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„Humanitäres Desaster in unmittelbarer Nähe“
Der Europarat untersucht seit Juni den tausendfachen Tod von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer und geht dabei Vorwürfen unterlassener Hilfeleistung nach. Jetzt äußerte sich die mit der Untersuchung betraute Abgeordnete Tineke Strik.
Seit Beginn dieses Jahres sind über 1900 Menschen beim Versuch ums Leben gekommen, die europäischen Küsten zu erreichen. In mehreren Fällen berichteten Überlebende von Bootskatastrophen, dass Schiffsbesatzungen vorüberfahrender Schiffe Schiffbrüchige nicht retteten und Hilferufe ignoriert wurden. Ende Juni verkündete die Parlamentarische Versammlung des Europarates, dass eine umfassende Untersuchung der Tragödien im Mittelmeer stattfinden solle, um eine mögliche Mitverantwortung von NATO-Einheiten oder nationalstaatlichen Küstenwachen zu prüfen.
Die niederländische Abgeordnete der Parlamentarischen Versammlung Tineke Strik, die vom Europarat beauftragt wurde, einen Bericht zu den Untersuchungen vorzulegen, sprach Ende August über einen Fall mutmaßlicher unterlassener Hilfeleistung: „Das schockierendste für den Europarat war die Tatsache, dass diese Menschen früh genug um Hilfe gerufen hatten. Sie hatten ein Notsignal an einen Priester in Italien gesendet, der es an die italienische Küstenwache weiter leitete. Diese wiederum gab an, die Meldung erhalten und an Malta und die NATO weiter gegeben zu haben. Und dann ist nichts geschehen.“
Der Fall wurde bekannt, nachdem ein Überlebender gegenüber dem Guardian berichtet hatte, dass große Schiffe das manövrierunfähige Flüchtlingsboot gekreuzt hätten, deren Besatzung ihnen aber nicht zu Hilfe gekommen sei. Dasselbe sei bei einem Helikopter der Fall gewesen, der über dem Boot Kreise gezogen habe.
Im kommenden Monat wollen Tineke Strik und ihre Kollegen mit den Überlebenden, dem italienischen Priester und den zuständigen Behörden sprechen. Die Delegation wird auch Logbücher von NATO-Schiffen und der italienischen und maltesischen Küstenwache anfordern.
„Es ist absolut skandalös. All dies geschieht in unmittelbarer Nähe zu unseren europäischen Grenzen. Wir sagen immer, dass die europäischen Außengrenzen unsere gemeinsame Verantwortung sind, dass wir ein Europa sind. Aber wenn Menschen unseren Schutz brauchen, lassen wir sie aufs Wasser hinausfahren und in ihren kleinen maroden Booten ertrinken. Ja, das ist etwas, wofür man sich schämen muss. Ein humanitäres Desaster findet in unserer unmittelbaren Nähe statt“, sagte Tineke Strik.
Die Abgeordnete betont, dass die Frage der Verantwortung politisch hoch brisant ist: „Es ist klar, dass kein einzelner Staat die Verantwortung für die Flüchtlinge aus Libyen oder anderen nordafrikanischen Ländern übernehmen will. Es ist politisch gesehen ein heißes Eisen; das Problem wird schnell an den nächsten Staat oder die nächste Behörde weitergereicht und alle tun so, als würden sie in die andere Richtung schauen.
Der Bericht über die Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer soll Ende des Jahres fertig werden.
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