmutzigen Deals immer weiter Richtung Globalen Süden zu verschieben und sich so ihrer Verantwortung zu entziehen, sind zwischen Januar und Ende Juli 2023 mehr als 1.900 Migrant*innen im Mittelmeer umgekommen oder werden vermisst – die Dunkelziffer ist sehr viel höher.
Die zivile Seenotrettung versucht, mit einer Flotte von mittlerweile 22 Schiffen und drei Flugzeugen tagtäglich, das Rettungs- und Verantwortungsvakuum im Mittelmeer zu füllen. Das Civil MRCC, eine Koordinierungs- und Dokumentationsplattform für Menschen in Seenot im zentralen Mittelmeer, gibt an, dass seit Beginn des Jahres 2023 6.134 Menschen von der zivilen Flotte aus 99 Booten in Seenot gerettet worden sind. Das transnationale Netzwerk Alarm Phone stand in der ersten Jahreshälfte allein im zentralen Mittelmeer mit 539 Booten in Kontakt.
Italien beschränkt Seenotrettungskapazitäten in Einsatzgebieten
Die Arbeit von Aktivist*innen und NGOs im Mittelmeer-Raum ist alles andere als leicht, denn der zivilen Seenotrettung werden viele Steine in den Weg gelegt: So schreibt das italienische Piantedosi Dekret von Dezember 2022 Rettungsschiffen vor, dass sie nach einem Rettungseinsatz direkt einen vorgegebenen Hafen ansteuern müssen, statt weitere Rettungen durchzuführen. Zudem dürfen Gerettete nicht auf ein anderes Schiff wechseln. Auf der Grundlage dieses Dekrets wurden in Italien bereits mehrere Schiffe festgesetzt. Fünf NGOs haben nun Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht, da sie das Dekret für EU-rechtswidrig halten.
Auch die seit Dezember 2022 gängige Praxis italienischer Behörden, weit entfernte Häfen für die Ausschiffung von Überlebenden zuzuweisen, etwa im Norden Italiens, ist eine Strategie, die Seenotrettung zu behindern, indem Rettungskräfte gebunden werden. Trotz dieser Versuche der Blockade von Seenotrettungsorganisationen kommen weiterhin Boote mit Schutzsuchenden in Italien an – autonom, mit Hilfe von Seenotrettungsorganisationen oder Schiffen der Küstenwache, der Finanzpolizei und der Carabinieri.
Kein solidarischer Verteilmechanismus
Einen festen solidarischen Verteilmechanismus innerhalb der EU für Menschen, die aus Seenot gerettet werden, gibt es derweil weiterhin nicht. Im Juni 2022 hatten 21 Staaten beschlossen, zwischen Sommer 2022 und Sommer 2023 im Rahmen eines »freiwilligen Solidaritätsmechanismus« insgesamt 12.000 Menschen von den Außengrenzen-Staaten aufzunehmen (8.000 aus Italien), um diese zu entlasten. Deutschland hatte zugesagt, 3.500 Menschen zu übernehmen, die anschließend das nationale Asylverfahren durchlaufen sollen.
Doch Deutschland hält seine Aufnahmezusagen nicht ein: Bis Ende März 2023 waren nach Angaben des Bundesinnenministeriums über den aktuellen Solidaritätsmechanismus lediglich 520 Menschen nach Deutschland gekommen, davon 427 aus Italien.
Menschenwürdige Unterbringung sicherstellen
Dass die Bedingungen, unter denen Menschen, die eine lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer hinter sich haben, auf Lampedusa ausharren müssen, unwürdig sind, ist auch gerichtlich festgestellt. Im März 2023 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Staat Italien zu Zahlungen an die Kläger, weil er im Jahr 2017 tunesische Geflüchtete auf der Insel Lampedusa unwürdig behandelt hatte. Die Bedingungen seien unzureichend gewesen und die Menschen quasi inhaftiert worden, ohne behördliche Anordnung oder zeitliche Begrenzung.
In einem anderen Fall hatte der EGMR im Jahr 2015 mit Blick auf die Situation auf Lampedusa im Jahr 2011 bereits klargestellt, dass mangelnde Vorbereitung und logistische Probleme die Behörden nicht von der Pflicht befreiten, die absolut geltende Menschenwürde zu wahren. Dies sollten alle Mitgliedsstaaten der EU beherzigen: Auf eine (vermeintliche) Überforderung zu verweisen, entbindet nicht von der Pflicht, Logistik und Organisation so zu verbessern, dass die Schutzsuchenden menschenwürdig untergebracht und behandelt werden und sie effektiven Rechtsschutz bekommen.
(hk)